Читать книгу Morde zwischen Rhein und Themse - Peter Splitt - Страница 23
Freitag, 22. März
ОглавлениеBeverly sah die Tropfen über sich auf das Fensterglas fallen. Sie lauschte dem leisen Regen und Daniels gleichmäßigem Atem. Seine warme Hand lag auf ihrem Bauch, seine Stirn berührte ihre Schulter. Sie hätte endlos so liegen bleiben können. Zum ersten Mal, seit sie bei Scotland Yard arbeitete, wäre sie lieber im Bett geblieben. Sie dachte an die schlechte Stimmung, die sich schon seit Tagen durch die Reihen der Kollegen zog, an Whitefields Zustand und an die Dinge, die unter der Oberfläche brodelten, von denen sie nicht wusste, was dahinter steckte. Das einzige, das sie im Moment motivierte, war der Gedanke daran, dass Sands gegen Mittag aus Birmingham zurück sein würde.
Whitefield hatte angeordnet, dass sich alle zur Besprechung um dreizehn Uhr in seinem Büro treffen sollten. Er ging davon aus, dass das Team dann wieder komplett sein würde. Bis dahin galt es die Zeit zu nutzen. Stanton versuchte sich noch einmal an den Nonnen. Er säuselte so zuckersüß in den Hörer, dass Beverly fassungslos den Kopf schüttelte. Trotzdem ließen sie ihn völlig im Dunkeln, was St. Williams’ Aufenthaltsort betraf. Angeblich hatten sie keinen blassen Schimmer, wo er sich herumtrieb, wenn er nicht bei ihnen war. In Stanton keimte der Verdacht, dass sie ihn womöglich doch in der Unterkunft versteckt hielten. Er beschloss, gemeinsam mit Henderson hinzufahren. Miller schloss sich an, und den beiden stand die Begeisterung darüber ins Gesicht geschrieben.
Beverly schrieb ihren Bericht und hütete das Telefon. Sie wählte hin und wieder die London News an, ohne Erfolg. La Vince war nicht zu sprechen. In Intervallen von dreißig Minuten sah sie nach, ob Sands schon zurück war. Als sie wieder nervös über den Korridor schlich, traf sie Daniel.
Er hielt sie kurz an und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund. „Ich hab mich gerade bei Whitefield abgemeldet. Ich muss um zwölf im Institut sein.“ Er strich über ihr Haar. „Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird. Soll ich dich anrufen?“
Sie nickte und tauchte ihren Blick in seine Augen. Einen Augenblick lang standen sie schweigend und sahen sich nur an, dann trennten sich ihre Wege mit einem Lächeln. Sie küssten sich nicht zum Abschied, denn Miller, Stanton und Henderson kamen bereits zurück. Ihre Gesichter kündeten von Erfolglosigkeit, und Beverly sah Daniel nach, bis er hinter der Glastür im Korridor verschwand.
Sie versuchte noch einmal, La Vince zu erreichen. Die Frau am anderen Ende des Telefons vertröstete sie wieder. Beverly entschloss sich, kurz vor Feierabend höchstpersönlich bei der London News vorbeizufahren, um zu versuchen, ihn dort aufzutreiben. Stanton schrieb eine Notiz über den Besuch bei den Nonnen, Miller war gegangen, um Kaffee zu holen. Wahrscheinlich blieb es nicht dabei, zwischendurch brauchte er immer mal wieder frische Prozente.
Beverly verließ den Raum und ging zu Sands Büro. Noch immer abgeschlossen. Sie hörte Stimmen, die anscheinend vom Treppenhaus herkamen, sie ging in diese Richtung. Kurz vorm Treppenabsatz im Seitenkorridor vor dem Materialraum standen Sands und Miller. Sie wollte gerade auf die Beiden zugehen, als sie bemerkte, was vorging. Gibt es in diesem verdammten Laden denn nur noch Streit? Beverly drückte sich an die Wand, von dort konnte sie die beiden gut sehen.
