Читать книгу Morde zwischen Rhein und Themse - Peter Splitt - Страница 9

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Freitag, 8. März

Sands und Henderson hatten Beverly früh morgens abgeholt. Sie hatte bereits auf dem Parkplatz gewartet. Ohne weitere Umschweife waren sie dann Richtung London aufgebrochen.

Es war noch nicht zehn, als sie das Dienstgebäude betraten. Beverly hatte sich im Wagen angeregt mit Patricia Henderson unterhalten und musste zugeben, dass sie sich wohl getäuscht hatte, dass sich hinter der perfekt gestylten Modepuppe eine unerwartet realistische Frau verbarg, die sich sicher schnell zu einer fähigen, selbständigen Kollegin mausern würde.

Im Yard herrschte hektisches Treiben. Arthur Hays hatte den Fall gelöst, den Miller zuvor in die Sackgasse gefahren hatte. Als sie den Korridor entlang zu Allisters Büro gingen, kam er ihnen in bester Laune entgegen.

„Schöne Grüße an Miller. Dan Apple war nicht der Täter, sein Cousin war’s.“

„Na, Glückwunsch, Hays. Wieder ein Punkt für Sie im endlosen Gemetzel mit Hank“, erwiderte Beverly lachend. Sie gönnte ihm den Erfolg.

Sie betraten das Büro, in dem Superintendent Whitefield und Sergeant Stanton bereits warteten. Miller war noch nicht da, aber Beverly verkniff es sich nach ihm zu fragen.

„Wir bekommen Verstärkung“, warf Whitefield unvermittelt in die Runde. „Waterman ist immer noch krank, klar, wissen Sie alle.“ Whitefields Stimme rasselte, er hustete, bevor er fortfuhr. „Das bleibt auch so. Die Knie, irgendwas kompliziertes. Chief Superintendent O’Brian hatte endlich ein Einsehen. Er hat einen Bewerber für die Vertretung herausgepickt. Daniel Fleming, er arbeitet am Institut für Verhaltensforschung hier in London. Fleming wird uns hier unterstützen, wann immer er sich vom Institut loseisen kann.“

„Wann wird das sein?“ Es kam wie aus einem Mund, Stanton und Henderson grinsten sich an.

„Er kommt morgen zur Dienstbesprechung.“ Whitefield kramte im Chaos seines Schreibtisches ein Dossier hervor. „Wir haben inzwischen die Untersuchungsergebnisse aus der Gerichtsmedizin.“

Die Tür flog auf und Miller trat feixend ins Büro, während er einen Zipfel seines Hemdes in den Hosenbund stopfte. „Na, alle zurück aus den billigen Absteigen?“ Er ließ seinen Blick demonstrativ zwischen Sands und Henderson hin und her wandern, doch niemand schenkte ihm Beachtung.

„Dan Apple war nicht der Täter, es war sein Cousin“, raunte Beverly ihm zu und genoss kurz den irritierten Ausdruck seines Gesichts.

Whitefield nahm den Faden wieder auf. „Wir haben die Untersuchungsergebnisse aus der Gerichtsmedizin. ... Sheila Moreno wurde niedergeschlagen, dann gefesselt. Danach nähte der Täter ihr den Mund zu. Er versuchte sie zu ersticken, hat ihr wahrscheinlich die Nase zugehalten. Sie war bewusstlos, sie verschluckte sich an ihrem Blut. Es war Blut in den Lungen. Daran ist sie gestorben.“ Er schaute auf seine Hände. „Im Labor werden noch Faserrückstände und Hautpartikel untersucht, alles was unter ihren Nägeln hing … viel war’s ja nicht. … Das wär’s erst mal von Dr. Morrow. … Lassen Sie uns die Ermittlungsergebnisse aus West Bromwich und Birmingham sichten, dann sehen wir weiter.“

Beverly zog ihr Notizheft, in dem sie nach dem Gespräch mit

Maria noch einige Details festgehalten hatte, und begann, als Whitefield ihr zunickte: Sie beschrieb nicht nur das Gespräch mit Victoria St. Williams, sondern auch die unbeschreibliche Kälte, die sie dort empfunden hatte. Gelangweilt zündete sich Miller einen Zigarillo an und blies Patricia den Rauch ins Gesicht. Sie hustete, warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Beverly fuhr mit den Ausführungen über das Treffen mit Maria Clement fort, das abends im Hotel stattgefunden hatte. In Whitefields Büro war es seltsam still. Selbst Millers gleichgültiger Ausdruck wich aus seinem Gesicht; der Ärger darüber, dass er, West Bromwich vorzeitig verlassen hatte, war ihm deutlich anzusehen.

„Timothy St. Williams wäre heute fünfundvierzig Jahre alt. Ich werde nachher die Meldebehörde in Coventry anrufen. Wie lange er bei Maggie Hunter gelebt hat oder ob er noch heute dort lebt, wird sich schon herausfinden lassen. Ich denke, dass er, was unsere beiden Fälle betrifft, dringend tatverdächtig ist“, schloss Beverly ihre Ausführungen.

