Читать книгу Morde zwischen Rhein und Themse - Peter Splitt - Страница 14

Mittwoch, 13. März

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„Du kannst dich jetzt wochenlang über eine verpasste Chance ärgern, Beverly.“ Sie blickte zerknirscht und unausgeschlafen in den Spiegel. Der schwere Rotwein hatte ihr einen stechenden Kopfschmerz hinterlassen. „Du kannst dich auch stattdessen über dein reines Gewissen freuen. Ist doch auch was.“ Sie seufzte, und bei dem Gedanken an Sands durchlief sie der gleiche Schauer wie Stunden zuvor in der Hotelbar. Während sie sich vom warmen Strahl der Dusche berieseln ließ, versuchte sie sich einzureden, dass es so besser war. Ja, Evans. Was hätte das gebracht? Du weißt doch, wie es ist, mit einem verheirateten Mann zusammen zu sein. Du weißt doch, dass es nichts bringt, dass es weh tut. Das genau ist es doch, was du nie wieder wolltest! Auch wenn nichts weiter zwischen ihnen geschehen war, hatte sie die Situation doch völlig neben die Spur gebracht. Das Verlangen, Sands nahe zu sein, war wieder übermächtig, und Fleming war aus ihrem Kopf verschwunden. Es konnte nicht so weiter gehen. Sie musste es ein für allemal verstehen. Egal, welche Probleme Sands mit seiner Frau haben mochte, er hatte gestern bewiesen, dass ihm seine Ehe wichtiger war als eine Affäre mit ihr. Eines hatten sie beide getan: Sie hatten ihre Verbundenheit nicht durch eine flüchtige Liebesnacht aufs Spiel gesetzt.

Sands saß mit einer Zeitung im Foyer und wartete auf sie. Er sah wesentlich ausgeschlafener aus als sie selbst, er begrüßte sie mit einem Lächeln. Es war kurz vor halb acht, sie waren die Ersten im Restaurant. Sie sprachen nicht über den gestrigen Abend, niemand von ihnen wollte den kurzen Austausch von Nähe und Trost zerreden. Beverly war froh, ihm ohne ein Gefühl von Schuld gegenüberzusitzen, ihm ohne Scham in die Augen sehen zu können und ihm schien es genauso zu gehen. Beverly erinnerte sich an das Gefühl, das sie jedes Mal beschlichen hatte, wenn sie mit Edward zusammen gewesen war. Das Gefühl, einer ahnungslosen Ehefrau ihren Mann zu stehlen und dennoch immer allein zu sein. Für Edward war das alles nur ein erotisches Spiel gewesen, er hatte ihre Gefühle nie ernst genommen. Jedes heimliche Zusammensein mit ihm hatte abrupt geendet, weil er sich irgendwann daran erinnert hatte, dass es da noch eine Frau gab, die auf ihn wartete. Beverly hatte gegen die Leere gekämpft, sich einsam gefühlt, ausgenutzt und betrogen, Stunden danach noch aufgewühlt von seinen Berührungen und in keiner Weise befriedigt. Nein, nie wieder einen verheirateten Mann, nie wieder vergebliches Warten, schnellen Sex, nie wieder sinnloses Gerede über eine gemeinsame Zukunft, die es ohnehin nicht geben würde.

„Ich weiß jetzt, wer der Mann auf dem Foto ist“, holte sie Sands aus ihren Gedanken. Sie schaute ihn mit offenem Erstaunen an. „Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht, wo ich ihn schon einmal gesehen habe. In den Ermittlungsakten bei der Kripo in Birmingham gab es einen alten Zeitungsausschnitt mit einem Bild von Frank Harwood. Es wurde vermutlich nach seiner Verhaftung aufgenommen. Die Brille fehlte, die Haare waren ungekämmt, deshalb bin ich nicht gleich darauf gekommen. Das auf dem Bild ist die Familie Harwood.“

„Nicht zu fassen.“ Beverly versuchte klar zu denken, sie spürte, wie der Schmerz ihre Gedanken verwischte. Sie kniff die Augen zusammen.

