Читать книгу Morde zwischen Rhein und Themse - Peter Splitt - Страница 15

Donnerstag, 14. März

Оглавление

Beverly war früh auf. Sie duschte, trocknete ihre Haare und zog schwarze Jeans und einen engen Rollkragenpulli an. Sie nahm die Parfümblättchen, die sie vor über einer Woche hatte besprühen lassen, und warf sie, bis auf eines, in die Mülltonne. Sie war sich ziemlich sicher, dass der Duft, der das Bad von Sheila Moreno erfüllt hatte, ’Imagine for men’ hieß. Mit einem großen Pinsel stäubte sie sich etwas losen Puder ins Gesicht und malte einen dezenten Kajalstrich an die Grenzen ihrer Augenlider.

Fleming war, während er sie gestern nach Hause gefahren hatte, äußerst wortkarg gewesen. Er hatte auch keine Anstalten gemacht, ein weiteres Mal mit ihr essen zu gehen, was Beverly nicht verwunderte, er hatte ja schließlich noch Dr. Morrows Vorführung zu verdauen. Sie wusch einen Apfel und würfelte ihn in ihren Joghurt. Während der Tee zog, räumte sie die Spülmaschine ein. Dann streifte sie durch ihre Zweizimmerwohnung, füllte die Waschmaschine und räumte die Zeitschriften von Couch und Teppich ins Regal. Prüfend blickte sie auf die Uhr. In einer Viertelstunde würde Fleming hier sein, um sie abzuholen. Sie aß ihren Joghurt und nippte an ihrem Tee.

Sie nahm gerade den letzten Schluck, als es klingelte. Er war zu früh. Er stand wie aus dem Ei gepellt vor ihrer Tür, das Haar wie immer leicht zerzaust, und auch sein sonstiger Zustand schien wieder im grünen Bereich zu liegen.

„Hallo.“

„Sie sind zu früh, Fleming. Kommen Sie rein, ich bin gleich so weit.“ Sie wandte sich ab, spürte, wie sein Blick ihr folgte. Er stand noch immer im Türrahmen. Beverly drehte sich zu ihm um. Er taxierte sie. Sie spürte die aufsteigende Nervosität. Sie nahm ihre Haare zusammen und drehte sie. Während sie den Schopf aus roten Wellen festhielt, ging sie ins Schlafzimmer, um eine Spange hineinzuklemmen. Daniel stand noch immer schweigend, fast so, als hätte ihn jemand aus einem Journal ausgeschnitten und an ihre Tür geheftet.

„Hat’s Ihnen heute die Sprache verschlagen, Fleming?“ Sie schlüpfte in ihre Schuhe und warf sich ihre Jacke über. „Wir können.“ Sie ging zur Tür, aber er gab den Durchgang nicht frei.

„Es hat mir in der Tat die Sprache verschlagen“, sagte er leise. Dann zog er ihr die Spange wieder aus dem Haar. Beverly spürte, wie ihr das Haar hinabfiel, sie wollte protestieren. Er zog sie an sich. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er legte ihr einen Finger auf die Lippen, streichelte sie sanft. Unwillkürlich schloss sie die Augen, und er küsste sie. Es war eine vorsichtige Berührung, forschend, fragend; sie erwiderte seinen Kuss. Sie presste sich an ihn. Seine Fingerspitzen wanderten ihren Nacken hinauf und verschwanden in ihrem Haar. Sie konnte seinen Herzschlag spüren, seine Berührung machte sie trunken. Das lange Alleinsein und die unerfüllte Leidenschaft schienen ihre Empfindsamkeit vervielfacht zu haben. Sie wusste, dass sie der Versuchung erliegen würde, wenn er es jetzt darauf anlegte.

