Читать книгу Morde zwischen Rhein und Themse - Peter Splitt - Страница 21
Mittwoch, 20. März
ОглавлениеWhitefield hielt die Listen in den Händen, er überflog sie. Seine Pupillen wanderten hin und her. Ab und zu zuckten seine Mundwinkel, als wolle er etwas sagen. Dann legte er die Blätter hin. „Wir sollten St. Williams in eine Falle locken. Mit einer Anzeige. Suche Klavierunterricht, Sie wissen schon.“ Er sah in die schweigende Runde, Henderson, Fleming, Stanton, Miller, Evans, schließlich blieb sein Blick an Sands hängen, von dem er wohl am ehesten eine Antwort erwartete.
„Das könnten wir durchaus versuchen“, antwortete Sands. „Aber wir sollten uns nicht ausschließlich auf derlei Versuche festlegen. Wir müssen auch alle anderen Ermittlungswege strukturiert weiterführen. Wir können nicht auf einen Zufallstreffer hoffen.“
„Ich denke, er würde sich ohnehin nicht auf eine Anzeige melden“, warf Fleming ein. „Er muss das Geschehen steuern, er muss die Kontrolle haben, um sich sicher zu fühlen. Das kann er nicht, wenn er nur reagiert. Es ist viel wahrscheinlicher, dass er selbst eine Anzeige schaltet, und er würde sie auf jeden Fall chiffrieren.“
„Das heißt“, meldete sich Stanton zu Wort, „dass wir, wenn Flemings Theorie stimmt, nur die chiffrierten Listen unter die Lupe nehmen müssten.“
Sie schwiegen wieder.
Miller gähnte.
Whitefield räusperte sich und sah wieder zu Sands. „Wie sieht’s mit Harwood aus?“
„Ich habe mehrere Telefonate mit Birmingham geführt. Es gibt Gerichtsakten über einen Prozess, der gegen den Vormund des Jungen angestrengt wurde. Er hat ohne entsprechende Genehmigung das Anwesen der Harwoods verkauft. Es gibt außerdem Grund zu der Annahme, dass Harwood nicht in der Pflegefamilie verblieben ist, in die er ursprünglich aufgenommen wurde. Anscheinend gibt es eine Verbindung zwischen der Entlassung des Vormundes und dem Verschwinden des Jungen.“ Sands schwieg einen Moment und sah Whitefield prüfend an. Dann fuhr er fort: „Ich würde gern noch einmal nach Birmingham fahren, um der Sache nachzugehen. Anders gesagt: Ich halte es für unerlässlich.“
„Kommt die rote Matratze mit ins Gepäck?“ Miller zelebrierte ein feistes Grinsen, dabei ließ er seinen Blick zwischen Sands und Evans hin und her wandern. Während er das tat, war Beverly aufgesprungen und hatte zum Schlag ausgeholt. Dieses Schwein! Augenblicklich spürte sie Sands festen Griff an ihrem Handgelenk. Er hielt ihren Arm fest, bis der Impuls, Hank in seine freche Visage zu schlagen, verebbte.
„Es reicht, Miller.“ In Sands ruhiger Stimme schwang unüberhörbar eine unausgesprochene Drohung.
„Sie sind ein Kotzbrocken, Miller“, konstatierte Fleming.
„Birmingham?“, warf Whitefield ein, als hätte er von alldem nichts mitbekommen. „Birmingham? … Dann fahren Sie halt. Aber heut brauch ich Sie noch hier. Es gibt ein paar Dinge zu regeln.“ Er wühlte kurz in seinen Unterlagen und blickte wieder auf. „Sie fahren allein, Sands.“
Er räusperte sich, und Beverly fragte sich, welchen Grund Whitefield hatte, seinem besten Mitarbeiter derart in den Rücken zu fallen.
Inspektor Hays betrat mit seiner Truppe das Besprechungszimmer, direkt nachdem Sands’ Team gegangen war. Fleming hatte Anweisung bekommen zu bleiben, Beverly hatte seinen Blick in ihrem Rücken gespürt. Als sich die Tür schloss, hörten sie, wie Whitefield wütend seine Stimme erhob. Die Ermittlungen in Sachen Prostituiertenmord liefen anscheinend genauso schleppend, wie ihr Fall.