„Dir scheint der Wein gestern nicht gut bekommen zu sein.“

„Der Wein und der fehlende Schlaf. Ich hab Kopfschmerzen, aber es geht schon.“ Sie goss sich Tee ein und ließ einen Löffel voll Zucker hineinrieseln. Während sie rührte, dachte sie fieberhaft nach. „Warum hat Timothy St. Williams ein Foto der Familie Harwood? Das könnte bedeuten, dass er sie gekannt hat. Es könnte aber auch bedeuten, dass er der Mörder von Carla Harwood ist.“ Sie stockte einen Moment bevor sie fortfuhr. „Ist es nicht eher unwahrscheinlich, dass ein Junge, der seiner Mutter den Mund zunähen wollte, ausgerechnet an eine Familie gerät, in der ein Mann seiner Frau das Gleiche antut? Du weißt, worauf ich hinaus will?“

Sands nickte. „Ich denke, das ist genau der Punkt. Es war nicht Dr. Harwood, der seine Frau umgebracht hat, es muss Timothy St. Williams gewesen sein.“

„Eines verstehe ich allerdings nicht.“, warf Beverly ein. „Wenn der Ehemann es nicht war, warum hat er sich erhängt? Die Ermittlungen waren noch im Gange, er hatte Freunde, die zu seinen Gunsten ausgesagt haben, er hätte freikommen können.“

„Dazu könnten wir jetzt allerhand Vermutungen anstellen. Tatsache ist, dass er die Tote in diesem schrecklichen Zustand gefunden hat und ihr nicht mehr helfen konnte. Er wird wegen Mordes an seiner Frau verhaftet, obwohl er unschuldig ist. Er weiß nicht, was mit seinem Sohn geschieht. Wahrscheinlich sind sie in den Verhören nicht gerade zimperlich mit ihm umgegangen. Er wird auch nichts über den Ermittlungsstand gewusst haben, vielleicht hat er deshalb geglaubt, die Lage sei ausweglos. Es gibt Situationen im Leben, da ist die Verzweiflung größer als alles andere.“

Sie schwiegen einen Moment, Beverly trank einen Schluck Tee. Dann nahm sie den Faden wieder auf. „St. Williams hat Carla Harwood getötet, da können wir ziemlich sicher sein. Aber hat er auch Laurie Hardin und Sheila Moreno auf dem Gewissen? Haben die siebzehn Jahre bei Maggie Hunter gereicht, um ihn zu läutern? Hat vielleicht Daniel Harwood die späteren Taten verübt, weil ihm das Bild seiner ermordeten Mutter nicht aus dem Kopf ging? Oder ist es wahrscheinlicher, dass St. Williams nach Maggies Tod weitermordete? Harold, wenn du jetzt auf der Stelle einen Tipp abgeben müsstest, wer wäre dann der Mörder von Hardin und Moreno?“

Er sah sie nachdenklich an. „Beide könnten es gewesen sein, aber mein Gefühl sagt mir, dass es Timothy St. Williams war.“

Das Wohnstift lag am Rande des Zentrums in der Nähe des Naul’s Mill Parks. Der Baustil deutete darauf hin, dass das feudale Gebäude mit den hohen Säulen um die Jahrhundertwende entstanden sein musste. Es war restauriert worden und war äußerst gepflegt. Einen solchen Altersruhesitz konnten sich wohl nur die oberen Zehntausend leisten. Beverly ging durch den symmetrisch angelegten Vorgarten und klingelte. Als es summte, schob sie die Tür auf, trat in die hohe, helle Vorhalle. Eine Frau, sie mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, kam auf sie zu. Sie trug ein perfekt geschnittenes dunkelgraues Kostüm, ihre Haare waren zu einem Knoten gebunden. Sie lächelte kühl, ihr schmallippiger Mund wirkte wie ein dünner Strich.