Er legte es nicht darauf an. Er löste sich von ihr und musterte sie eine kurze Weile, während sie darum kämpfte, ihre Selbstbeherrschung wiederzufinden. Die Zufriedenheit, die in seinen Zügen lag, machte sie wütend. Er hatte ihr einfach so zwischen Tür und Angel bewiesen, dass er sie jederzeit rumkriegen konnte, die ach so abgeklärte Kripofrau, die über den Dingen stand.

Er schaute auf die Uhr. „Ich möchte nicht zu spät kommen“; ohne ein weiteres Wort ging er die Treppe hinunter. Beverly blieben sämtliche Kommentare im Hals stecken. Sie schlug die Tür hinter sich zu und folgte ihm mit puddingweichen Knien nach unten. Sie war so wütend über sich selbst, dass ihr schon eine Möglichkeit einfiel, sich selbst in den Hintern zu treten. Zu allem Überfluss hielt er ihr die Autotür auf.

„Das ist das letzte Mal, dass ich in diesen Wagen steige“, giftete sie ihn an, und er lächelte. Wie konnte das passieren? Evans, du hast dich nicht im Griff.

Während ihrer gemeinsamen Fahrt blickte sie demonstrativ aus dem Seitenfenster und schwieg. Sie spürte, dass er hin und wieder zu ihr herübersah. Der Weg zum Yard erschien ihr länger als sonst, er war schier unendlich. Sie versuchte ihre Wut in Gedanken zu fassen, versuchte sich darüber klar zu werden, was es war, das sie so traf.

Verdammt, Evans, du hast dich überhaupt nicht geändert. Du fällst noch immer auf diese Typen rein, auf ihre unwiderstehliche Masche.

Sie hielten an einer roten Ampel, sie spürte seinen Blick.

„Gehen Sie heute Abend mit mir essen?“

„Gehen Sie doch mit Henderson essen“, antwortete Beverly gereizt. „Sie würde sich sicher freuen.“

„Was soll denn das jetzt heißen? Sie haben mich ja schließlich am Dienstag versetzt.“

„Seien Sie doch nicht so empfindlich Fleming. Ich war dienstlich unterwegs.“

„Genau das ist Ihr Problem, Evans, Sie sind immer dienstlich unterwegs. Sie haben kein Privatleben. Sie haben Angst vorm Dienstschluss, weil danach nichts mehr kommt.“

Zack, Treffer. „Und ausgerechnet Sie können das beurteilen. Verschonen Sie mich mit ihrem Psychokram.“

Fleming steuerte den Roadster in die Parklücke, und Beverly stieg aus.

Auch das noch! Miller. „Na, heiße Nacht gehabt?“ Er zog den Mund in die Breite während seine Blicke an ihnen klebten.

„Halts Maul, Miller.“ Ohne sich noch einmal nach einem der beiden Männer umzusehen, ging sie erhobenen Hauptes zum Aufzug.

Die Luft in Whitefields Büro schimmerte bläulich vom Zigarilloqualm, den Miller unermüdlich in die Luft blies. Er saß breitbeinig auf seinem Stuhl, Ungeduld spiegelte sich in seinem Gesicht. Beverly konnte riechen, dass er wie immer getrunken hatte, ein Hauch von Pfefferminz mischte sich mit dem Gestank hochprozentigen Alkohols. Sie setzte sich, dann heftete Sands eine Karte an die Pinwand. „Die eingekreisten Gebiete werden von den Revieren vor Ort übernommen“, begann er. „Außerdem übernehmen sie in den grün markierten Regionen einen Teil der Arbeit. Ich habe die restlichen Adressen in diesen Bereichen auf vier Routen aufgeteilt, die wir selbst übernehmen werden. Bill wird Camden, Islington und Hackney abfahren; Miller, Sie übernehmen Greenwich, und Beverly, du hast Southwark und Lambeth auf deiner Liste. Henderson und ich werden uns um Croydon und Sutton kümmern.“ Sands sah in die Runde, nahm die Adressenlisten, an die jeweils ein Foto von St. Williams geklammert war, von Whitefields Schreibtisch und verteilte sie. Whitefield ließ seine Blicke über die Mitarbeiter schweifen, er schwieg einen Moment. „Gibt’s sonst noch was?“, warf er dann ein.

