Читать книгу Morde zwischen Rhein und Themse - Peter Splitt - Страница 8
Donnerstag, 7. März
ОглавлениеEs hatte aufgehört zu regnen. Ein paar zaghafte Sonnenstrahlen fanden den Weg durch die Wolken und spielten in den Vorhängen von Beverlys Zimmer. Sie brauchte einen Moment, um zu realisieren, wo sie sich befand. Augenblicklich drängte sich Millers Monolog vom Vorabend wieder in ihr Gedächtnis und trübte ihre ohnehin gedrückte Stimmung noch weiter. Hoffentlich hielt er heute seine verdammte Klappe, sonst konnte sie für nichts garantieren. Mit Befriedigung stellte sie fest, dass sich ihr Entsetzten und die Scham vom Abend allmählich in Wut verwandelten. Dieser Mistkerl, dieser elende Spanner! Sie duschte und zog sich an. Im Hotelrestaurant war schon ein Großteil der Tische besetzt, als sie hinunter kam. Miller war nicht da. Sie würde nicht auf ihn warten. Nimm es als besonderen Service des Hauses, nimm es als Service, dass du ohne ihn hier sitzen darfst. Es roch nach Rühreiern mit Speck, nach Tee und frischem Toast. Das Frühstück war erstaunlich gut, es hob ihre Laune. Während sie es sich schmecken ließ, schaute sie in die Straßenkarte. Als sie den letzten Schluck Tee nahm, kam Miller an ihren Tisch.
„Wir können los.“ Er sah übernächtigt aus und roch nach Alkohol.
„Willst du nicht frühstücken?“
„Das ist Zeitverschwendung, morgens krieg ich sowieso nichts runter.“ Er schob sich eine Pfefferminzpastille in den Mund, während er ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat.
„Wir müssen in Richtung Walsall aus der Stadt heraus und bei einer kleinen Kapelle rechts ab. Soll ich fahren?“
„Kommt nicht in Frage. Ich lass mir doch von einer Frau nicht meinen Wagen ruinieren.“ Er schob sich eine zweite Pastille in den Mund, man konnte ja nie wissen, und schlurfte hinaus. D
as Sonnenlicht glitzerte auf der schwarzen Nässe des Parkplatzes. Sie stiegen in Millers Wagen. Er grinste sie von der Seite an. Dabei schob er sich einen Zigarillo in den Mund, zündete ihn an und kurbelte das Seitenfenster herunter. Dann ließ er den Motor aufheulen, drehte das Radio laut, steuerte langsam auf die Straße und legte dort mit quietschenden Reifen einen Kavalierstart hin. Beverly seufzte gedehnt, unüberhörbar.
Sie waren etwa zwanzig Minuten gefahren, als vor ihnen die Kapelle auftauchte. Sie war von einigen Bäumen umgeben, und lag eingebettet in einer Kurve. Das Moos, das sie vom Sockel bis zu den zerschlagenen Fenstern bedeckte, gab ihr ein verwittertes Aussehen. Hank trat so abrupt auf die Bremse, dass Beverly den Druck des Sicherheitsgurtes auf ihrem Körper spürte, bog ab und trat wieder aufs Gas. Der Weg schlängelte sich stark. Er war von hohen Beerensträuchern gesäumt. Miller schien Mühe zu haben die engen Kurven richtig einzuschätzen. Manchmal riss er am Lenker und es schien, als könnte die nächste auch die letzte Kurve für sie sein.
Wenigstens hält er den Mund.
Die Zufahrt endete auf einem riesigen Vorplatz. Ein prächtiges herrschaftliches Gebäude reckte sich vor ihnen in den Himmel. Zwei mächtige Säulen stützten das von Marmorlöwen bewachte Portal. Hier also sollte ein Junge eine Tat begangen haben, die Parallelen zu ihrem Fall aufwies. Niemand in diesem Haus wusste, dass Scotland Yard ihnen heute einen Besuch abstatten würde.
„Die ehrwürdige Familie St. Williams. Alter englischer Adel“, spöttelte Miller, während er den Türklopfer betätigte.