„Das wollen wir ja mal abwarten“, blaffte Hank und sah sein Gegenüber herausfordernd an. Sands blickte ihm seelenruhig in die Augen aber Hank wich seinem Blick aus. „Sie sind im Yard schon lange nicht mehr tragbar, Miller. Sie haben die Chancen, die man Ihnen immer wieder eingeräumt hat, mit Füßen getreten, und jetzt ist Schluss.“
Hank grinste breit und machte einen Schritt nach vorn. „Das sieht Whitefield aber ganz anders. Er hat mich sogar für Tom Callaghers Posten vorgeschlagen. … Es war mir auch klar, dass Sie die kleine rote Schlampe ins Rennen bringen würden.“
„Vorsicht, Miller.“ Die beiden Worte waren eher ein Flüstern, Sands Haltung blieb dabei völlig gelassen, dennoch wich Hank unwillkürlich zwei Schritte zurück.
„Evans hat sowieso keine Chance.“
„Das steht hier nicht zur Debatte. Sie haben keine Chance, Miller. Ich werde dafür sorgen, dass Sie vom Dienst suspendiert werden, es wird das nächste sein, was ich hier tue.“ Hank kniff die Augen zusammen. „Ach ja? Erklären Sie das doch mal dem guten Whitefield. Er wird Ihnen sagen, was er davon hält, ... nämlich gar nichts.“
Sands lächelte, und Hank sah ihn irritiert an. „Ich weiß, dass Sie Whitefield unter Druck setzen.“
Miller grinste. „Bluffen Sie doch nicht Sands, womit sollte ich das denn tun?“
Kurzes Schweigen. Beverly spürte, wie die Spannung die Luft fast zum Bersten brachte.
„Whitefield hat mir vorgestern einige Akten auf den Schreibtisch gepackt. Dazwischen lag zufällig ein Umschlag, der wohl nicht für mich bestimmt war“, bemerkte Sands völlig ruhig, und Beverly konnte den Triumph in seinen Augen sehen.
Er brauchte nicht mehr zu sagen. Millers Gesicht wechselte im Bruchteil einer Sekunde die Farbe. Er griff in die Tasche seines Sakkos, wohl, um sich an seiner Flasche festzuhalten. „Das werden Sie bereuen“, zischte er, wandte sich ab und lief die Stufen hinunter.
Beverly hastete eilig den Korridor entlang. Es war ja nicht gerade die feine englische Art, es war eigentlich auch nicht ihre eigene Art zu lauschen, aber zugegebenermaßen war es hochinteressant gewesen. Jetzt ging es Miller also endlich an den Kragen. Jetzt bekam er endlich, was er verdiente.
…Dieser Umschlag, schon wieder dieser Umschlag! Sie erinnerte sich daran, wie Sands ein Kuvert vor Whitefield auf den Tisch geworfen hatte. Anscheinend war etwas darin, mit dem Miller den Superintendent in der Hand hatte. Das würde erklären weshalb Whitefield nie etwas gegen Hanks Verhalten unternommen hatte. Er hatte Angst, Miller würde ihn mit dem Inhalt dieses Umschlages diskreditieren.
Plötzlich wurde Beverly bewusst, auf welch schmalem Grad Sands jetzt wandelte. Wenn er Miller wirklich hochnahm, wie wollte er verhindern, dass Whitefield mit abstürzte?
Henderson und Stanton saßen nebeneinander gedrängt am Computer, sie ließen sich durch Beverlys Erscheinen nicht weiter stören. Sie setzte sich und versuchte ihr Gedankenknäuel zu sortieren. Vergeblich. Sie erhob sich wieder und heftete ihren Bericht ab. Sie ging ans Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen, die Wolkendecke riss allmählich auf, und man konnte ahnen, dass irgendwo dahinter die Sonne versteckt war. Es klopfte, Sands winkte sie hinaus auf den Korridor. Er sah besorgt aus.
„Wie war’s in Birmingham?“, wollte sie wissen.
Er antwortete nicht auf ihre Frage. „Ich muss unbedingt mit dir reden, bevor wir ins Team gehen. Hast du Zeit?“
„Ja, hab ich.“ Jetzt würden sich vielleicht einige der Fragen entwirren, die sie in den letzten Tagen beschäftigt hatten.
Stanton warf die Tür auf und sah sie an. „Beverly, Telefon für dich. … London News.”