Sands drehte sich zu ihm um. „Helen Fuller hat letzte Woche eine recht vage Täterbeschreibung abgegeben“, warf er ein, „aber vielleicht würde sie St. Williams auf dem Foto wiedererkennen.“ Er blickte zu Beverly hinüber. „Würdest du das übernehmen?“

„Ja, ich kümmere mich darum.“ Whitefield nickte, sie wussten, dass die Besprechung damit beendet war.

Als sie auf den Korridor traten, herrschte Aufbruchstimmung. Während alle bereits den Yard verließen, ging Beverly ins Büro und rief Helen Fuller an. Es nahm niemand ab, sie schien nicht zu Hause zu sein. Also holte Beverly den Schlüssel für den Dienstwagen und brach auf. Es war diesig. Sie schaltete das Radio ein und stand gleich in einer langen Autoschlange. Sie warf einen Blick auf die Passanten, dann rollte sie ein paar Meter und wurde wieder ausgebremst. Der Verkehr schob sich allmählich vorwärts. Beverly verließ den inneren Stadtkern über die Lambeth Bridge und folgte der Lambeth Road bis zum großen Kreisverkehr, der völlig verstopft war. Zäh rollte der Verkehr Runde um Runde, Beverly steuerte den Wagen in die Borough Road. Sie bog in die Southwark Bridge Road ein und folgte ihr in nördlicher Richtung. Dann verließ sie die breite Straße, tauchte in das Gewirr von Seitenstraßen ab. Sie seufzte. Er hatte es doch tatsächlich geschafft, dieser aalglatte Psychologe. Er ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie ärgerte sich maßlos über sich selbst, über ihre Unbeherrschtheit, und das Schlimmste war, dass sie sich insgeheim wünschte, er würde es wieder tun. Dennoch, sie würde es ihm mit gleicher Münze heimzahlen, sie würde es tun, um ihren verletzten Stolz wieder ins Lot zu bringen. Dabei ging es nicht einmal um ihn. Es ging um alte Wunden.

Sands hatte die Unterlagen gründlich vorbereitet. Er hatte die Adressen entlang der günstigsten Fahrtroute der Reihe nach aufgelistet. Beverly bog in eine Seitenstraße, in der alte Häuser standen, und hielt bei Nummer vierunddreißig. Der graue mehrstöckige Putzbau sah alles andere als einladend aus. Er war von einer verkommenen Wiese umgeben, auf der Sperrmüll lag. Die Wände des Hauses hätten mehr als einen neuen Anstrich gebraucht. Beverly klingelte und zog ihren Ausweis aus der Jacke. Ein junger Mann öffnete die Tür. Sein breites Gesicht war von dichten schwarzen Locken umkränzt. Er mochte etwa Mitte dreißig sein. Er trug verwaschene Jeans und ein blaues Sweatshirt, auf dem LIBERTY stand. Zwei kleine Ringe waren durch sein linkes Ohrläppchen gebohrt, seine Augen verschwanden beinahe unter den buschigen Augenbrauen. Er sah aus wie ein Bodybuilder, füllte fast den ganzen Türrahmen und schaute auf Beverly hinab.

„Scotland Yard. Ich bin Sergeant Evans. Bin ich hier richtig bei der Street-Organisation?“

„Sind Sie, gibt’s Ärger?“

„Nein, keine Panik. ... Könnten Sie sich dieses Foto ansehen. Kennen Sie den Mann?“

Er warf einen neugierigen Blick auf das Bild und schüttelte den Kopf. „Nie gesehen.“

„Wie viele Leute betreuen Sie hier?“

„Die meisten pennen hier nur und machen sich morgens wieder vom Acker. Im Moment sind sechs Leute da. Soll ich denen das Foto zeigen?“