Es dauerte eine Weile, bis geöffnet wurde. Eine rundliche ältere Dame in einem schlichten Hauskleid öffnete die Tür. Ihre prallen Wangen waren von kleinen roten Äderchen durchzogen, ihre blauen, freundlichen Augen blickten durch die Gläser einer kleinen, schlichten Brille. „Sie wünschen bitte?“
„Wir sind von Scotland Yard. Wir ermitteln in einem schwierigen Fall und möchten Sie um ihre Mithilfe bitten. Sie sind Victoria St. Williams?”
„Nein”, sie lächelte. „Ich bin Maria Clement, die Hausdame. Sie sind nicht angemeldet“, stellte sie fest.
„Nein, aber es ist dringend. Würden Sie uns bei Mrs. St. Williams ankündigen?“
„Ich werde es versuchen. Ich werde mein Möglichstes tun. Kommen Sie doch bitte so lange in die Halle.“
Die Eingangshalle war riesig. Alles war aus glänzendem, hellem Marmor, der Boden, die Wände, die riesige Treppe, über die Maria Clement jetzt nach oben verschwand. Beverly fiel auf, das es hier weder Teppiche, noch Blumen oder Bilder an den Wänden gab, der ganze Raum wirkte vollkommen entseelt.
„Dieses vornehme Getue ist ja nicht auszuhalten, wenn ich...“
Beverly ließ Miller nicht ausreden. „Wir sind zumindest schon im Flur. Ein bisschen Takt würde dir auch nicht schaden.“
„Ekelhaft, dieses Adelspack, einfach nur ekelhaft.“
„Tja, Hank, da musst du jetzt durch.“
„Kommen Sie, bitte“, die Hausdame winkte ihnen über die Balustrade zu, „Sie können sie kurz sprechen.“
Victoria St. Williams saß in einem riesigen Wohnzimmer, das von langen grünen Vorhängen verdunkelt war und eine beklemmende Atmosphäre ausstrahlte. Auf dem tadellos gepflegten Parkettboden lag ein kunstvoll gearbeiteter Orientteppich, der sicherlich ein Vermögen gekostet hatte. Der Raum war ringsum von Wandlampen schwach beleuchtet. Der hohe Kamin schien schon eine Ewigkeit nicht benutzt worden zu sein. Die Stirnwand des Zimmers hing voller Portraits. Schriftzüge darunter verrieten, dass sie die Ahnen der Familie St. Williams zeigten. An der rechten Wand stand ein mächtiger alter Schrank aus dunklem Holz, gerahmt von unzähligen Geweihen, gegenüber ein riesiger schwarzer Flügel. In der hintersten Ecke des Raumes saß Victoria St. Williams kerzengerade in einem übergroßen Sessel. Sie schien auf Besucher keinerlei Wert zu legen und demonstrierte dies durch die Tatsache, dass es hier keine weiteren Sitzmöbel gab. Ein kleines Tischchen mit einer edlen Porzellankanne und einer Tasse standen vor ihr. Victoria St. Williams war ausgemergelt, ihre Wangenknochen stachen weit aus ihrem grauen, verhärmten Gesicht hervor. Sie trug ein strenges, dunkelgraues Kleid, das den Hals komplett bedeckte, und eine schlichte goldene Kette. Ihr weißes Haar war so straff zurückgekämmt und zu einem Knoten gebunden, dass Beverly allein vom Hinsehen schon Kopfschmerzen bekam. Durch die jahrelange Tortur lag der Haaransatz so weit zurück, dass es aussah, als habe Victoria St. Williams eine Stirnglatze. Sie musterte die Ankömmlinge geringschätzig, und ihre kalten bleichen Augen verkündeten offene Feindseligkeit.