Sie sah kurz zu Bill, dann wieder zu Sands. „Ich komm gleich in dein Büro, Harold.“ Sie ging zurück an den Schreibtisch und griff nach dem Hörer. Die Frau, durch die sie an diesem Tag bereits mehrfach abgewimmelt wurde, war am anderen Ende der Leitung. „La Vince hat mitgeteilt, dass er um fünf zurück sein wird. Er ruft Sie dann an. Sind Sie im Büro zu erreichen?“
„Ich denke schon. Hinterlassen Sie ansonsten eine Nachricht in der Zentrale.“ Sie warf den Hörer auf und ging zur Tür. „Ich bin bei Sands.“ Sie verließ das Büro und blickte im Korridor kurz aus dem Fenster. Sie hielt inne. Miller kam aus einer Telefonzelle gewankt, den Kopf im Nacken, eine Flasche am Mund. Er nahm sie runter, sah sich kurz um, schraubte sie zu und steckte sie in seine Manteltasche. Dann ging er zurück zum Dienstgebäude.
Als Beverly Sands Büro betrat, telefonierte er gerade. Sie setzte sich und sah auf die Uhr. Bis zur Dienstbesprechung waren es noch fünfzehn Minuten. Sie musterte ihn. Sie beneidete ihn nicht um die Probleme, die jetzt auf ihn zukommen würden. Wie würde er es einfädeln, Whitefield aus der Sache herauszuhalten? War das überhaupt möglich? Oder hatte er Allister am Mittwoch bereits vor vollendete Tatsachen gestellt? Das wiederum konnte sich Beverly beim besten Willen nicht vorstellen ... Dennoch, das Bild von Whitefield und seiner grünen Schreibtischunterlage tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Und Sie, Miller, halten Sie in Zukunft gefälligst Ihre blöde Klappe! Hatte er das gesagt, weil es für ihn bereits nichts mehr zu verlieren gab?
Sands legte den Hörer auf, ihre Blicke trafen sich. Er sah jetzt genauso unglücklich aus wie an ihrem Abend in der Hotelbar. Er schien nachzudenken, wie er anfangen sollte, aber diese Überlegung erübrigte sich. Sie hörten eilige Schritte auf dem Flur, und Stanton fiel mit der Tür in den Raum. „Wir hatten einen anonymen Anruf. St. Williams soll sich auf einem stillgelegten Fabrikgelände im Stadtteil Dagenham aufhalten. ... Das Ganze ist allerdings ein wenig seltsam.“
Henderson kam ins Büro gestürmt, auch Miller schaffte es durch die Tür.
„Was hat der Anrufer genau gesagt?“, fragte Sands und zog die Augenbrauen zusammen.
„St. Williams ist in der alten Fabrik von Doggers and Wilkens. Wenn Sie ihn lebend wollen, müssen Sie ihn vor mir kriegen.“, zitierte Stanton.
„Was soll denn so ein Schwachsinn … vor wem kriegen?“ Miller verzog das Gesicht, dann musste er aufstoßen. Der Dunst von Whisky zog durch die Luft.
„Was ist mit Whitefield?“, wollte Sands wissen.
„Ist informiert“, antwortete Henderson knapp.
„Wenn man vom Teufel spricht“, grinste Miller, als Whitefield zu ihnen stieß.
„Sie fahren sofort“, keuchte der Superintendent. „Ich schicke Verstärkung nach, so schnell es geht. Sie müssen ihn kriegen, der Rest ist unwichtig.“
Alle wussten, unter welch immensem Druck Whitefield mit diesem Fall stand. Laurie Hardin und die erfolglosen Ermittlungen im Sommer 1989 schwebten noch immer wie ein Damoklesschwert über ihm. Stanton sah zweifelnd in Allisters Gesicht. „Aber irgendwas stimmt da nicht. Warum sollte jemand uns anrufen, wenn er St. Williams den Hals umdrehen will?“
„Vielleicht will er tatsächlich, dass wir ihn kriegen. Vielleicht will er nur, dass wir uns beeilen“, gab Henderson zu bedenken.
„Stanton hat recht“, entgegnete Sands, erhob sich und griff nach seinem Mantel, „dem Ganzen fehlt die Logik. Nur eins ist sicher: Der Anrufer verfolgt den Zweck, dass wir unvorbereitet sind. Genau das gefällt mir überhaupt nicht.“
„Macht sich unser Inspector etwa ins Hemd?“, grinste Miller.
„Los jetzt“, schnarrte Whitefield.
Beverly sah zu, wie Sands das Magazin in seine Waffe schob. Sie verließen sein Büro, eilten den Korridor entlang, holten die Mäntel, die Dienstwaffen und fuhren in die Tiefgarage.