„Guten Tag, ich hatte vorhin angerufen. Ich bin Sergeant Evans.“

„Ja, guten Tag. Ich bin Sarah McIntyre. Ich leite dieses Wohnstift. Wie ich schon sagte, Miss Evans, ich glaube nicht, dass ein Gespräch mit Dr. Gordon ihnen weiterhelfen wird. Er ist fünfundachtzig. Er leidet an Demenz. Sie wissen ja sicher, was das bedeutet.“

Sie wusste es, und sie war froh darüber, sich nicht von Miss McIntyre belehren lassen zu müssen. „Ich möchte trotzdem nichts unversucht lassen.“

„Dann kommen Sie, wenn es unbedingt sein muss.“ Beverly folgte der Leiterin die Treppe hinauf durch einen Korridor. An den Wänden hingen Fotos von überdimensionalen Blüten.

„Ich habe ihn in den Aufenthaltsraum bringen lassen. Sein Zimmer ist schließlich Privatsphäre.“

„Natürlich, mir ist es nur wichtig, mit ihm zu sprechen.“

„Ja, ja.“

Sie bogen in einen Querflur ab und gingen auf eine Glastür zu. Miss McIntyre öffnete die Tür, Licht strömte ihnen entgegen. Die hintere Wand des Aufenthaltsraumes bestand aus großen Fenstern, durch die man auf eine riesige Rasenfläche sehen konnte. Grüne Polstersessel waren um kleine runde Tische gruppiert, in einem Regal standen Bücher und Schallplatten. Dr. Gordon saß in einem der Sessel, und McIntyre stellte sich demonstrativ neben ihn.

„Ich würde Dr. Gordon gern allein sprechen.“

„Muss das sein?“

„Sie brauchen keine Sorge zu haben, ich werde behutsam mit ihm umgehen.“ Herr Gott, als wollte ich ein Geständnis aus ihm herausprügeln.

Sarah McIntyre zuckte ein wenig mit der Nasenspitze; es war ihr anzusehen, dass sie der Aufforderung nur höchst ungern nachkam. Betont langsam schritt sie zur Tür und warf Beverly einen pikierten Blick zu.

Dr. Gordon war ein stämmiger, kleiner Mann mit einem rundlichen Bauch. Zu einer grauen Hose und einem hellen Hemd trug er eine dunkelblaue Strickjacke. Seine Füße steckten in Filzpantoffeln, an der rechten Hand trug er zwei große Siegelringe. Er war frisch rasiert, seine dünnen grauen Haare waren zurückgekämmt.

„Du bist doch Sarah“, krächzte er heiser. Deine Mutter hat doch in der gleichen Straße gewohnt wie mein Cousin. ... Der muss jetzt in den Krieg.“ Dr. Gordon hatte seine Hände auf die Lehnen gelegt.

Beverly hockte sich neben den Sessel und betrachtete die runzelige Haut des alten Mannes. „Ich bin Beverly Evans. Ich würde gern etwas über Maggie Hunter und Tim Wilson erfahren.“

Er schaute sie verständnisvoll an. „Ja, Tim Wilson ist auch nicht wiedergekommen aus dem Krieg. Er hat ja beide Beine verloren. Dann ist er jedenfalls gestorben. Die hatten ja so viele Ratten im Haus, und nichts zu essen. ... Ich muss gleich zu meinen Patienten. Das Wartezimmer ist voll.“ Er wollte sich erheben, doch Beverly hielt ihn mit leichtem Druck im Sessel fest.

„Tim Wilson kann nicht im Krieg gewesen sein. Er hat bei Maggie Hunter gewohnt. Ich muss mit Ihnen über Tim Wilson reden. Sie kannten ihn doch?“

„Tim Wilson. Ja, sicher, den kannte ich. Beide Beine weg. Ist er schon im Wartezimmer?“

„Dr. Gordon.“

„Ja, ich weiß, wir müssen vorsichtig sein … wegen der Bomben.“

Beverly seufzte. Es hatte keinen Sinn. Die Menschen, die er gekannt und die Zeiten, die er durchlebt hatte, all das war für Dr. Gordon jetzt in diesem Aufenthaltsraum in irreführender Weise präsent. Hier würde sie nie erfahren, ob der alte Mann Timothy St. Williams gekannt hatte.