„Das ist ja echt die Härte“, warf Stanton ein und fuhr sich mit der Hand durch die wilden Locken. „Einige Leute sollten wirklich keine Kinder kriegen.

Beverly sah in Sands Gesicht, er war offensichtlich höchst zufrieden mit dem, was sie herausgefunden hatte. Dann wanderte sein Blick zu Patricia.

„Würden Sie weitermachen, Miss Henderson?“ Beverly konnte Patricias Unsicherheit darüber, dass Sands ihr diese Aufgabe überließ, förmlich spüren. Sands lächelte ihr ermutigend zu.

„Der Mordfall geschah in einem Vorort von Birmingham am 25. Juli 1965. Die Ermordete hieß Carla Harwood. Sie war verheiratet. Ihr Ehemann, Frank Harwood, wurde als Hauptverdächtiger festgenommen. Er beteuerte seine Unschuld. Acht Tage nach seiner Festnahme erhängte er sich in der Gefängniszelle. Der Suizid wurde als Geständnis gewertet und der Fall zu den Akten gelegt.“

„Womit hat die Polizei damals den Tatverdacht gegen den Ehemann begründet?“ Stanton war anzusehen, dass seine grauen Zellen auf Hochtouren arbeiteten.

„Eins nach dem anderen“, bremste Henderson. „Das Ehepaar Harwood hatte einen Sohn, Daniel, zum Tatzeitpunkt sechs Jahre alt. Nach Aussage eines pensionierten Polizisten, den wir gestern aufgesucht haben, könnte der Junge die Tat beobachtet haben. In den Protokollen gibt es aber keine Aussage des Jungen. Er muss völlig verstört gewesen sein. Dann gab es noch eine Nachbarin. Sie kam gerade aus der Stadt, als Frank Harwood aus dem Haus lief. Seine Kleidung war voller Blut. Bei der Befragung sagte diese Nachbarin aus ... einen Moment ...“ Patricia blätterte mit ihren schlanken Fingern in den Unterlagen.

„Hier ist es:

Er kam aus dem Haus gerannt und war über und über mit Blut beschmiert. Ich sah auch an seinem Gesicht, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste. Er hatte den Jungen an der Hand. ‚Nehmen Sie den Jungen. Nehmen Sie den Jungen mit’, hat er immer wieder gerufen. ‚Und holen Sie die Polizei. Carla ist tot.’ Dann bin ich mit dem Kind losgelaufen. Daniel hat nicht geweint. Er hat auch nichts zu mir gesagt. Er hat sich nicht umgesehen. Es war schrecklich. Dann sind wir angekommen. Den Rest wissen sie ja.

Das war’s.“ Patricia schaute auf, und Stanton kniff die Augen zusammen.

„Sie haben ihn festgenommen, weil er voller Blut war?“, fragte er irritiert. „Vielleicht hat er sie gefunden, vielleicht hat er nur versucht ihr zu helfen?“

„Das könnte sein, Frank Harwood war Arzt“, fuhr Henderson fort. „Allerdings“, sie stockte einen Moment, „Carlas Mund wurde mit einer chirurgischen Nadel zugenäht, die mit ziemlicher Sicherheit aus seinem Notfallkoffer stammte.“

„Die kann jeder genommen haben“, entgegnete Beverly, „warum hätte er seine Frau umbringen sollen? Gibt es Aussagen über die Familienverhältnisse?“

„Die gibt es. Demnach konnte sich keiner, weder Nachbarn noch Bekannte der Familie, vorstellen, dass Frank Harwood seine Frau umgebracht haben sollte.“ Sie schwiegen; jeder schien gedanklich an der Frage zu hängen, ob damals in Birmingham ein Unschuldiger in der Zelle starb.

„Fakt ist“, unterbrach Sands die Stille, „dass in diesem Fall nicht gründlich genug ermittelt wurde und die Aktenführung schlampig war. Die Unterlagen, die uns zur Verfügung standen, waren mehr als lückenhaft. Der Verbleib des Kindes ist zum Beispiel ungeklärt. Der Junge wurde zunächst zu Freunden der Familie und anschließend gegen deren Willen in eine Pflegefamilie gegeben. Weiteres war nicht vermerkt. Nicht einmal die Namen dieser Familien. Wir haben dann Verwaltungsakten bei Gericht eingesehen. Der Vormund, der das Vermögen des Kindes verwaltete, wurde nach etwa einem Jahr entlassen. Später wurde jemand in London für dieses Amt vorgeschlagen. Es ist also wahrscheinlich, dass die Pflegefamilie mit dem Jungen nach London gezogen ist.“