„Whitefield … Miller hätte er anbrüllen sollen“, befand Stanton und warf Hank einen verächtlichen Blick hinterher. Sands verschwand, ohne auch nur ein Wort über den Disput zu verlieren, in seinem Büro. Beverly sah ihm nach. Sie war froh, dass er sie vorhin zurückgehalten hatte. Er hatte sie vor der Dummheit bewahrt, sich wegen dieses schwafelnden Trinkers in Schwierigkeiten zu bringen.
Sie gingen an ihre Schreibtische und Stanton packte seine Listen zusammen. „Ich fahr jetzt die Verlage ab. Mal sehen, was dabei rauskommt.“ Er warf seine Jeansjacke über die Schulter und verschwand in den Korridor. Er würde mit Sicherheit eine Menge Arbeit von seiner Tour mitbringen. Beverly wollte die Zeit bis dahin nutzen, den liegengebliebenen Papierkram der letzten Tage zu bearbeiten. Sie warf Patricia einige Mappen mit Formularen zum Abheften hin und machte sich an die Arbeit. Hin und wieder fielen in paar Sonnenstrahlen auf ihre Hände, ab und zu warf sie einen Blick auf Patricia.
Es war bereits nach Mittag, als sich der Berg auf dem Schreibtisch lichtete. Sie lehnte sich zurück, sah nach draußen und dachte nach. Coventry hatte ihnen das Foto gebracht. Sie war sich sicher, dass Sands auch in Birmingham irgendetwas ans Tageslicht fördern würde. Er hatte so lange recherchiert, bis er doch noch eine Spur von Harwood gefunden hatte. Das kannte sie an ihm. Die Tatsache, dass die neue Spur aus Prozessakten bestand, erhöhte die Chance, etwas Brauchbares zu finden. Es war also eine Tatsache, dass der Vormund von Daniel Harwood entlassen wurde, weil er unbefugte Rechtsgeschäfte getätigt hatte. Aber wer hatte das herausgefunden? Wer hatte den Prozess damals ins Rollen gebracht? Steckte die Pflegefamilie des Jungen mit dem Vormund unter einer Decke? Hatten sie womöglich vorgehabt, sich am Vermögen des Kindes zu bereichern? Wurde der Junge deshalb in eine andere Familie gegeben? Oder hatten die Freunde der Familie Harwood, die ihn zunächst aufgenommen hatten, etwas mit der Klage zu tun?
Beverly hätte nichts lieber getan, als Sands nach Birmingham zu begleiten, aber daran war nach der heutigen Besprechung nicht zu denken. Sie verstand Whitefields Verhalten schon länger nicht mehr. Er hatte Miller wieder mit ins Team genommen, obwohl jeder wusste, wie es um ihn stand, dass er nichts als Ärger machte. Ständig tat Whitefield so, als würde er Hanks Bemerkungen nicht hören oder seinen alkoholisierten Zustand nicht sehen. Er hätte ihm längst eine Dienstaufsichtsbeschwerde erteilen müssen. Stattdessen erniedrigte er Sands vor Millers Augen. Was sollte das? Warum durfte Hank mit seinen gesammelten Gemeinheiten einfach so davonkommen? Hatte Whitefield irgendetwas veranlasst, nachdem Henderson bei ihm gewesen war und von den Belästigungen erzählt hatte? Nichts! Gar nichts! War es ihm egal oder konnte er sich einfach nicht mehr durchsetzen? War er zu alt und zu müde, um solche Auseinandersetzungen durchzustehen? Nein, das konnte es nicht sein. Er brauchte doch nur ein Wort mit O’Brian zu wechseln, schon wäre die Sache geritzt. Warum tat er das nicht?
Beverly stand auf, sie schob ihren Stuhl unter den Schreibtisch. „Wenn Stanton kommt, sag ihm, ich bin bei Sands.“ Der Korridor war menschenleer, aus der Teeküche hörte sie das glucksende Geräusch der Kaffeemaschine. Sands war nicht in seinem Büro. Sie drehte sich unschlüssig um.