Beverly erhob sich langsam. Sie hatte so etwas befürchtet, als sie am Telefon die Auskunft erhielt, dass Dr. Gordon unter fortgeschrittener Demenz litt. Sie hatte es wenigstens versucht. Sarah McIntyre geleitete sie in frostiger Stimmung zum Hauptausgang. Als Beverly draußen die frische kalte Luft spürte, atmete sie tief durch. Herr, lass mich lieber jung als im Zustand geistiger Umnachtung sterben.

Bis auf die beiden Mitarbeiter von Scotland Yard war das Foyer menschenleer. Beverly und Harold Sands hatten sich bei einer Tasse Tee niedergelassen um den Sachstand auszutauschen.

„Ich habe nichts herausgefunden“, begann Beverly. Dr. Gordon ist so durcheinander, dass er glaubt, wir befänden uns noch im Krieg. Wie war’s bei dir?“

„Ich habe inzwischen mit Whitefield telefoniert. Ich denke er ist erleichtert, dass er morgen mit neuen Details in die Pressekonferenz gehen kann. St. Williams ist tatsächlich unter dem Namen Tim Wilson in der Greenwood Street gemeldet gewesen. Er hat sich dort nie abgemeldet. Nachdem die Behörden festgestellt hatten, dass dort niemand mehr wohnt, wurde lediglich ein unbekannt verzogen vermerkt.“

„Und die Kripo?“, forschte Beverly.

„Fehlanzeige, er ist in keiner Kartei.“

Sie seufzte. „Das war’s dann wohl. Fahren wir zurück nach London?“ Sands nickte.

Im Yard herrschte reges Treiben. Die Leute von der Spurensicherung eilten an ihnen vorbei, Arthur Hays hetzte ihnen hinterher.

„Was ist los?“, fragte Beverly im Vorbeigehen, und Hays warf ihr eine kurze Antwort hinterher.

„Mord an zwei Prostituierten.“ Es waren also inzwischen schon fünf Tote in der Serie von Prostituiertenmorden. Beverly seufzte. Der Kreislauf aus Drogen und Prostitution machte Straßenhuren zu unkomplizierten Opfern. Sie standen zu sehr unter Druck, um wählerisch zu sein.

Beverly kannte die Szene nur zu gut. Sie erschauerte noch jetzt bei dem Gedanken an das vierzehnjährige Mädchen, das sie vor zwei Jahren aus der Themse gefischt hatten. Es gab nicht einmal eine Vermisstenmeldung. Sie war ein Kind, ein Junkie, der ausgemergelte Körper von Einstichen übersät, die Venen vernarbt, Spuren von Misshandlungen am ganzen Körper. Sie wurde vergewaltigt, umgebracht und wie ein Stück Müll in den Fluss geworfen. Das Mädchen hatte keine Chance gehabt, dem tagelangen Martyrium zu entgehen. Sands Team hatte die drei Täter wider Erwarten schnell gefasst. Beverly war damals mit Miller im Autopsiesaal gewesen und hatte den fachlichen Ausführungen von Dr. Morrow gelauscht, während Hank sich in gebührendem Abstand vom Seziertisch bemüht hatte, nicht aus den Latschen zu kippen. Das hatte ihn jedoch nicht daran gehindert, anschließend seine Meinung darüber kundzutun, dass solcherlei Mädchen ohnehin an allem selbst die Schuld trugen.