„Ich gehe davon aus, dass Sie keinen Tee möchten“, stellte sie mit harter, emotionsloser Stimme fest. „Ich bin es nicht gewohnt, Leute von der Straße zu empfangen, die sich in desolatem Zustand befinden. Sie riechen nach Alkohol, junger Mann. Es ist eine Schande“, und sie wandte sich an Beverly, „dass Sie es wagen, mit locker gebundenen Haaren hier zu erscheinen. Ich ertrage diesen Verfall der Sitten nicht. Was wollen Sie hier?“
„Wir sind von Scotland Yard und müssen Ihnen einige Fragen stellen“, begann Beverly ruhig, aber schon jetzt mit dem unguten Gefühl, auf verlorenem Posten zu stehen.
„Ich habe Sie nicht hierher gebeten.“
„Wir arbeiten an einem schwierigen Fall. Wir brauchen ihre Hilfe, Mrs. St. Williams.“
„Ich habe mit solchen Dingen nichts zu schaffen. Mein ganzes Leben habe ich mich für die Wahrung von Zucht und Ordnung eingesetzt. Ich möchte nichts mit Ihnen zu tun haben. Bitte, gehen Sie jetzt.“
„Ich habe einige Fragen zu Ihrem Sohn.“ Beverly bemühte sich gelassen zu bleiben, ihre Stimme klang ruhig, die Antwort der alten Dame harsch.
„Wie können Sie es wagen! Ich habe keinen Sohn.“
„Mrs. St. Williams, wir wissen, dass Sie einen Sohn haben“, erwiderte sie eindringlich.
„Woher können Sie das wissen? Es ist ungeheuerlich. Sie ahnen nicht im Geringsten, wie es ist, Zucht und Ordnung aufrecht zu erhalten, das undankbare Personal zu führen, das sich auf Kosten der besseren Gesellschaft ernährt, und einem Kind Disziplin und Anstand beizubringen! Ja, all das habe ich geschafft, weil ich immer unnachgiebig und hart war. Auch zu mir selbst. Habe ich je Dankbarkeit für meine Aufopferung bekommen? Nein, aber alle leben sie von meiner Großzügigkeit.“
„Was ist mit Ihrem Sohn, Mrs. St. Williams? Es ist wichtig für uns“, versuchte Beverly einen weiteren Anlauf.
„Er ist mit siebzehn Jahren gestorben. Gehen Sie jetzt!“ Ihre Augen schienen aus den knochigen Höhlen hervorzutreten, eine dicke blaue Ader pulsierte an ihrer blassen Schläfe. „Gehen Sie, auf der Stelle.“
„Woran ist er denn gestorben“, säuselte Miller, „an Zucht und Ordnung?“
Hank! Das durfte jetzt nicht wahr sein. Beverly warf ihm einen wütenden Blick zu und sah an Victorias Gesicht, dass sie die Situation nicht mehr retten konnte. So ein dämlicher Schwachkopf.
Mrs. St. Williams Augen waren glasig geweitet, sie begann in einer Lautstärke zu kreischen, dass Beverly glaubte, ihr würde das Trommelfell platzen. „Wie können Sie es wagen, meine Bestrebungen so in den Schmutz zu ziehen. Gehen Sie, sofort. ...“ Sie stützte sich mit ihren hageren Händen auf der Sessellehne ab, ganz so, als wolle sie aufstehen, um die Fremden aus ihrem Haus zu jagen. Trotz ihrer dürren Gestalt wirkte sie bedrohlich. „Selbstzügelung hätte man Ihnen beibringen sollen. Sie werden für Ihr Benehmen zur Rechenschaft gezogen. ... Anstand, ich verlange Sitte und Anstand. Wagen Sie es nie wieder, hier zu erscheinen!“
Als sie die Tür hinter sich schlossen, schrie Victoria St. Williams noch immer in unverminderter Lautstärke. Die Worte Ordnung und Anstand verfolgten Beverly und Hank Miller bis in die Eingangshalle.
„Ganz fantastisch“, frotzelte Miller, „und was soll diese alte Hexe mit unserem Fall zu tun haben?“
Maria Clement begleitete sie zur Tür. „Sie ist oft sehr aufbrausend“, murmelte sie entschuldigend. „Haben Sie erfahren, was Sie wissen wollten?“
„Ehrlich gesagt, hat uns die alte Schachtel einen Hörschaden verpasst“, Miller hob seinen Zeigefinger und pulte demonstrativ in seinem Ohr.
