Читать книгу Morde zwischen Rhein und Themse - Peter Splitt - Страница 6

Dienstag, 5. März

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Der Londoner Abendhimmel war wolkenschwer. Ein schmaler dunkelblauer Streifen zog sich am entfernten Horizont entlang, zerrissen vom Wind. Er ließ erahnen, dass es auch ohne den verhangenen Himmel schon dämmerte. Die andauernden Regenschauer hatten eine schwere, kalte Feuchtigkeit in der Luft hinterlassen.

Im Londoner Bezirk Kingston, an der Grenze zum Richmond Park, wurde ein kleines Haus von unzähligen Fahrzeugen und Polizeiwagen belagert. An der Vorderfront waren Strahler positioniert. Im Schattenwurf des Hauses bewegten sich die Bäume des dahinterliegendes Parkrandes gespenstisch.

Als Sergeant Beverly Evans aus ihrem Wagen stieg hatte es gerade aufgehört zu regnen. Sie war definitiv zu spät dran. Sie hob das Absperrband, schlüpfte darunter durch. Der Tatort war weiträumig abgesperrt wie damals, vor zwanzig Monaten. Diesmal jedoch gab es keine Heerscharen von Schaulustigen, die sich an die Absperrung drängten. Das Haus lag einsam, und bei diesem Wetter ging niemand ohne zwingenden Grund auf die Straße. Nass, kalt, dunkel, einfach widerlich. Beverly bemerkte ihren Atem, der weiß in der Luft hing, während sie den alten Fall rekapitulierte.

Der erste Mord passierte im August. Beverly erinnerte sich an die quälende Hitze, daran, dass sie und ihre Kollegen die Wohnung nicht ohne Mundschutz hatten betreten können. Sie versuchte nicht an das zu denken, was die Anwältin Laurie Hardin in den letzten Minuten ihres Lebens empfunden haben mochte. Beverly hatte, genau wie ihre Kollegen, bis zum heutigen Abend geglaubt, dass es sich um einen bizarren Einzelfall handelte, dennoch das Werk eines Psychopaten. Der Anruf ihres Vorgesetzten hatte sie eines Besseren belehrt. „Verdammt, der Mord trägt die gleiche Handschrift, wie vor zwanzig Monaten“, hatte Superintendent Whitefield ins Telefo Telefon geraunzt, „ich wette, dass wir es mit dem selben Täter zu tun haben. Kommen Sie sofort, Evans, sofort! Ist das klar?“

Es war also nicht vorbei!

Die Fotografen der Spurensicherung kamen Beverly mit der schweren Ausrüstung entgegen. Sie hatten ihre Arbeit vor Ort erledigt. Sie grüßten erschöpft, als sie an ihr vorbeikamen.

Beverly war kein alter Hase bei Scotland Yard, dazu war sie mit ihren neunundzwanzig Jahren zu jung, doch sie hatte sich bereits einen Namen gemacht. Zugetraut hatte ihr das anfangs niemand. Sie war klein, schmal und wirkte zerbrechlich.

„Ich weiß, was Sie denken“, hatte sie vor fast vier Jahren ihre männlichen Kollegen mit fester Stimme begrüßt, „aber sie irren sich. Ich habe nicht vor, halbherzige Arbeit zu leisten; Wenn ich schieße treffe ich meistens. Ich erwarte nicht, dass mir irgendjemand die Tür aufhält. Ich habe auch nicht die Absicht, mir in irgendwelchen Betten irgendeinen Dienstgrad zu erschlafen. Ich bin Beverly Evans und ich freue mich auf meinen Job hier.“

Das hohe Gras war nass. Der Boden unter ihren Füßen schmatzte matschig. Nach wenigen Schritten spürte sie, wie die Feuchtigkeit kalt durch das Leder der Schuhe an ihre Füße drang. Allister Whitefield kam ihr entgegen. Seine helle Wildlederjacke wirkte fleckig im grellen Licht der Scheinwerfer. Seine grauen Haare waren nass, das runde Gesicht war gerötet. Sein Atem ging schnaufend, die wässrigen Augen flackerten nervös.

„Verdammt Evans, ich hab schon gedacht, Sie kommen gar nicht mehr.“ Er wischte sich über die Stirn, blickte sich kurz um. „Die Techniker sind mit den Fotos durch, die Spurensicherung war schon im Schlafzimmer. Einige sind noch oben. Sie sehen ja, ... der Rest der Mannschaft friert hier draußen. Alles Weitere zeig ich Ihnen. ... Stanton und Sands sind drüben.“ Er schlug seinen Kragen hoch. „Ich will, dass alle, die den Mord an Laurie Hardin untersucht haben, sich hier reinhängen. Wenn uns dieser Kerl wieder entkommt ... verdammt, das darf nicht passieren. .. darf es einfach nicht, verstanden?“

Alle! Es versetzte Beverly einen Stich. Alle außer Edward. Sie strich sich eine kupferrote Haarsträhne aus dem blassen Gesicht.