„Wir wollten mit dem Mann sprechen, der anfänglich die Vormundschaft führte, aber er ist bereits verstorben. Er muss schon damals nicht mehr der Jüngste gewesen sein. Ich war dann in Birmingham in der Jugendbehörde, um etwas über diese Pflegefamilie herauszufinden“, ergänzte Patricia. „Die stöbern jetzt in ihrem riesigen Archiv. Ich hoffe, dass wir den Namen dieser Familie bald auf dem Schreibtisch haben.“

„So“, Allister Whitefield erhob sich schwerfällig aus seinem Stuhl, er schlurfte ans Fenster. „Wir fassen zusammen. ... Timothy St. Williams könnte der Täter sein. Er hat Zwischenstation in Birmingham gemacht, Carla Harwood getötet und lebt jetzt in London, wo er 1989 die zweite Tat verübte, an Laurie Hardin. Warum hat er von 1966 bis 1988 nicht gemordet? … Oder hat er doch? … Gibt es uns unbekannte Fälle? Und wenn er jahrelang nicht getötet hat, warum? … War er vielleicht schon aus dem Verkehr gezogen? Knast oder Anstalt?“ Whitefield räusperte sich, hustete dann heiser. „Ebenso gut könnte der Sohn der Familie Harwood, zweiunddreißig müsste er jetzt sein, die Tat begangen haben. Haben dann Birmingham und West Bromwich noch miteinander zu tun? Daniel Harwood sieht, wie seine Mutter stirbt. Nicht gerade ein Anblick für ein Kind. Der Vater erhängt sich. Kann ein Kind damit fertig werden?“

„Das würde erklären, warum lange Jahre nichts geschehen ist“, warf Stanton ein, „Harwoods Sohn war noch ein Kind. Vielleicht hat er auch als Erwachsener noch gegen die Erlebnisse angekämpft und letztendlich doch die Kontrolle über sich verloren. Vielleicht hat er tatsächlich damals den Tod seiner Mutter mit angesehen und muss alles zwanghaft wiederholen.“

„Wir müssen sie beide finden, Timothy St. Williams und Daniel Harwood, … beide, ist das klar?“, schloss Superintendent Allister Whitefield und alle, die sich in dem engen, verrauchten Büro aufhielten, schienen sich schon innerlich mit dem nächsten Schritt zu beschäftigen.

„Nichts, wieder nichts“, jammerte Henderson und legte den Hörer auf. „Es scheint fast so, als wären alle Unterlagen über Daniel Harwoods Pflegefamilie absichtlich beiseite geschafft worden. Warum gibt es nirgendwo einen Eintrag? Wie soll ich so irgendwas herausfinden, Bev?“

Die beiden Frauen belagerten das chaotische Büro, Stanton hatte, nachdem er keine Chance gesehen hatte, irgendein Telefonat dazwischenzuschieben, die Flucht ergriffen. Beverly bemerkte erst jetzt, während sie aus dem Aktenberg aufsah, dass er fort war. Sie goss Patricia Tee nach und schob den Zucker zwischen den Stapeln aus Papier und Akten hindurch über den Schreibtisch. „Vielleicht wollten sie den Jungen und sich vor der Öffentlichkeit schützen“, sinnierte sie und füllte ihre eigene Tasse. „Vielleicht hat die Pflegefamilie das Kind nur unter der Bedingung aufgenommen, dass niemand davon erfährt … bei der Vorgeschichte.“

„Es muss aber doch was Offizielles geben.“

„Versuch’s hier in London bei Gericht, Pat. Such nach einem Eintrag über den zweiten Vormund.“ Patricia wühlte im Karteikasten nach der Nummer.

Beverly seufzte, denn auch die Spur in Coventry löste sich langsam in Nichts auf. Maggie Hunter war 1982 im Krankenhaus nach einem Schlaganfall verstorben. Sie hatte ihr kleines Haus einer entfernten Verwandten vermacht, die jedoch nicht ausfindig gemacht werden konnte. Ein Timothy St. Williams war nie in Coventry gemeldet gewesen, weder unter Maggies Adresse noch sonst wo. Es gab auch keinen Eintrag in Birmingham. Selbst in London gab es niemanden, der Timothy St. Williams hieß und etwa fünfundvierzig Jahre zählte. Im Gedränge zwischen Tausenden von Autos kreisten Beverlys Gedanken, aber sie kam zu keinem Ergebnis. Wie lange hatte Timothy St. Williams bei Maggie Hunter gewohnt? War es nur ein kurzes Gastspiel gewesen oder lebte er bis zu ihrem Tod in dem Haus in Coventry? Wann und wo gab es ein letztes Lebenszeichen von ihm? Vielleicht lebte er unter falschem Namen irgendwo in der Anonymität einer größeren Stadt, wahrscheinlich in London, wenn er der Täter war. Es war illusorisch, ihn unter diesen Umständen jemals aufspüren zu können. Beverlys Wagen machte einen Ruck und hustete wie jemand, der eine schwere Bronchitis verschleppt hatte. Morgen früh, gleich morgen früh rufst du in der Werkstatt an.

Morde zwischen Rhein und Themse

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