„Nein“, antwortete Beverly bedauernd, „wir sind leider nicht weitergekommen. Aber wenn ihr Sohn verstorben ist, löst sich unsere Spur ohnehin in Nichts auf.“
„Ja, sie erzählt jedem, dass er tot ist, aber das stimmt nicht. Er ist mit siebzehn von zu Hause weggelaufen. Ich will Ihnen gern helfen, aber ich kann hier nicht darüber reden. ... Kann ich Sie heute Abend irgendwo treffen?“
„Maria“, kreischte die Stimme von der Balustrade herab. „Kommen Sie auf der Stelle hierher und setzen Sie endlich diesen Abschaum auf die Straße!“
Miller raste die kurvige Straße zurück auf die Kapelle zu, während Beverly sich Victoria St. Williams gemeinsam mit ihm auf einer einsamen Insel vorstellte.
„Die dicke Tratschtante will sich doch auch nur wichtig machen. Ich glaube nicht, dass da irgendwas herauskommt, außer dass wir noch eine Nacht in diesem Billighotel verbringen müssen. Die haben nicht mal einen wirklich guten Whisky. Alte Plörre, sag ich dir. Wir sollten zurück nach London fahren.“ Miller steckte sich einen Zigarillo an.
„Ich halte Maria Clement nicht für eine Tratsche. Hast du nicht gesehen, wie eingeschüchtert sie aussah, als die St. Williams dort oben stand? Ich werde auf jeden Fall heute Abend mit ihr sprechen.“
„Wir vergeuden unsere Zeit, Evans. Der Mörder läuft in London rum. Wir sollten besser dort ermitteln, als uns hier mit alten verrotteten Tanten und halbgaren Gerüchten zu befassen.“
Beverly, das ist jetzt der ideale Augenblick, um ihn loszuwerden. „Du kannst ja schon zurückfahren und in London auf Mörderjagd gehen.“ Ja, fahr bloß weg, du Idiot. „Ich mache die Sache mit Miss Clement allein. Ich könnte mit Sands und Henderson zurückfahren“, erwähnte sie wie beiläufig. „Sands würde mich sicher hier abholen. Bis Birmingham sind es doch nur ein paar Minuten.“
Miller hatte tatsächlich gepackt und war nach London aufgebrochen. Beverly hatte mit Sands telefoniert; es tat gut seine sanfte, ruhige Stimme zu hören. Sie würden morgen gemeinsam in den Yard zurückkehren, und sie konnte nicht leugnen, dass sie sich auf ihn freute. Es blieb ihr noch etwas Zeit bis zu ihrem Treffen mit Maria. Sie schlenderte durch die kleine Stadt, versuchte währenddessen an nichts mehr zu denken. Nicht an den Fall, nicht an Edward und Miller und auch nicht an Harold Sands. Dieser Spaziergang an der kühlen Luft gehörte ihr ganz allein.
Maria Clement betrat das Hotel wie eine Geheimagentin. Sie hatte ihren Mantelkragen hochgeschlagen und schaute sich um, bevor sie zu Beverly an den Tisch kam. Sie war sich offenbar bewusst, dass das, was sie jetzt tat, in Mrs. St. Williams Augen ungeheuerlich sein musste. Beverly bestellte zwei Kännchen Tee.
„Ich möchte nicht, dass Sie einen falschen Eindruck von mir bekommen. So etwas wie hier mache ich heute zum ersten Mal, und es geht mir nicht besonders gut dabei. Ich war immer loyal, aber wenn es um Mord geht...“, sie stockte, „deswegen sind Sie doch hier, Miss Evans? Wegen der Morde in London?“
Beverly lächelte. „Ja, das ist richtig. Wir haben einen anonymen Hinweis bekommen, dass es eine Verbindung zur Familie St. Williams geben könnte.“
„Das war sicher Dr. Bunting. Er ist schon seit dreißig Jahren der Hausarzt der Familie. Wir haben gestern telefoniert und haben über den neuen Fall gesprochen.“ Maria schluckte, mit ihren kurzen Fingern knetete sie den Tischtuchzipfel. „Als wir von dem ersten Mord in der Zeitung erfuhren, haben wir auch telefoniert. Jeder von uns hat gleich an Timothy gedacht. Das ist Mrs. St. Williams Sohn. Aber wir konnten uns nicht vorstellen, dass er damit etwas zu tun haben könnte.“ Sie schaute die junge Polizistin hilfesuchend an. „Nach so langer Zeit. Darum haben wir geschwiegen“, fügte sie hinzu.