Patricia stieg zu Sands in den Wagen, Beverly ließ sich auf den Beifahrersitz von Stantons Auto fallen. Sie winkte Miller zu sich der einen nicht mehr ganz sicheren Gang hinlegte. Hank schüttelte nur den Kopf und stieg in sein Auto.
„Dieser besoffene Volltrottel“, schimpfte Bill. Er drehte den Zündschlüssel, fuhr los und folgte Sands Wagen. Bald hatten sich die Autos im dichten Verkehr verloren.
Stanton steuerte seinen Wagen über die gebrochenen Betonplatten. Aus den Ritzen wuchsen Unkraut und Moos. Als sie die Biegung nahmen, konnte Beverly die zwei anderen Autos warten sehen. Der Dreierkonvoi setzte sich in Bewegung, bog auf eine breite geteerte Zufahrt ab. Sie erreichten das Gelände von Doggers and Wilkens. Beverly hatte keine Ahnung, was hier einmal hergestellt wurde. Die stillgelegten Hallen ragten einsam und bedrohlich in den Himmel. Der Wind jagte dunkle Wolken über die verwahrlosten Gebäude aus Stahl und Beton. Auf dem asphaltierten Platz stapelten sich rostige Metallfässer, riesige Pfützen schimmerten in öligen Regenbogenfarben. Der hohe Zaun war beschädigt, das Tor stand offen. Miller fuhr als Erster auf den Platz, er parkte neben der vorderen Halle. Sie folgten ihm und stiegen aus. Er stellte sich in Positur, wies dabei an der Wand vorbei Richtung Norden. „Ich nehm’ mir die Halle da hinten vor. Ich kenn mich hier aus, ich hab hier mal mit Hays ein Rattennest ausgehoben.“
„Okay, ich geh mit Hank“, Stanton wandte sich ihm zu.
„Mach dir bloß nicht die Hosen voll, Billy. Ich geh allein.“ Er setzte sich in Bewegung und steuerte auf die hintere Halle zu. Dabei drehte er sich hin und wieder zu ihnen um. Beverly sah Stanton an, anscheinend dachten sie beide das Gleiche. Miller wollte ungestört sein, wenn er mit seiner Flasche die Angst in den Griff bekommen musste.
„Henderson, Sie kommen mit mir.“ Sands sah Patricia kurz an. „Wir nehmen die vordere Halle.“ Er blickte zu Beverly.
Sie nickte. „Okay, wir nehmen das Ding da an der Seite.“
Die Waffe entsichert und in der Rechten, schob sie sich an der schweren Stahltür vorbei ins Innere des Kolosses. Stanton folgte ihr. Durch die Lichtschächte fiel mattes Licht auf das Labyrinth aus Rohren, Kesseln, Beton und Stahl. Sie hielt die Waffe in den schmalen Gang, während Stanton sich in diese Richtung vorarbeitete. Er warf einen Blick in einen Kreuzgang, passierte ihn und blieb halb verdeckt durch ein breites Fallrohr stehen. Sie konnte nur noch seinen Schattenriss erkennen, sah aber, dass er sie jetzt absicherte. Sie folgte parallel zu seinem Weg. Sie erreichte seine Höhe, nur quer laufende Rohre trennten sie voneinander. Er legte den Zeigefinger über seine Lippen, sie lauschte. Der starke Wind machte es ihr nicht gerade leichter. Sie hörte das Rauschen von draußen, auch das unheimliche Heulen, das sich pausenlos und bedrohlich seinen Weg durch die undichten Schächte suchte. Ein seltsames Klappern kam von der Seite. Das war es, was Bill meinte. Sie legte die Waffe an, und er schob sich, den Rücken an einen riesigen Kessel gelehnt, langsam in diese Richtung. Sie schritt langsam seitwärts, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und blieb neben einer Betonsäule stehen. Stanton stand jetzt neben einer Tür, zog sie langsam auf und schob den Lauf seiner Waffe hinein. Er verschwand in der Dunkelheit, und Beverly atmete mit gespitzten Lippen langsam aus. Sie spürte ihr Herz, das in ihrem Hals zu schlagen schien. Bill tauchte wieder auf, er schüttelte den Kopf. Beverly ging um die Betonsäule herum, kletterte über ein niedriges Geländer. Dann bemerkte sie schräg hinter Stanton eine Metalltreppe. Sie hob ihre Waffe wie einen Zeigestock nach oben. Er begriff. Sein Blick folgte ihr. Über dem Gewirr, das sich hier unten befand, verzweigten sich Gänge. Wenn sich dort oben jemand versteckte, würde er sie früher oder später sehen. Und wenn er eine Waffe hatte, waren sie ein leichtes Ziel. Stantons Zeigefinger wanderte nach oben, sie nickte. Er schlich an einem Geländer entlang, mehrere dicke Rohre trennten ihn von dem Aufgang. Dann hatte sie ihn verloren. Sie spähte mit zusammengekniffenen Augen dahin, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Er tauchte vor der Treppe wieder auf. Anscheinend war er unter den Ableitungen durchgekrochen. Sie hörte ein Geräusch, ein Quietschen. Auch Stanton musste es gehört haben. Er rührte sich nicht.