Dr. Morrow arbeitete seit über zwanzig Jahren als Gerichtsmediziner. Er arbeitete absolut zuverlässig. Er war ein Meister auf seinem Gebiet. Auch wenn Beverly seine Kompetenz und sein Können schätzte, es fiel ihr schwer, seine Art zu ertragen. Sie kannte Pathologen, die trotz der notwendigen Distanz ihre Menschlichkeit bewahrt hatten. Dr. Morrow hingegen war während seiner langjährigen Arbeit derart abgestumpft, dass ihm selbst der Körper eines toten Kindes keine Gefühlsregung mehr abverlangte. Innerlich verabscheute sie ihn für seine Kälte, und sie wusste, dass auch Sands das tat.

Whitefield hatte seine Nase in einen Stapel Papier gesenkt und arbeitete mit einem Kugelschreiber darin herum. Als er den Luftzug spürte, der mit Sands und Evans in sein Büro strömte, blickte er auf. „Gute Arbeit, wirklich gute Arbeit“, begrüßte er sie, in der Tat war sogar der Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht zu erkennen. „Hier, zwei Angebote für Klavierunterricht.“ Der Superintendent hob die Zeitung hoch, die direkt neben seinem Papierberg lag.

„Es stehen Telefonnummern dabei. Henderson und Miller überprüfen die Sache, Sie wissen schon.“ Er streckte Ihnen seine Hand entgegen. „Die Fotos?“ Er betrachtete die beiden Bilder eingehend und heftete sie zu Laurie Hardin und Sheila Moreno an die Pinwand. „Stanton ist bei der Meldebehörde. Sie prüfen die Daten, ob ein Tim Wilson gemeldet ist, der als Verdächtiger in Frage kommt.“

„Ich glaube allerdings, dass es wenig Zweck haben wird“, bemerkte Sands und zog die Augenbrauen zusammen. „Er hat sich in Coventry nicht abgemeldet, wenn er in London ist, wird er sich nicht angemeldet haben. Er schlägt sich vermutlich irgendwie durch. Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, dass er irgendwann einmal in einer dieser Obdachlosenunterkünfte aufgetaucht ist.“

„Könnte sein“, brummte Whitefield in sich hinein und nahm das Foto von St. Williams wieder von der Pinwand. „Bringen Sie das in die Technik, Evans. Lassen Sie es vergrößern und vervielfältigen.“ Er gab Beverly das Bild in die Hand und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. „Das Bild darf nicht in die Zeitung. Wir wollen ihn nicht warnen, Sie wissen schon.“ Er räusperte sich. „ Ich will, dass Sie vor Ort ermitteln. Schnappen Sie sich das Foto und klappern Sie alle verdammten Obdachlosenheime ab!“

„Ich werde noch heute die Adressen aller in Frage kommenden Einrichtungen in London zusammenstellen“, sagte Sands. „Die Überprüfung wird mein Team nicht allein schaffen können. Ich werde mich mit den umliegenden Revieren in Verbindung setzen, die könnten uns gegebenenfalls Arbeit abnehmen.“

„Tun Sie das“, brummte Whitefield. „Meinen Segen haben Sie. Und Evans. Morgen geht’s los. Also sehen Sie zu, dass wir die Fotos rechtzeitig auf dem Tisch haben, klar?“ Dann komplimentierte er seine Mitarbeiter mit einer ungeduldigen Handbewegung aus dem Büro.

„Unterkünfte, Wohnheime, Schlafstellen, Wärmestuben, Bahnhofsmissionen – ohne die umliegenden Reviere ist das im Großraum London tatsächlich nicht zu schaffen“, stelle Beverly fest und starrte auf die Endlosliste, die Sands Computer ausgespuckt hatte. „Da kommt ja einiges auf uns zu, Harold.“

„Zweifellos. Ich werde mich gleich ans Telefon hängen und als Erstes die Bereitschaft der umliegenden Reviere abklopfen, dann kann ich ungefähr einschätzen, mit welchem Maß an Unterstützung wir rechnen können. Danach werde ich mich um die Aufteilung der Gebiete kümmern. Spätestens morgen früh werden wir sehen, wie viel Arbeit für jeden von uns bleibt.“

„Du setzt dich mal wieder ganz schön unter Zeitdruck. Du arbeitest zu viel“, konstatierte sie.