Er war im letzten Jahr an einem Herzinfarkt gestorben, völlig unerwartet, mitten auf der Straße, an einem kalten Tag im Februar. Frau, vier Kinder, Schulden, die aufreibende Arbeit und eine Geliebte, das war einfach zu viel für sein Herz. Sie hatte als Kollegin an seinem Grab gestanden. Sein Tod hatte das beendet, was sie nicht hatte beenden können. Edwards Frau hatte nie etwas geahnt. Beverly hasste diese Gedanken, die sie immer wieder an ihre unglückselige Affäre fesselten.

„Auch Miller?“, hakte sie nach. Bitte nicht Miller! „Ja. Er sitzt zwar noch mit Brown an einem anderen Fall“, brummte Whitefield, „aber Hays übernimmt ab Morgen für ihn.“

Sie gingen nebeneinander auf das Haus zu. Ein kleiner Backsteinbau, Efeu rankte um die Fenster, Blumentöpfe aus Ton standen auf der kleinen Treppe. Sie waren nicht bepflanzt, es war noch zu kalt für Frühlingsblumen.

„Lebte sie allein?“ fragte Beverly gedämpft.

Whitefield räusperte sich. „Ja, hat sie wohl. Ich denk auch, dass sie den Täter rein gelassen hat, keine Einbruchspuren.“

„Vielleicht hatte sie vergessen abzusperren“, überlegte Beverly, „wurde was gestohlen?“

„Wie’s aussieht nicht, wie beim letzten Mal. Es ist ein Haufen Geld im Haus. Es sieht nicht nach Diebstahl aus, überhaupt nicht.“

„Ja“, sinnierte Beverly, „es geht um etwas anderes.“

„Und es gibt ein Riesenproblem“, Withefield atmete hörbar ein, „die verdammte Presse war wieder vor uns da. Keine Ahnung, wie das passieren konnte. O’Brian wird im Rechteck springen.“

Beverly seufzte Die Presse hatte ihnen im Fall Laurie Hardin wochenlang zugesetzt. Der Druck war täglich gewachsen, denn die Gazetten hatten von Schlamperei und Unfähigkeit gesprochen, die Nerven der Ermittler hatten blank gelegen. Erst als die Akte Hardin als ungelöster Fall nach nicht einmal vier Monaten von der Staatsanwaltschaft geschlossen wurde, war wieder Ruhe eingekehrt.

Sheila Moreno stand auf dem Türschild. Beverly und der Superintendent zogen die weißen Kunststoffanzüge über, Plastikbezüge über ihre Schuhe und betraten den schmalen Flur. Es war warm. Der Duft von Bienenwachskerzen lag in der Luft. Der Boden aus Eichendielen knarrte leise. Sie schoben sich an den Leuten der Spurensicherung vorbei, die gerade damit beschäftigt waren, die Garderobe einzustäuben, und zogen die Handschuhe über.

„Sie liegt im Bett“, sagte Whitefield.

Beverly trat in das Schlafzimmer, der Superintendent folgte ihr. Sie begrüßte die beiden Männer, die an der Fensterbank lehnten. Sergeant Bill Stanton war Junggeselle, ein blasser, hagerer Mann, knapp über dreißig. Seine wilden blonden Locken standen ihm wirr um den Kopf, was ihn immer ein wenig jungenhaft wirken ließ. Whitefield schätzte Stantons Verstand und seinen versierten Umgang mit den neuesten Computerprogrammen. Inspektor Harold Sands war fast zehn Jahre älter und einen halben Kopf größer als Stanton, dunkelhaarig, mit graumelierten Schläfen. Niemand im Yard kombinierte so scharfsinnig wie er, niemand fuhr so lässig Auto, und niemand sonst sah so unverschämt gut aus. Selbst der weiße Kunststoff, in dem er jetzt steckte, tat seiner Ausstrahlung keinen Abbruch.

„Vermutlich haben wir es mit demselben Täter zu tun, der auch Laurie Hardin auf dem Gewissen hat“, löste Inspektor Sands die Stille, „die gleiche Vorgehensweise.“

Beverly trat an das Bett. Mit der Erinnerung an Laurie Hardin wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Der Körper der Toten lag gekrümmt, die Spuren des Todeskampfes waren ihr anzusehen. Die Hände waren mit einer Gardinenkordel zusammengebunden. Beverly sah in Sheila Morenos blass-bläuliches Gesicht. Da gab es nicht einen Hauch von Zweifel. Beverly beugte sich über die Tote. Sie waren deutlich zu erkennen. Trotz der geschwollenen Lippen und trotz des vielen Blutes. Sie waren deutlich zu sehen, die bläulich-dunklen Fäden, die in unregelmäßigen Abständen über den Lippen von Sheila Moreno zusammengezogen waren. Chirurgischer Faden.