„Ja, auf jeden Fall.“ Sie ging mit ihm in den dunklen Flur und folgte ihm in eine riesige Küche, die anscheinend auch als Aufenthaltsraum diente. Der Geruch von Alkohol, Schweiß und kalter Asche schlug ihr entgegen. Ein älterer fast kahlköpfiger Mann saß mit einer Tasse vor sich am Tisch, er grinste ihr zahnlos entgegen. Neben ihm ein Mann, dessen Gesicht völlig vernarbt war, ein Auge fehlte. Durch das dünne Haar konnte sie seine verschorfte Kopfhaut sehen. Ein jüngerer Mann mit fettigem, langem Haar, bunten Tätowierungen auf den nackten Armen und einer beträchtlichen Sammlung von Ringen an seinen Fingern, die aussahen, als stammten sie allesamt aus einem Kaugummiautomaten, löffelte einen undefinierbaren Brei aus einer Schale. Er sah nicht einmal auf. Neben ihm ein Junge von vielleicht dreizehn Jahren, das Gesicht bleich, die Augen dunkel gerändert. Er zitterte am ganzen Körper und starrte Beverly mit seinen glasigen Augen an. Seine Lippen waren aufgesprungen und geschwollen. Er sah aus als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Mit Sicherheit ein Strichjunge. Vermutlich war er nur für kurze Zeit hier untergekrochen. Sobald er den Entzug spürte, würde er wieder auf der Straße stehen und auf einen Freier warten.

„Bleib ruhig, Phil“, der Bodybuilder klopfte ihm auf die Schulter, „sie ist nicht deinetwegen hier.“ Er reichte das Foto herum, doch einer nach dem anderen schüttelte den Kopf.

„Ist sonst noch jemand hier?“

„Ja, aber wenn Sie mich fragen, es lohnt nicht. Tom liegt total besoffen neben seiner Matratze. Der würde nicht einmal mitkriegen, wenn Sie ihn in die Themse schmeißen, und Cal reihert sich seit heute Nacht die Gedärme aus dem Hals. Glaub kaum, dass er ansprechbar ist.“

Beverly verzichtete darauf, die letzten zwei Männer zu befragen. Sie stieg wieder ins Auto, setzte einen Vermerk hinter die Adresse und fuhr weiter.


Die Vormittagsstunden verstrichen ergebnislos. Unzählige Adressen, noch mehr Kopfschütteln. Beverly hielt an einem Fischimbiss, kaufte sich ein Brötchen und setzte sich in den Wagen. Wie erging es wohl den anderen? Sie blickte auf ihre Liste, es war gewiss, dass sie das Pensum heute nicht schaffen würde. Um sieben wollten sie sich wieder im Yard treffen, sie hatte noch gut fünf Stunden. Sie trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und fuhr weiter. Immer die gleiche Frage. „Kennen Sie diesen Mann? Haben Sie ihn schon einmal irgendwo gesehen?“

Und immer wieder die gleichen Antworten.