Beverly blickte auf die Gänge über sich und befand, dass es ein Fehler gewesen war, Miller in seinem Zustand allein gehen zu lassen. Er war in größter Gefahr. Sie hatte diesen Gedanken gerade erst zu Ende gebracht, als ein Schuss das Rauschen zerriss. Beverly konnte Stantons Gesicht im Halbdunkel nicht erkennen, aber sie spürte, dass er zu ihr herübersah. Sie machte einen Wink mit dem Arm und trat den Rückzug an. Miller! Verdammt! Sie robbte unter den verschachtelten Rohren zurück, um den Weg abzukürzen, passierte den Kessel.
Wieder ein Quietschen. Sie drehte sich. Nichts.
Der Gang.
Beverlys Vorsicht schwand. Sie erreichte die Stahltür gleichzeitig mit Stanton. Er riss sie auf. Die Sonne warf spärliche Strahlen in die Wasserlachen, der gleißende Schimmer blendete Beverly. Sie sah sich um.
„Wohin?“, fragte Stanton.
„Hintere Halle, wir müssen zu Miller, ich...“ Beverly beendete den Satz nicht. Henderson schob sich durch die Metalltür der anderen Halle nach draußen, und sofort ergriff der Wind Besitz von ihren langen blonden Haaren. Sie hielt ihre Waffe in der Hand, ihre Arme hingen schlaff herunter. Sie rannten auf sie zu.
„Was ist passiert, wer hat geschossen?“, fragte Beverly atemlos.
„Ich habe geschossen.“ Patricias Stimme war heiser. „Ich glaub, ich hab ihn nicht erwischt.“
„Wo ist Sands?“
Henderson antwortete nicht, und Beverly erkannte den Ernst der Lage an ihrem Gesichtsausdruck. „Bill, ruf einen Notarzt.“ Sie fasste die Kollegin am Ärmel und zog sie mit sich.
„Er hatte ein Messer.“ Nicht nur Patricias Stimme zitterte, auch jede Faser ihres Körpers.
Beverly zog sie durch die Tür. „Wo ist Sands?“ Henderson hetzte durch die engen Gänge, während ihr Blick hin und her wanderte. Beverly blieb dicht hinter ihr. Im Halbdunkel starrte sie in das Gewirr aus Stahl und Beton, den Griff ihrer Waffe fest umklammert, sie wusste um die Gefahr. Pat schob sich zwischen zwei riesigen Kesseln hindurch, hob dann den Arm und deutete wortlos auf ein Geflecht von Rohrleitungen.
Beverly war nicht vorbereitet auf das, was sie jetzt sah. Sands lag schwer atmend in einer Blutlache. Im matten Schein der Lichtschächte konnte sie kleine Rinnsale erkennen, die zäh über den Betonboden liefen. Seine Hände lagen auf seinem Körper, Blut sickerte ungehindert zwischen seinen Fingern hindurch. Einen Moment lang hatte Beverly Mühe, ihre Fassung zu bewahren. Dann warf sie Patricia ihren Mantel in die Arme, kniete sich neben Sands auf den Boden und legte ihre Waffe in Griffweite auf den Beton. Sie sah in seine dunklen Augen. Schmerz. Angst. Er war bei Bewusstsein. Er versuchte zu sprechen, doch sein schwaches Flüstern verebbte im Nichts. Sie schob seine Hände beiseite und öffnete hastig die blutdurchtränkte Kleidung. Sie schluckte schwer, zögerte einen Moment, als sie die Verletzung sah. Dann presste sie ihm mit ihrem ganzen Gewicht den Ellenbogen in die Wunde. Er keuchte vor Schmerz, sie spürte, wie sich sein Körper unter ihr krümmte. Sie erschauderte als sein warmes Blut durch ihre Kleidung drang und ihre Haut benetzte. Beverly hätte nicht sagen können, woran sie jetzt dachte. Sie hätte auch nicht beschreiben können, was sie fühlte. Sie lag auf ihm und sah in sein bleiches Gesicht.