„Kein Kommentar. Ich habe gerade erst gestern einen Blick auf dein Überstundenkonto geworfen.“

Tja, Beverly, wer im Glashaus sitzt…

Das Büro war leer, der Kaffee in der Kanne kalt. Beverly schüttete ihn in den Ausguss und telefonierte dann mit der Werkstatt. „Nein, Sie müssen das Auto sofort holen, ich brauche den Wagen spätestens morgen ... Unmöglich? ...Okay, okay, hatte ganz vergessen, dass Sie nachts nicht arbeiten.... Gut, dann holen Sie ihn.... Ja, bei Scotland Yard.“ Sie legte auf, nahm gleich wieder ab und telefonierte mit der Verwaltung, um sich für den morgigen Tag einen Dienstwagen eintragen zu lassen.

Die Unruhe im Korridor hatte sich gelegt. Beverly hatte ihre Aktennotizen ins Sekretariat gebracht, um sie tippen zu lassen. Mit den Fotos in der Hand machte sie sich auf den Weg in die technische Abteilung der Spurensicherung. An der Zwischentür kam ihr Fleming entgegen, er hielt mit dem Rücken angelehnt den Türflügel auf, um sie durchzulassen. Er war mit einem Stapel Akten bepackt und sah sie an.

„Beverly, Sie sind schon zurück?“

„Leibhaftig, wie Sie sehen. Wer hat Sie denn mit diesem Wust an Arbeit bepackt?“

„O’Brian. ... Er meint zwar, es würde ohnehin nichts bringen, aber ich soll mir trotzdem das von Waterman erstellte Täterprofil noch einmal ansehen. Es geht um den Mord an den beiden Prostituierten. Das hier sind die drei Fälle aus den letzten Wochen. Ich werde die Akten wohl mit nach Hause nehmen, hier komme ich zu nichts.“

„Das geht mir genauso. Ich habe das Gefühl, dass die Tage ausnahmslos zu wenig Stunden haben.“

„Und, wie war’s in Coventry?“

„Fruchtbar, muss ich sagen. ... Wir haben ein Foto von St. Williams und eins von der Familie Harwood.“

Er starrte sie an. Das oberste Dossier rutschte von seinem Stapel und fiel zu Boden. „Tatsächlich?“ Sie bückten sich gleichzeitig, sie griff die Mappe und packte sie ihm wieder auf. Sie schwiegen einen Moment.

„Mein Auto war noch immer nicht in der Werkstatt.“ Sie lächelte.

„Mein Angebot steht noch, ich fahre Sie. Allerdings habe ich noch einen Termin bei Dr. Morrow. Hab keine Ahnung wie lange das dauert.“

Das wird nicht lange dauern. „Ich warte auf Sie...und Fleming, Dr. Morrow ist nichts für schwache Nerven.“

Mit einem Lächeln drehte er sich um. Beverly schaute ihm nach, bis er hinter der Biegung des Korridors verschwand. Sie war sich sicher, dass er nicht wusste, was jetzt auf ihn zukam. Vermutlich hatte er sich die toten Prostituierten am Tatort ansehen müssen, aber Dr. Morrow bei der Arbeit zu beobachten, war etwas ganz anderes. Chief Superintendent O’Brian ging damit entschieden zu weit, den jungen Psychologen so ins kalte Wasser der Realität zu werfen. Beverly war sich sicher, dass Fleming die Härte des Lebens nur aus theoretischen Abhandlungen kannte. O’Brian hätte ihn zumindest vorwarnen müssen, und das hatte er wohl nicht getan, denn Fleming war bester Laune seinem Termin mit Dr. Morrow entgegen gegangen.