„Nein.“

„Keine Ahnung.“

„Nein, nie. Was hat er denn angestellt?“

„Kenn ich nicht. Zeigen Sie noch mal. Nein, nie gesehen.“

„Keinen blassen Schimmer.“

„Ich verpfeife keine Leute. Aber den kenn ich sowieso nicht.“

„Glaub nicht. Nein.“

„Was wollen Sie denn von dem? Kenn ich nicht, den Typen.“

„Nein, interessiert mich auch nicht.“

„Den? Nä, echt nich.“

Allmählich zogen dunkle Wolken auf und begannen sich zu verdichten. Sie verschluckten das restliche Tageslicht. Die letzte Adresse, die sie heute aufsuchen würde, war der Keller eines riesigen Wohnblocks. Er lag in einer tristen Wohngegend. Die Straßen waren bis auf ein paar Kinder, die im Schein der Straßenlampen hinter einem dreckigen Lederball herliefen, menschenleer. Beverly parkte in einem Hinterhof, neben einem großen Garagenkomplex und ging durch eine dunkle Unterführung zur Stirnseite der Häuserblocks. Ein locker wirkender junger Mann öffnete ihr. Er stellte sich als Roger Clark vor und ließ sie herein. Er betreute zusammen mit zwei anderen einen Unterschlupf für Jugendliche und junge Erwachsene. Sie gingen die Stufen hinunter, die Bässe lauter Rockmusik hallten dumpf durch das Treppenhaus. In einem großen Kellerraum standen etliche zerschlissene Sessel um einen alten Billardtisch. Mindestens fünfzehn Leute hatten es sich hier bequem gemacht. Zwei blonde Männer, Beverly schätzte sie auf höchstens zwanzig, standen mit Queues in den Händen, und einer von ihnen visierte die Lage der Kugeln. In der hinteren Ecke saßen vier Jugendliche, sicherlich keiner älter als siebzehn, in zerschlissenen Jeans und rauchten. Als sie Beverly sahen, steckten sie die Köpfe zusammen, sie tuschelten. Zwei von ihnen trugen Baseballkappen, einer hatte sich ein Tuch um den Kopf gebunden, der vierte hatte kurz geschorene schwarze Haare. Sie begannen zu lachen, dann sah einer zu ihr herüber. Die Musik war so laut, dass Beverly kein Wort verstehen konnte. Clark nahm das Foto, er hielt es einem nach dem anderen unter die Nase. Beverly stand im Türrahmen, sie konnte sehen, wie sie den Kopf schüttelten. Clark diskutierte mit den Jungs aus der Ecke, aber auch die Vier schüttelten den Kopf. Dann erhoben sie sich gemeinsam, wie auf Kommando, und kamen auf sie zu. Einer nach dem anderen verließ den Keller und jeder von ihnen rempelte sie demonstrativ im Vorbeigehen an. Der dunkelhaarige sah ihr dabei in die Augen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Das Foto erreichte den Billardtisch. Die Männer warfen einen Blick auf das Bild, dann wandten sie sich wieder dem Spiel zu. Nichts. Roger Clark begleitete Beverly wieder hinauf. „Die Jungs hier sind nicht sehr kooperativ. Sie stehen der Polizei grundsätzlich feindselig gegenüber. Fast alle sind regelmäßig straffällig. Einige von ihnen waren bereits im Knast. Sie werden entlassen, wissen nicht, wohin, kriechen hier wieder unter und bauen den nächsten Mist. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte.“

„Ist schon in Ordnung, ... danke.“ Beverly verließ den Häuserblock und ging zurück zum Wagen. Sie war gerade in der Mitte der Unterführung, die sie wie ein enger Tunnel umschloss, als sich die Schattenrisse zweier Männer am Ausgang aufstellten. Sie verlangsamte ihre Schritte, blieb stehen und kniff die Augen zusammen. Sie erkannte die Jungs mit den Baseballmützen, sie hörte Schritte hinter sich. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter. Da standen die anderen beiden.

„Denkt nicht mal dran“, brachte sie laut und mit fester Stimme hervor. Nichts geschah. Sie warteten darauf, dass ihre Beute den ersten Schritt tat. Sie waren keine Kinder mehr. Jugendliche ihres Kalibers waren genauso brutal wie erwachsene Männer, das wusste Beverly. Das einzige, was diesen Kerlen Respekt eingeflößt hätte, wäre ihre Waffe gewesen, doch die lag im Wagen.

Sie rührte sich nicht. Sollten diese Jungs den ersten Schritt tun.