„Ich will nicht, dass du verblutest.“, brachte sie hervor.
Dann lag Sands beinahe völlig ruhig, bis auf ein leises Zittern, als würde mit dem Blut auch die Wärme seinen Körper verlassen. Beverly wusste, dass ihn jeder Atemzug anstrengte. Sie konnte die Bewegung seines Rippenbogens, seine Atmung mit ihrem Körper fühlen. Sie glaubte auch seine Angst zu spüren, ... oder war es ihre eigene?
„Der Notarzt ist unterwegs. Das schaffst du! So lange hältst du durch!“ Sie lauschte. Sie hörte den Wind, sie hörte auch Miller draußen brüllen. „Bleib stehen, du Arsch!“
Zwei Schüsse.
Sands begann zu würgen. Beverly spürte die Kontraktionen, die durch seinen Körper gingen. Er schloss die Augen, ein Schwall dunklen Blutes drang aus seinem Mund.
„Mach die Augen auf! Verdammt noch mal, reiß dich zusammen!“, schrie sie heiser, ihr Echo hallte durch den Irrgarten aus Metall. Er starrte sie an. Leises Röcheln begleitete jetzt jeden seiner Atemzüge.
Allmählich wich der Schmerz in seinem Gesicht völliger Ausdruckslosigkeit, sein Atem wurde flacher. Seine Augenlider wurden schwer, und Beverly begriff, dass er nicht mehr dagegen kämpfte. Sie blickte in Patricias bestürztes Gesicht. „Pat, sieh nach, wo der Notarzt bleibt, ... schnell!“
Beverly robbte unter das Gewirr von Leitungen und versuchte mit ausgestrecktem Arm Sands Waffe zu erreichen. Es gelang ihr. Sie sicherte sie und schob sich zurück. Stanton stand ein wenig abseits. Er hatte seine Arme um den Körper geschlungen, er sah Notarzt und Sanitätern bei ihrer Arbeit zu. Seinem Gesicht war keine Regung anzusehen, doch seine Hände waren so in den Stoff des Mantels gekrallt, dass seine Knöchel weiß aussahen. Henderson hatte sich an den Kessel gelehnt, ihr Blick schien am Betonboden festgenagelt. Es hatte den Eindruck, als würde sie ohne die Stütze im Rücken einfach wegkippen. Beverly schob die Waffe in die Tasche ihres Mantels, den Patricia noch immer in den Armen hielt. Sie schien es nicht einmal zu bemerken. Die Zeit um Stanton und Henderson schien stillzustehen, während den Sanitätern jede Minute zu schnell durch die Finger rann. Beverly ließ die Szene hinter sich und lief nach draußen. Der Notarztwagen stand vor der Tür, Polizei fuhr auf das Gelände. Sie rannte um das Gebäude herum auf die hintere Halle zu. Der Wind war kalt auf ihrer nassen Haut, das Wasser der Pfützen spritzte an ihr hoch. Wo ist Miller? Ihre Finger schlossen sich fester um die Waffe. Sie erreichte die Breitseite der Halle, sah an ihr entlang und rannte wieder los, auf das Ende des Geländes zu. Sie erreichte den eingerissenen Drahtzaun, blieb dort heftig atmend stehen. Dann sah sie Miller. Er taumelte ihr vom Nachbargrundstück entgegen und schüttelte den Kopf. Als er sie erreichte, hielt er sich an einem der rostigen Pfeiler fest und starrte sie aus riesigen Augen an. Er hielt sich den Magen und blieb in kerzengerader Haltung, in der er sich ohne Vorwarnung über Mantel und Schuhe erbrach. Er wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. „Du siehst zum Kotzen aus, Evans. ... Er ist weg.“ Miller zitterte am ganzen Körper.
„Die Verstärkung ist da. Sie werden alles abriegeln. Vielleicht kommt er nicht weit. Hast du ihn gesehen?“
Hank zuckte mit den Schultern. „Von weitem. Von hinten. Groß, dunkelblond.“
Sie traten nebeneinander den Rückweg an, Miller hatte Mühe auf den Beinen zu bleiben. „Ist Sands schwer verletzt?“, fragte er mit belegter Stimme.