Sie sah ihn auf dem Rückweg durch die Glastür im Besprechungsraum. Sie ging auf die Tür zu, griff nach der Klinke, aber hielt inne. Whitefield war bei ihm, anscheinend hatten sie eine Auseinandersetzung. Der Vormittag schien also noch nicht gegessen. Beverly hatte Sands und Whitefield nie vorher streiten sehen und blieb einen Moment wie angenagelt stehen. Sie konnte durch die geschlossene Tür kein Wort verstehen. Sie hatte keine Ahnung, worum es ging. Sands wirkte, als sei er kurz davor, seine stets vollkommene Selbstbeherrschung zu verlieren. Er warf einen großen Umschlag vor Whitefield auf den Tisch. Allisters ohnehin schon gerötetes Gesicht begann zu glühen, er gestikulierte wild, griff in seine Hosentasche, fand sein Aerosol und sprühte sich in den Rachen. Beverly wandte sich mit einem unguten Gefühl ab. Wenn es um etwas ging, dass die Arbeit betraf, würde sie es sicher noch zu wissen bekommen.
„So ein Mist“, schimpfte Stanton ungehalten. „Sie geben die Telefonnummern der Chiffrekunden nicht raus. Datenschutz. Ich hab alles versucht. Vielleicht sollte ich meine Privatnummer für Rückrufe angeben.“
„Das tust du auf keinen Fall.“ Beverly tippte sich mit dem Finger an die Stirn.
„Was denn dann? Die Nummer des Yard angeben? Da wird St. Williams mit Begeisterung anrufen.“
„Uns fällt schon noch was Besseres ein, Bill.“
Die Tür ging ein Stück auf, Miller schob sein Gesicht durch den Spalt. „Hey, Evans, hast du schon gesehen, was der Idiot mit deinem Auto angestellt hat?“
„Welcher Idiot?“ „Der dämliche Psychologe.“, grinste Miller.
Beverly sprang impulsiver auf, als sie es wollte, und drängte sich an Miller vorbei. Siedendheiß fiel ihr ein, dass sie den Wagen wieder einmal nicht abgeschlossen hatte. Was hatte Fleming an ihrem Auto zu suchen? Sie eilte durch die Korridore Richtung Aufzug und fuhr zum Parkdeck herunter. Als sie sich zwischen die geparkten Karossen hindurchschlängelte, sah sie bereits eine kleine Traube von Menschen um ihren Wagen stehen. Ihre Unterhaltung verstummte und sie zerstreuten sich, als sie Beverly kommen sahen. Sie kniff die Augen zusammen. Die Scheiben ihres Autos schimmerten in dunkelrot und grün, es sah aus, als seien sie von oben bis unten mit Farbe beschmiert.
Sie kam näher und sah, dass keine Farbe an den Fenstern haftete. Ungläubig blieb sie stehen. Was sollte sie jetzt davon halten? Unwillkürlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Fleming, Sie Spinner. Sie schüttelte den Kopf und sah sich um. Die Meute Neugieriger war verschwunden. Ihr kleines Auto war bis unters Dach gefüllt mit dunkelroten Rosen, deren Blüten und Blätter sich an die Scheiben schmiegten. Sie lief langsam um den Wagen herum. Hinter dem Scheibenwischer klemmte ein Briefumschlag. Sie nahm ihn und zog eine Karte heraus. Eine Einladung für den heutigen Abend. Ein Essen zu zweit. Sie drehte die Karte um und las:
Ich hatte niemals die Absicht, Sie zu verletzen.
Mit einem Rest an Konzentration brachte Beverly den Arbeitstag zu Ende. Auf dem Weg nach Hause kaufte sie Pumps, die zu ihrem cremefarbenen Kleid passten. Sie hatte Henderson zwei Arme voller Blumen geschenkt, um überhaupt in ihr Auto steigen zu können. Patricia war es auch, die Vasen organisierte, um der Flut langstieliger Rosen Herr zu werden. Gemeinsamschnitten sie die Blumen an und verteilten die Sträuße in Beverlys kleiner Wohnung. Nachdem Patricia gegangen war duschte Beverly und machte sich zurecht. Sie zog das Etuikleid an, das sie schon in der Hotelbar getragen hatte, und schlüpfte in die neuen Pumps. Sie legte die dünne goldene Kette um, die sie letztes Jahr von ihrer Mutter zum Geburtstag bekommen hatte, und befestigte die Uhr am Handgelenk. Das Haar ließ sie offen. Halb acht, er würde gleich da sein. Sie nahm ihren warmen knöchellangen Mantel aus dem Schrank und zog ihn über. Dann verließ sie die Wohnung. Fleming kam ihr bereits auf der Treppe entgegen, er lächelte, als er sie sah. Sie begrüßten sich distanziert und gingen schweigend zu seinem Wagen.