„Warum haben Sie an Timothy gedacht? Was hat er getan?“ Maria atmete heftig ein und seufzte. Anscheinend wusste sie nicht, wie oder womit sie beginnen sollte.
„Trinken Sie erst einmal eine Tasse Tee, Miss Clement. Ich habe Zeit.“
Marias Hände zitterten, als sie die Tasse zum Mund führte. Der Verrat an ihrer Dienstherrin schien ihr Angst zu machen. All die Jahre hatte sie geschwiegen, nun ließ es sich nicht mehr vermeiden, die Loyalität zur Familie St. Williams zu brechen.
„Womit soll ich beginnen?“, fragte Miss Clement gedämpft.
„Erzählen Sie einfach alles, was Ihnen wichtig erscheint.“
Sie stellte die Tasse vorsichtig auf den Tisch zurück. „Timothy war wirklich ein wunderbares Kind, das sollten Sie wissen. Alles, was er getan hat, vielleicht auch diese Morde … er hat es getan, weil er eine grauenhafte Kindheit hatte. Als ich im Hause St. Williams meine Stelle als Zimmermädchen antrat, war ich sechzehn Jahre alt. Meine Eltern waren arm, deshalb war ich froh, ein Auskommen gefunden zu haben. Ich wohnte unterm Dach in einer kleinen Kammer und arbeitete wirklich hart. In diesem Jahr wurde Timothy geboren. Das war 1946. Zwei Jahre später starb Richard St. Williams bei einem Reitunfall. Seit dem Tage war alles anders. Timothy hatte keinen Vater mehr und Mrs. St. Williams keinen Mann. Sie ließ das Pferd töten. Sie trauerte nicht. Sie war schon vor diesem entsetzlichen Unfall eine Frau gewesen, die keinerlei Gefühlsregungen zeigte.“ Maria griff wieder zu ihrer Tasse. „Sie steigerte ihre Ideen von Selbstdisziplin, Ordnung, Sitte und Anstand ins Unermessliche. Es schien nichts anderes mehr in ihrem Leben zu geben. Genau das machte Timothys Kindheit zu einem Martyrium. Er besaß keine Spielsachen, er hat den Grund und Boden seiner Familie siebzehn Jahre lang nicht verlassen, und er hat niemals ein anderes Kind zu Gesicht bekommen. Stellen Sie sich das vor!“ Beverly stellte es sich vor, der Gedanke hinterließ einen dumpfen Schmerz.
„Er war noch nicht einmal vier Jahre, da zwang sie ihn zum Klavierunterricht. Der Musiklehrer kam täglich für zwei Stunden ins Haus, außer sonntags. Sonntags musste Timothy ihr vorspielen. Als er fünf wurde, engagierte sie zwei Hauslehrer, die ihn täglich sechs Stunden unterrichteten; Lesen, Schreiben, Rechnen, Fremdsprachen, na, eben alles.“ Maria begann wieder, den Zipfel des Tischtuches zu kneten. „Sie fragen sich sicher, warum das Personal nichts dazu gesagt hat.“
Beverly lächelte matt. „Sie hatten Angst, ihre Anstellung zu verlieren, nehme ich an.“
„Ich war ledig, ich hätte weder Wohnung noch Arbeit gehabt. Ich wäre auf der Straße gelandet. Das hätte dem Jungen nicht geholfen. Genauso ging es den anderen Bediensteten. Victoria St. Williams hatte alle und alles in der Hand.“ Miss Clements Blick wanderte auf ihre Hände hinab. „Manchmal haben wir ihm heimlich Kekse gegeben oder ihm über den Kopf gestreichelt.“ Maria schaute plötzlich auf, als sei ihr etwas Furchtbares ins Gedächtnis gekommen. „Sie hat das nie getan. Können Sie sich vorstellen, dass es eine Mutter gibt, die ihr Kind nicht in den Arm nimmt, nicht auf den Schoß, ihm nicht durch die Haare streicht? Sie hat ihn nicht angefasst, ich hab es jedenfalls nie gesehen.“ Sie schenkte sich Tee nach und gab Zucker hinein. Während sie rührte, schien sie völlig gedankenverloren.