„Es hat ihn ziemlich übel erwischt.“ Sie erreichten die Hinterseite der vorderen Halle, wo Beverly eine schmale Tür ins Auge fiel. Sie fasste den Griff. Die Tür war unverschlossen. Durch diesen Ausgang musste er geflohen sein. Miller winkte sie zu sich zurück. „Sieh dir das an, Evans.“ Die Pfütze, vor der er stand, schimmerte rot. Hier hatte der Täter anscheinend das Messer, vielleicht auch seine Hände abgewaschen.
„Das ist was für die Spurensicherung“, sagte sie. „Lass uns rüber gehen, Hank, bevor sie uns vermissen.“
Als sie die vordere Halle erreichten, bahnte sich der Notarztwagen gerade einen Weg durch das Gedränge der Presseleute. Sie konnte La Vince von weitem an seinen Haaren erkennen. Er war wohl wieder ganz Ohr gewesen. Das Gelände war jetzt abgesperrt. Unzählige Polizeiwagen waren vor den Hallen positioniert. Beverly sah, dass Whitefields Wagen das Tor passierte. Dann folgte die Luxuskarosse von O’Brian. Sie bemerkte, wie Miller in seiner Manteltasche herumfummelte und etwas herausholen wollte. Augenblicklich griff sie sein Handgelenk und schob seine Hand wieder zurück in den Mantel. „Nicht hier, Miller! Oder willst du morgen als Aufmacher in der London News stehen?“
Erst jetzt schien er den Auflauf von Presse und Polizei zu bemerken. Stanton kam, gefolgt von Henderson, aus der Halle auf sie zu. Er warf einen kurzen Blick auf Millers besudelten Mantel. Dann schaute er hinauf in den Himmel. „Sie befürchten, dass er es nicht mehr bis in die Klinik schafft.“
Beverly wartete, bis er sie wieder ansah. „So ein Schwachsinn. ... Sands ist zäh, natürlich schafft er das.“
Die Sonne hatte sich wieder hinter dichten Wolkenschleiern versteckt. Whitefield ging geduckt und schnellen Schrittes, es sah aus, als würde O’Brian ihn vor sich her treiben. Er stellte sich wortlos zu ihnen in die Runde, doch O’Brian brüllte sie bereits an, während er die letzten drei Schritte tat. „Wie konnte das passieren? Verdammt noch mal!“ Er zog ein Taschentuch aus seiner Jackentasche und wischte sich damit die Nase. Sein Gesicht war beinahe so rot wie das von Allister, die Rötung zog sich bis hinauf zu seiner Stirnglatze. „Das wird Folgen haben.“
Henderson bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
„Das ist wohl nicht der richtige Moment“, warf Beverly ein.
„Halten Sie den Mund, Evans“, blaffte O’Brian. „Wenn es etwas gibt, das ich nicht ausstehen kann, dann sind es Weiber, die sich völlig unqualifiziert einmischen.“
„Wir besprechen die Lage im Yard“, schaltete sich Whitefield ein, „und sie bekommen bis heute Abend von jedem hier einen Bericht über den Einsatz. Dafür werd ich sorgen.“
O’Brian zögerte einen Moment. Dann nickte er zerknirscht. Sein Blick ging in die Runde. Er kratzte sich den Nacken und zog die noch immer gerötete Stirn in Falten.„Jemand muss es seiner Frau sagen.“
Beverly spürte, wie sich alles in ihr zusammenkrampfte. Daran hatte sie überhaupt noch nicht gedacht.
Whitefield blickte zu Boden. Unvermittelt griff er in die Tasche seiner Wildlederjacke und pulte sein Aerosol hervor. Er sprühte zweimal und ließ es wieder verschwinden.
„Whitefield, Sie kennen Sands’ Frau doch.“
Beverly konnte nicht übersehen, wie jegliche Haltung Allisters Körper verließ. Es war noch nie seine Stärke gewesen, schlechte Nachrichten zu überbringen. Und das Wissen darum, wem er nun diese Nachricht bringen musste, ließ ihn nochmals zum Aerosol greifen. „Ja“, sagte er mit heiserer Stimme, drehte sich um und ging schlurfenden Schrittes zu seinem Wagen.