„Sie sind verrückt, Fleming“, eröffnete sie ihm, während er losfuhr. „Sie sind total verrückt! Danke für die Rosen.“
Er schaute kurz zu ihr herüber, ihre Blicke trafen sich. Sie spürte den Puls in ihrem Hals, fragte sich, ob sie das richtige tat.
Der Roadster schlängelte sich durch das abendliche London. Sie hielten vor einem Restaurant, das schon von außen sündhaft teuer wirkte. Als jemand ihr die Tür aufhielt und Fleming den Autoschlüssel an das Personal abgab, damit sie sein Auto parken konnten, wusste Beverly, dass es sündhaft teuer war. Sie gingen hinein. Marmor, Glas, riesige Teppiche, leise Klaviermusik. Er hatte reserviert, sie saßen in der Nähe der Tür.
„Überspannt das hier nicht Ihr Budget als Psychologe?“, forschte Beverly, und er zog eine Augenbraue hoch.
„Ich dachte, wir könnten anschließend Teller waschen.“ Sie lachte. „Da werden wir aber lange waschen müssen.“ Sie sah ihn an, das dunkelblonde, leicht zerzauste Haar, sein schönes Gesicht und diese absolut faszinierenden Augen. Im Schwarz seiner Pupillen konnte sie das Schimmern der Kerzen sehen, die zwischen ihnen standen.
Der Ober brachte die Karten und Fleming bestellte Wein. Beverly studierte die Karte, sie entschied sich für überbackenes Filet.
Beim Essen redeten sie über belanglose Dinge, und Beverly spürte wie der Wein seine Wirkung entfaltete. Sie warf einen Blick auf das halbvolle Glas und entschied sich, kein weiteres zu trinken. Dann sah sie ihn an und schwieg. Er musterte sie.
„Sie sind die erste Frau, die ich dermaßen schwer einschätzen kann, dass es mich wirklich nervös macht.“
„Und Sie sind der erste Mann, der auf die Idee gekommen ist, mein Auto mit Rosen voll zustopfen. So was macht mich nervös.“
Sie hielten vor ihrem Wohnblock, und Fleming begleitete sie durch das einsame Treppenhaus nach oben. Beverly öffnete die Wohnungstür und lehnte sich an den Türrahmen. Rosenduft. Während sie langsam ihren Mantel aufknöpfte, ließ sie Fleming nicht aus den Augen. Er lehnte sich an die andere Seite des Rahmens und fixierte sie. Er nahm seine Armbanduhr ab, ohne seinen Blick von ihr zu nehmen, und ließ sie in seine Manteltasche gleiten. Beverly begriff die Anspielung, die in dieser Geste lag. Sie löste auch ihre Uhr. Sie schob sie in ihren Mantel. Dann zog er sie an sich und küsste sie. Sie drängte sich an ihn, um seinen Körper besser zu spüren und vergrub ihre Hände unter seinem Mantel. Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie in diesem Türrahmen gestanden hatten. Als sie Schritte auf der Treppe hörte, öffnete sie die Augen und löste sich von ihm. Sie zog ihn mit sich in die Wohnung, die Tür fiel ins Schloss. Sie wusste, dass sie es tun würden. Sie hinterließen eine Spur aus Kleidung auf dem Weg ins Schlafzimmer. Beverly atmete seine Leidenschaft mit jeder Faser ihres Körpers. Sie überließ sich ihren Empfindungen. Es war anders als alles, was sie bislang erlebt hatte, weil sie wusste, dass er mit ihr einschlafen würde, weil sie wusste, dass es keine andere Frau gab, die auf ihn wartete. Er würde auch noch neben ihr liegen, wenn sie am Morgen aufwachte.