Es waren nur Augenblicke, Augenblicke, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen. Dann gab einer das Kommando. „Packt euch die Schlampe!“ Sie gingen von beiden Seiten auf sie zu, gleichzeitig setzte Beverly sich in Bewegung, ging den beiden, die vom Parkplatz her kamen, entgegen. Ihr Herz raste, und sie entschied sich für den größeren. Ich schwör dir, es wird weh tun. Er war jetzt nah genug. Im Bruchteil einer Sekunde sprang Beverly ihm entgegen und trat ihm so gezielt gegen die Schulter, dass es ihn rücklings von den Beinen holte. Mit einem dumpfen Aufschlag landete er auf dem Rücken. Sie sprintete los. Hinter sich hörte sie die Bande fluchen. Sie würden schneller sein. Während sie rannte, zog sie den Schlüssel aus der Jacke. Sie wusste, ihr Vorsprung würde nicht reichen. Sie würde es nicht schaffen, weil sie den Wagen aufschließen musste.

Der Puls schlug ihr bis in den Hals, als sie das Auto erreichte. Sie schaffte es nicht einmal mehr, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Sie wurde von hinten gepackt. Einer erstickte ihren Schrei mit seiner Hand. Sie begann zu treten, um sich wenigstens die anderen vom Hals zu halten, doch sie hatte keine Chance. Der Schwarzhaarige schleuderte sie zu Boden. Der Stoff ihrer Jacke riss dabei, sie schlug hart mit dem Kopf auf. Der Schmerz machte sie benommen, einen Moment lang wurde ihr schwarz vor Augen, aber dann versuchte sie aufzustehen. Einer drückte ihre Schultern zu Boden, und sie begann wieder zu treten. Sie hatten anscheinend keine Waffen. Sie würde sich wehren, bis es nicht mehr ging.

„Das Dreckstück braucht es auf die harte Tour“, sagte der Dunkelhaarige. Er schlug ihr ins Gesicht. Während die anderen ihr die Arme festhielten, schlug er immer wieder zu. Sie schmeckte Blut. Er hörte auf und riss an ihrem Pulli, bis der Stoff nachgab.

„Seid ihr bescheuert?“ Es war eine kalte, harte Stimme, die das sagte, und augenblicklich ließen sie von ihr ab. „Sie ist ein Bulle.“

Es war der blonde Mann, den sie vorhin am Billardtisch gesehen hatte und sie schienen höllischen Respekt vor ihm zu haben. Sie reagierten augenblicklich, schlichen an ihm vorbei und verschwanden im Dunkel der Unterführung. Er stellte sich vor Beverly hin, sah auf sie herab und beobachtete sie, während sie sich mühsam erhob. Sie taumelte, lehnte sich rücklings an den Wagen und wischte sich mit dem Ärmel das Blut vom Mund.

Nur die Tatsache, dass sie Polizistin war, hatte sie vor Schlimmerem bewahrt. Beverly sah die Erregung im Gesicht des Mannes. Sie war sich sicher, wäre sie jemand anders gewesen, hätte er dem Ganzen bis zum Ende zugesehen.

Er hob den Autoschlüssel auf und hielt ihn ihr vor die Nase. „Und jetzt sag fein danke, Puppe.“

Beverly schluckte. Sie würde sich nicht von ihm demütigen lassen. Sie schaute ihm in die kalten blauen Augen, und schwieg. Sie hielt seinen Blick aus, sie bemerkte wie seine Lider zu zucken begannen. Dann ließ er den Schlüssel fallen, der Bund landete vor ihren Füßen. Der Mann drehte sich um und ging. Sie wartete, bis seine Umrisse im Dunkel verschwunden waren, dann nahm sie den Schlüssel. Sie stieg in den Wagen, verriegelte ihn von innen. Mit zitternden Händen nahm sie das Funkgerät und hetzte den Jungen eine Meute Polizisten auf den Hals.

Als Beverly im Yard ankam, war die Besprechung in Whitefields Büro bereits beendet. Die Tür ging gerade auf, Miller kam ihr mit genervtem Blick entgegen. Der Ausdruck seines Gesichts änderte sich in dem Moment, als er sie sah und die Kinnlade fiel ihm herunter. Stanton war hinter Miller, er blieb mit ähnlichem Gesichtsausdruck stehen. „Meine Güte“, entfuhr es ihm, und Henderson rempelte ihn beinahe um, weil ihr entsetzter Blick nur auf Beverly ruhte. Millers Kinnlade kam wieder in Form. „In welchen Rattenstall bist du denn geraten?“, kläffte er.