„Das war’s“, verkündete O’Brian beinahe so, als sei nun alles in bester Ordnung. Er stieg in den Fond seines Wagens und sein Gesicht verschwand hinter der getönten Scheibe.
Einen Moment lang standen sie noch zusammen, Patricia, Bill, Hank und Beverly. Sie sahen den beiden Wagen hinterher und setzten sich dann in Bewegung. Miller schlurfte durch eine tiefe Pfütze. Seine Schuhe waren jetzt wieder sauber, aber triefend nass.
„Gebt mir fünfzehn Minuten.“ Beverly hetzte die Treppe hinauf, sie nahm zwei Stufen auf einmal. Sie schlug die Wohnungstür hinter sich zu, warf den Mantel auf die Couch und lief ins Bad. Obwohl sie sich sicher war, dass ihre Kleidung nur noch für die Mülltonne taugte, stopfte sie sie in die Waschmaschine. Unter der Dusche wusch sie hastig das getrocknete Blut vom Körper. Sie zog sich an. Das nasse Haar drehte sie zu einem lockeren Strang und steckte es hoch.
„Was für ein Timing“, raunte Stanton, als sie wieder zu ihm ins Auto stieg. Henderson saß schweigend auf der Rückbank des Wagens.
Als sie den Yard erreichten, wartete Miller im Korridor auf sie. Er hatte seinen Mantel im Auto gelassen, der Rest seiner Kleidung sah passabel aus. Sie zogen sich in Stantons Büro zurück und wärmten ihre Hände an den Kaffeetassen.
„Jetzt mal ganz von vorn“, drängte Beverly, während Patricia noch immer vergeblich versuchte gefasst zu wirken.
„Wir sind rein in die Halle. Das Licht war nicht besonders, das wisst ihr ja selbst. Und dauernd Geräusche, wohl vom Wind. Bis auf einmal. Da hörte es sich an, als wäre jemand gegen eine herumliegende Stange getreten, die dann durch die Gegend rollt. Wir konnten nicht ausmachen, von wo es kam. Es hallte von allen Seiten wieder zurück. Sands ist vorausgegangen. Ich hab ihm von einer Betonsäule aus Deckung gegeben.“ Sie stockte und Beverly spürte, dass Patricia den Tränen nah war. Sie drängte sie nicht zum Weiterreden.
Sie schwiegen, nippten an ihren Kaffeetassen.
„Ich konnte Sands Schattenriss erkennen“, fuhr Henderson nach einer Weile fort, „und dann war jemand hinter ihm. … Mit einem Messer. Ich konnte die Klinge ganz genau sehen, da war eine schmale Luke, das Licht von oben spiegelte sich.“ Henderson schluckte. „Ich wollte rufen, aber Sands hatte sich längst umgedreht und die Waffe auf ihn gerichtet. Sein Gegenüber hätte keine Chance gehabt.“ Sie sah in ihre Kaffeetasse, dann nach draußen. Sie atmete tief durch und sah Beverly an. „Ich weiß nicht, was los war. Sands muss das Messer doch auch gesehen haben. Aber dann hat er die Waffe runter genommen, und der Angreifer hat zugestochen.“ Hendersons Mundwinkel zuckten, als sie in die ungläubigen Gesichter sah. „Es war so!“ Sie begann zu weinen, und Stanton legte seinen Arm um sie. Sie saßen eine Weile reglos da und sahen einander an.
„Hast du deine Brille getragen“, fragte Beverly plötzlich.
„Verdammt ja!“, schrie Patricia heiser „wie kannst du nur so was fragen?“
Beverly hüllte sich in betretenes Schweigen und dachte nach. „Dann gibt es dafür nur eine Erklärung“, schlussfolgerte sie nach einer Weile in die Stille hinein. „Sands muss den Täter gekannt haben.“
Beverly legte den Hörer auf. Sie hatten es geschafft, Sands bis in die Notaufnahme zu bringen. Jetzt kämpften sie dort um sein Leben.
Alle arbeiteten schweigend an ihren Berichten. Je mehr sie in dem kleinen Büro über die Zusammenhänge nachgedacht hatten, umso unlogischer war Beverly das Ganze erschienen. Als Whitefield endlich zurückkam, war es schon spät. Sie hatten ihre Unterlagen bereits zu O’Brian hochgeschickt und nur noch auf ihn gewartet. Er ließ sich geschafft auf einen Stuhl sacken und seufzte.