„Was geschah dann mit dem Jungen?“
Maria räusperte sich. „Timothy wurde morgens immer vor sechs Uhr vom Kindermädchen, geweckt. Sie ondulierte ihm jeden Morgen die Haare, damit er hübsch aussah. Victoria St. Williams wollte einen Jungen mit goldenen Locken.“ Maria Clement sah sich um, bevor sie fortfuhr. „Danach wurde gefrühstückt, anschließend war Unterricht, dann folgten Mittagessen und wieder Unterricht. Dann gab es Tee, worauf die Klavierstunden folgten. Bei gutem Wetter durfte Timothy dann ein paar Minuten auf der Terrasse auf und ab gehen. Schließlich paukte seine Mutter ihm Benimmregeln ein, dann gab es Abendbrot, und er ging zu Bett. Tag für Tag, Monat für Monat …“
„ …und Jahr für Jahr“, ergänzte Beverly.
Maria standen Tränen in den Augen, als sie fortfuhr: „Timothy konnte sich nicht bewegen, ohne etwas falsch zu machen, dauernd schrie sie ihn an. Sie schrie, wenn er einen Fussel auf der Hose hatte, wenn seine Nase lief, wenn er sich am Klavier verspielte oder wenn er x-beinig vor ihr stand. Sie schrie, wenn er eine Minute zu spät oder eine Minute zu früh in den Salon kam. Sie schrie, wenn er zu viel oder zu wenig aß. Und der Maßstab dieses ganzen Wahnsinns war immer sie selbst. Sie schrie sogar, wenn er weinte, und sie schrie auch, wenn er krank war. Sie erwartete von ihm, dass er sich zusammenriss. Sie haben ja gehört, wie es ist, wenn sie wütend ist.“
Beverly spürte wie ihre Kehle enger wurde. „Ja, das habe ich“, sagte sie heiser. „Unfassbar, wie ein Kind solche Tiraden ertragen kann.“
Sie schwiegen. Beverly spürte, wie die Wut auf diese kaltherzige Person übermächtig in ihr aufstieg. Was sich vor Jahren in diesem Haus abgespielt hatte, war Kindesmisshandlung, es war seelische Grausamkeit in schlimmster Form.
„Als Timothy sieben Jahre alt war, kündigte der Klavierlehrer seine Arbeit. Er hatte genug von den Launen der Hausherrin, und ich denke, seine Existenz war auch ohne den Unterricht im Hause St. Williams gesichert. Der Junge bekam jetzt Unterricht bei Maggie Hunter. Von diesem Tag an liebte er das Klavierspielen, ich glaube, weil er Maggie liebte. Sie war eine fantastische, warmherzige Frau. Sie kümmerte sich rührend um das Kind. Sie ließ sich von Mrs. St. Williams nicht einschüchtern. Ich glaube, dass sie nur deshalb nicht entlassen wurde, weil Timothy unter ihrer Anleitung fantastische Fortschritte machte.“ Miss Clement rückte ihre Brille zurecht.
Beverly bestellte zwei weitere Kännchen Tee und wandte sich wieder der Hausdame zu.