Sands ging, ohne irgendetwas zu sagen, an ihnen vorbei auf sie zu. Er legte seine Hand auf ihre Schulter und bugsierte sie an den anderen vorbei in Whitefields Büro. Jetzt traten auch Miller, Henderson und Stanton einen geordneten Rückzug in den stickigen Raum an. Beverly schaute sie an. Sie konnte zwar verstehen, dass es die Kollegen interessierte, was geschehen war, aber es störte sie gewaltig, dass Miller in dieser Runde saß. So entschied sie sich, die Sache kurz zu halten, auf das Wichtigste zu beschränken. „Sie haben die Bande einkassiert“, begann sie ihre Ausführungen. Sie schilderte beinahe emotionslos den Tathergang und vermied es, ins Detail zu gehen. Sie erzählte, dass die uniformierten Kollegen die Jungen festgenommen hatten und sie auf eine sofortige Gegenüberstellung bestanden hatte. Sie war im Krankenhaus gewesen. Sie hatte Fotos ihrer Verletzungen schießen lassen, die als Beweismaterial für eine spätere Gerichtsverhandlung dienen würden. Die Kopfwunde wurde genäht. Beverly hatte die Klinik anschließend sofort wieder verlassen, weil sie Krankenhäuser hasste. „Das war’s dann“, schloss sie abrupt.

Alle schauten sie schweigend an. Sie sah das zornige Funkeln in Sands Augen. Hätte er auch nur einen dieser Kerle in die Finger gekriegt ... Beverly dachte lieber nicht weiter darüber nach. Sie war sich sicher, dass er genau wusste, was in ihr vorging, dass er es am Ausdruck ihres Körpers, an ihrer Mimik und Gestik erkannt hatte. Ihm war klar, dass sie in dieser Runde nicht mehr hatte sagen können und wollen. Sie hatte kein Wort über ihre Empfindungen verloren, über die Angst, die Demütigung und das Ausgeliefertsein, über den Gedanken daran, dass es anders hätte enden können. Beverly war sich bewusst, dass die inneren Wunden, die diese Straßengang ihr zugefügt hatte, wesentlich schwerer wogen als die Platzwunde am Hinterkopf, die aufgeschürfte Stelle an ihrer Schulter oder die Schwellungen in ihrem Gesicht.

Whitefield räusperte sich, holte sie aus ihren Gedanken.

„Sie machen das Wochenende frei, Evans.“

Frei? Das wollte sie auf keinen Fall. ... Zu Hause sitzen und grübeln? Darauf warten, dass die Angst in der Stille wuchs? Sich in die unsäglichen Gefühle dieser Gewalterfahrung hineinsteigern? Nein, es war besser, gleich dagegen anzugehen. Sie würde schon damit fertig werden. „Ich komme natürlich morgen zur Arbeit. Mir geht’s gut.“

„Willst du dir das wirklich zumuten?“, fragte Sands sie besorgt und sie nickte.

„Evans, das geht dann auf Ihre eigene Kappe“, brummte Whitefield. „Sie hätten im Krankenhaus bleiben sollen.“

„Du siehst nicht besonders fit aus“, konstatierte Henderson vorsichtig.

„Ich möchte jetzt nach Hause“, brachte Beverly heraus und erhob sich mühsam. Sands zog seinen Mantel über, sie verließ das Büro mit ihm. Bevor die Tür ins Schloss fiel, konnte sie noch hören, wie ein lautstarkes Gespräch entbrannte, es war klar, worüber sie sprachen.