„Wen sehen meine Augen denn da, Sergeant Beverly Evans.“ Wesley Turner grinste über das ganze sommersprossige Gesicht, seine hellen kleinen Augen funkelten. Im Neonlicht des Techniklabors leuchtete sein rotes Haar wie poliertes Kupfer. „Und, immer noch solo? Überleg es dir, Beverly. Wir zwei wären das ultimative Pärchen. Stell dir nur mal unsere Kinder vor. Selbst im größten Gedränge würden wir sie leuchten sehen.“

Sie stellte es sich nicht vor und reichte ihm lieber das Foto. „Kannst du den Mann da rausholen und das Ganze vergrößern?“

„Klar, kein Problem. Kommt ihr weiter mit dem Fall?“

„Es sieht ganz danach aus, aber es kommt noch einiges auf uns zu. Kannst du mir Abzüge machen?“

„Wie viele brauchst du?“

„Vierzig bestimmt. Schaffst du das bis morgen?“

„Auf jeden Fall. Ich schick sie dann zu Whitefield rauf. Und grüß Stanton von mir, er soll sich mal wieder sehen lassen, der Halunke.“

Sie verließ das Labor, wobei sie einen kurzen Blick zu Turner zurückwarf. Er sah ihr mit einem breiten Grinsen hinterher. Sie lief die Korridore entlang und ließ ihren Blick im Vorbeigehen aus den schmalen Fenstern schweifen. Es war dämmrig, sie spürte plötzlich wie müde und erschlagen sie war. Sie ging durch die Zwischentür zu ihrer Abteilung. Dort traf sie Henderson, die anscheinend gerade erst zurückgekommen war.

„Hey, Bev, hab schon gehört, dass ihr zurück seid. Whitefield sagte, ihr hättet ein Foto von St. Williams.“

„So ist es.“

„Und, wie sieht er aus?“

„Du kannst es dir morgen ansehen. Nicht gerade wie ein typischer Täter.“

„Wo habt ihr es gefunden?“

„In Maggie Hunters Haus auf dem Dachboden.“

„Aha.“ Patricia seufzte. Sie tat es so offensichtlich, dass Beverly sofort Bescheid wusste. Irgendetwas lag ihrer neuen Kollegin auf der Seele. Sie waren allein im Flur, es herrschte eine sonderbare, vom leisen Summen einer defekten Neonröhre begleitete Stille. „Wo ist Miller?“

Henderson atmete hörbar ein. „Er hat mich hier raus gelassen und ist gleich weitergefahren.“ Sie schaute auf ihre Schuhe, drehte den rechten Fuß hin und her. Beverly spürte die Anspannung der jungen Kollegin und ihr schwante, dass etwas zwischen ihr und Miller geschehen sein musste.

„Hast du dich mit Miller angelegt?“ Henderson schwieg, sie wich Evans prüfendem Blick aus.

„Wenn ihr im Dienst aneinandergeratet, dann ist das keine Privatsache, Pat. Was ist los?“

Henderson blickte zornig auf. „Wieso bist du eigentlich mit Sands nach Coventry gefahren? Ich sollte doch mit ihm zusammenarbeiten.“

„Du hast Recht“, lenkte Beverly ein. „Grundsätzlich sollst du das auch. Coventry war nur eine Ausnahme. Und jetzt raus mit der Sprache: Was war mit Miller?“ Eigentlich kann ich’s mir denken.

Die Wut war aus Pats Gesicht gewichen und hatte einem bekümmerten Ausdruck Platz gemacht. „Ich hab ihm eine geknallt.“

Beverly hatte Mühe, ihr spontan aufkommendes Lächeln zurückzuhalten. Dann hat er’s auch verdient.

„Er ist aufdringlich geworden, da ist es halt passiert. Und was jetzt? Was ist, wenn er mich anschwärzt?“

„Das wird er nicht tun!“

„Glaubst du das wirklich, Bev?“

„Ja. Dann käme auch sein mieses Verhalten auf den Präsentierteller. Du solltest es Whitefield sagen. Bei unserem guten Hank kommt inzwischen einiges zusammen.“ Sie konnte Pat die Erleichterung ansehen und gönnte Hank diese Ohrfeige. Es war nicht die erste, die er von Kolleginnen im Yard bekommen hatte. Beverly konnte diese Tatsache gewissermaßen aus erster Hand bestätigen.