„Es war natürlich auch für Maggie Hunter nicht leicht, trotzdem blieb sie fast zehn Jahre. Dann wurde Maggies Schwester schwer krank, und sie zog zu ihr nach Coventry, um sie zu pflegen. Es war eine Katastrophe für den Jungen. Es vergingen noch einige Wochen, dann geschah das Unglück.“
Maria strich den Zipfel, den sie zuvor zerknüllt hatte, ein wenig glatt. Unsicher wanderte ihr Blick zum Ober, der den Tee brachte, dann wieder zu der jungen rothaarigen Frau von Scotland Yard. Das Unvermeidliche wartete jetzt darauf, ausgesprochen zu werden.
„Ich habe es bisher nur einem Menschen erzählt, Dr. Bunting. ... Es war ein regnerischer Sonntag damals. Seit Maggie Hunters Abschied war Timothy in schlechter Verfassung. An diesem Tag sollte er pünktlich zum Vorspielen im Salon sein, aber er hatte in seinem Zimmer geweint. Als er vor sie trat, muss es Mrs. St. Williams gleich aufgefallen sein. Seine Augen waren noch gerötet und ein wenig geschwollen. Solche Schwachheiten brachten sie zur Weißglut. Es war nicht anders zu erwarten, wir wussten, dass keine zehn Sekunden vergehen würden, bevor es losging. Und so war es auch. ... Sie kreischte wie eine Furie, es erschien uns an diesem Tag besonders schlimm. Sie hörte nicht mehr auf. Sie schrie und schrie. Dann hörten wir plötzlich ein Poltern. Danach war es still. Es blieb auch still.“ Maria atmete schwer. „ ... Ich bin dann mit Gregory, er war damals Hausmeister, hinaufgegangen. Da haben wir es dann gesehen. Sie lag am Boden und mit ihr die Stickerei an der sie arbeitete. Timothy hatte sich über sie gebeugt. Ihr Gesicht war voller Blut, auch seine Hände. Als er uns sah, sprang er auf und lief an uns vorbei, heraus aus dem Salon. Es war das letzte Mal, das ich Timothy St. Williams gesehen habe.“
„Was hat er mit ihr gemacht?“ Beverly wusste schon jetzt, welche Antwort sie bekommen würde, doch sie wollte es von Maria selbst hören. Sie brauchte die Aussage einer Zeugin.
„Er hat ihr mit der Sticknadel den Mund zugenäht.“ Maria hielt sich den Mund zu, als könne sie das Ungeheuerliche, dass sie gerade ausgesprochen hatte dadurch rückgängig machen. Doch Beverly ließ sie nicht aufatmen, ... noch nicht.
„Wie hat er es getan Miss Clement?“
Sie zögerte einen Moment, seufzte schwer. „Er hat den Faden einmal durch die Lippen gezogen und versucht ihn zuzuknoten.“ „Versucht?“
„Das Stickbild hing daran. Der Faden war schon sehr kurz. Er konnte ihn nicht verknoten. ... Gregory hat den Faden herausgezogen, weil Mrs. St. Williams nicht wollte, dass wir Dr. Bunting verständigten. Da hat er es getan. Er hat ihn herausgezogen.“
Maria schwieg einen Moment, so als wolle sie sich sammeln. „Etwa zehn Tage später kam Dr. Bunting wegen einer Lungenentzündung zu Victoria St. Williams. Sie weigerte sich zu erzählen, woher sie die seltsamen Narben hatte. Sie erklärte ihm auch nicht, wo der Junge geblieben war.“ Maria wärmte ihre weichen, fleischigen Hände an der Teekanne. „Dann hab ich es ihm erzählt.“
„Sie wissen nicht, was aus Timothy geworden ist?“ „Ich hatte noch Briefkontakt zu Maggie Hunter. Etwa zwei Jahre nach Timothys Verschwinden schrieb sie mir, er lebe jetzt bei ihr, und es gehe ihm gut.“ Die beiden Frauen schwiegen wieder; jede für sich schien das Grauen ermessen zu wollen, das diese Geschichte barg. Victoria St. Williams hatte ihrem Sohn die Kindheit geraubt, sie hatte ihm verboten zu spielen, zu lachen, zu träumen. Sie hatte seine Seele zerbrüllt und dann, nach endlosen Jahren, hatte er sie zum Schweigen gebracht.