Beverly war froh, dass Sands sie fuhr. Sie wusste, er würde keine Fragen stellen. Sie starrte auf die Fahrbahn, ihr war speiübel. Als der spärlich beleuchtete Wohnblock auftauchte, beschlich sie ein seltsames Gefühl. Der Gedanke daran, durch das menschenleere Treppenhaus und den zu dieser Zeit bereits ausgestorbenen Korridor zu gehen, hatte sie bislang nie gestört. Doch jetzt spürte sie, wie Beklemmung in ihr aufstieg. „Holst du mich morgen ab?“

Sands versuchte erst gar nicht, sie umzustimmen. „Ich bin um halb acht da.“ Er schaute sie kurz an und stieg aus dem Wagen. „Ich bring dich noch rauf.“

„Das brauchst du nicht, Harold, es ist schon in Ordnung.“

„Es ist nicht in Ordnung!“ Er begleitete sie in den dritten Stock, sie war erleichtert, dass er das tat. Sie schloss die Wohnungstür auf und dachte daran, dass Fleming sie heute morgen hier geküsst hatte. Bedeutungslos.

„Du kannst mich jederzeit anrufen, Beverly.“ Sie lächelte matt. Sie war dankbar für dieses Angebot, aber sie wusste schon jetzt, dass sie es nicht nutzen würde. Sie musste allein damit fertig werden. Sie schaute ihm kurz nach und schloss dann hastig die Wohnungstür. Sofort brach die Stille über sie herein, deshalb schaltete sie den Fernseher an. Sie ging ins Bad, warf einen Blick in den Spiegel. Die Schwellung um das rechte Auge hatte inzwischen einen intensiven bläulichen Schimmer, die Oberlippe war an der Seite dick und aufgesprungen. Beverly zog sich aus und warf ihre Sachen auf den Fußboden. Sie musste den Geruch dieser Kerle endlich loswerden. Sie drehte den Duschhahn auf. Warm … heiß. Das Wasser rieselte über ihre Haut; erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie gefroren hatte.


Sie duschte so lange, bis ihre Haut aufgeweicht war und ihre Finger runzelig aussahen. Sie hätte noch länger ausgeharrt, doch sie fühlte sich unendlich müde, ihr Kopf schmerzte. Sie zog einen Bademantel über, wickelte ihr Haar in ein Handtuch und legte sich mit einer Decke auf die Couch. Der Fernseher flimmerte, doch nichts von dem, was sich abspielte, kam bei ihr an. Sie war nicht weit davon entfernt einzuschlafen, als das Klingeln an ihrer Tür sie weckte. Sie schrak hoch, starrte benommen auf die Uhr. Es war schon nach elf. Sie nahm das Handtuch vom Kopf, wankte zur Tür und lauerte durch den Spion. Fleming! Sie öffnete die Tür. Durch den Spion hatte er entschlossen gewirkt, jetzt sah er eher bestürzt aus.

„Was wollen Sie denn hier?“, fragte sie ihn schlaftrunken.

„Whitefield hat mich gerade angerufen. Er hat mir erzählt, was passiert ist. Ich wollte nach Ihnen sehen.“ Die Besorgnis in seinen Augen war echt.

Der gute Whitefield hat mir also wohlmeinend den Psycho auf die Pelle geschickt. Na, prima! „Um diese Zeit?“

„Er hat mich nicht eher erreichen können.“

„Sie waren wohl wieder mit Henderson essen. ... Wissen Sie was, Fleming. Ich brauche keinen Psychologen.“

„Ich bin auch nicht als Psychologe hier.“

„Das ist ja noch schlimmer.“ Sie schob ihm die Tür vor der Nase zu. Er klingelte ein zweites Mal, aber sie machte nicht auf. Sie schaltete den Fernseher ab, trank einen Schluck Wasser und ging zu Bett. Sie ließ das Licht im Flur brennen, es warf einen matten Schein ins Zimmer. Unter der Decke zusammengekauert, starrte sie auf den Schatten der Zimmerpalme, bis sie einschlief.

Morde zwischen Rhein und Themse

Подняться наверх