„Wie lange ist sie schon tot?“, fragte Beverly matt.

„Dr. Morrow hält sich bedeckt“, antwortete Stanton.

„Wer hat sie gefunden?“

„Eine Bekannte. Sie wollte Bücher ausleihen.Die Tote war Heilpraktikerin“, erwähnte Sands knapp.

Sie gingen ins Wohnzimmer. Es war geschmackvoll eingerichtet. Antike Möbel, helle Vorhänge. Gruppen schlichter Kerzen und mit verschiedensten Kräutern gefüllte Flaschen standen auf den Fensterbänken. Auf dem Boden lag ein heller, dicker Teppich. An der hinteren Wand befand sich ein kleiner Kamin aus Sandstein. Die Flammen waren erloschen, doch die Glut erwärmte noch das Zimmer. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Klavier.

„Der Täter scheint ein Faible für Klaviermusik zu haben“, bemerkte Inspektor Sands. „Laurie Hardin besaß einen Flügel.“

„Könnte Zufall sein“, sagte Beverly mehr zu sich als zu ihrem Vorgesetzten, „muss es aber nicht.“

„Es gibt eine Reihe von Parallelen, die ziemlich offensichtlich sind“ warf Sands ein. „Das könnte bei der Erstellung eines Täterprofils hilfreich sein.“

„Das sehe ich auch so. Ist Victor Watermann wieder fit?“

„Nein, aber Whitefield bemüht sich um Ersatz. Er versucht, O’Brian davon zu überzeugen, dass wir jemanden brauchen, bis Victor wieder einsatzbereit ist.“

Ersatz? „Glaubst du im Ernst, Harold, dass O’Brian da mitspielt?“, bohrte Beverly. „Es wäre wünschenswert. Obwohl ich nicht weiß, wer Victor ersetzen könnte. Du weißt genauso gut wie ich, dass er ein Mann mit Gespür ist, wenn es um Täterprofile geht, die den üblichen Rahmen sprengen.“

Beverly seufzte. „Und du weißt genauso gut wie ich, das Chief Superintendent Will O’Brian keinen Hehl daraus macht, dass er von dem ganzen Psychogelaber, wie er es nennt, ohnehin nicht viel hält. O’Brian hat seinen Kurs, den lässt er sich von niemandem korrigieren.“

Sie betraten den Raum, der an das Wohnzimmer grenzte.

Beverly sog die Luft durch die Zähne. Drei Wände dieses Zimmers waren mit Regalen zugestellt, und diese bis zur letzten Lücke mit Büchern gefüllt.

Harold Sands fuhr mit seinen behandschuhten Fingerspitzen an den Buchrücken entlang. „Sie hat regelmäßig Bücher verliehen. Es gibt eine Kartei. Die Frau, die Sheila Moreno gefunden hat, war aus diesem Grund hier.“

„Was sagt die Spurensicherung?“, wollte Beverly wissen.

„Sie nehmen Spuren im gesamten Haus, die Fingerabdrücke an den Büchern werden gesondert katalogisiert. Sie befürchten, dass es Unmengen davon geben wird.“

„Was ist mit der Frau, die die Tote gefunden hat?“

„Sie heißt Helen Fuller, und sie wartet draußen im Polizeiwagen“, antwortete Sands. „Vorhin hat sie kein Wort herausgebracht. Vielleicht hat sie sich ja inzwischen soweit beruhigt, dass du sie befragen kannst.“

„Ich werde sehen, ob es was bringt.“

Beverly ging zur Haustür, beladen mit dem Gefühl, dass die nächsten Tage kein Spaziergang werden würden. Sie streifte die Schutzkleidung ab, folgte dem im Laufe des Abends im nassen Gras entstandenen Trampelpfad zur Straße und stieg in den Van. Dort saß eine zusammengekauerte Gestalt auf dem Rücksitz und hatte das Gesicht in die Hände vergraben. Ein Glas Wasser stand unberührt neben ihr auf einer Ablage. Beverly setzte sich zu ihr. „Ich bin Sergeant Evans. Ich werde Ihnen jetzt einige Fragen stellen. … es muss sein.“

Helen Fuller hob langsam das Gesicht. Ihre Augen waren gerötet, die Lider verquollen. Sie fuhr sich mit der rechten Handfläche über die Stirn, dann durch die dunkelblonden Locken die dem lose gebundenen Haarknoten entkommen waren. Beverly lächelte ihr aufmunternd zu.

„Ich kann es nicht“, begann Helen zu schluchzen, „ich kann nicht.“

Beverly wartete beinahe eine Viertelstunde, bis Helen Fuller sich wieder beruhigt hatte. Dann begann sie behutsam mit der Befragung der Frau, die sich eigentlich nur Bücher hatte ausleihen wollen.

Morde zwischen Rhein und Themse

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