„Hast du heut´ noch was vor“, fragte Henderson unvermittelt.

„Ich warte auf Fleming, er hat mir angeboten, mich nach Hause zu fahren. Meine Schrottkarre muss dringend in die Werkstatt.“

„Ich finde ihn wahnsinnig sexy.“

„Da bist du nicht die einzige, Pat.“

„Wir waren gestern Abend zusammen essen.“

„Ihr ward zusammen essen“, wiederholte Beverly feststellend, beinahe tonlos. Evans, was hast du denn erwartet? Sie hatte es doch eigentlich schon vorher gewusst. Fleming war auch einer dieser Männer, die nur auf Vergnügen aus waren.

„Und, wie war er so?“, fragte sie gereizt.

„Er ist wirklich klasse. Er kann gut zuhören und er hat, was den meisten Männern fehlt, gute Manieren.“

„Ich meinte im Bett“, und sofort ärgerte sie sich maßlos über sich selbst, weil solcherlei Bemerkungen eigentlich Millers Niveau waren.

„Wir waren nur essen.“ Patricia warf ihr einen beleidigten Blick zu und verschränkte die Arme.

„Nur essen?“ Beverly fixierte sie.

„Ja. Bist du etwa neidisch?“

„Neidisch? Ich neidisch? Ich war am Montag mit ihm Essen.“

„Und? Danach?“ Henderson grinste.

Die beiden Frauen sahen sich einen Moment lang an und begannen zu lachen, aber Beverly spürte, dass es eigentlich nichts gab, worüber sie jetzt hätte lachen wollen. Vergiss diesen Mann!

Die beiden Frauen hatten gerade beschlossen ins Büro zu gehen, als Sands mit einer Kanne Kaffee den Flur entlang kam.

„Den können Sie doch unmöglich allein trinken“, feixte Henderson.

„Das habe ich auch nicht vor. Ich versuche gerade Fleming aufzupäppeln. O’Brian hatte die geistreiche Idee, ihn völlig unvorbereitet zu Dr. Morrow zu schicken; unser junger Psychologe hat den Autopsiesaal umgehend und fluchtartig verlassen.“

„Was zu erwarten war“, ergänzte Beverly. „Wir kommen mit. Patricia und ich könnten auch einen Kaffee gebrauchen.“

Sie folgten Sands in sein Büro. Fleming war kreidebleich, er wirkte, als würde er gleich vom Stuhl kippen. Sands gab ihm eine Tasse Kaffee in die Hand und lehnte sich an die Fensterbank.

„Ich weiß nicht, was sich O’Brian bei solchen Aktionen denkt“, sagte er.

Beverly seufzte. „Wir kennen ihn doch schon lange genug, wir kennen doch sein Motto: Wer nicht auf die harte Tour lernt, der lernt nichts.“

Fleming hielt sich an seiner Tasse fest und blickte hinein. Offensichtlich war es ihm peinlich, dass ihn der Anblick auf Morrows Autopsietisch beinahe von den Beinen geholt hatte.

Sands musterte ihn. „Machen Sie sich nichts draus, Fleming. Nach der ersten Leichenöffnung, bei der ich dabei war, ging’s mir auch nicht wesentlich besser.“

Beverly sah sofort die Erleichterung in Daniels Gesicht. Aus ihrem Mund hätten diese Worte nicht die gleiche Wirkung gehabt. Für Fleming war es gut zu wissen, dass ein gestandener Mann wie Sands, der schon jahrelang beim Yard arbeitete, ganz unumwunden zugab, dass es ihm nicht anders ergangen war.

Morde zwischen Rhein und Themse

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