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Freitag, 15. März

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Beverly hatte mit mäßigem Erfolg die Blessuren vom Vortag mit Make-up überdeckt, sich eine dunkle Sonnenbrille auf die Nase geschoben und eine Tablette gegen die Kopfschmerzen eingeworfen. Sie wartete draußen an der Straße, Sands war auf die Minute pünktlich. Sie ließ sich auf den Beifahrersitz sacken.

„Wie hast du die Nacht überstanden?“, wollte er wissen, und sie lächelte.

„Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Es ging ganz gut.“ Sie schaute nach vorn in den dichten Verkehr, ihr Auto kam ihr in den Sinn. „Kannst du mich zur Werkstatt bringen? Ich muss meinen Wagen abholen.“

„Kann ich.“

Sie lauschte der Rockballade, die im Radio spielte, der gestrige Abend ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie fragte sich, wie viele Frauen vor ihr in die Fänge dieser Straßengang geraten waren. Das, was jetzt gegen diese Jungs vorlag, würde reichen, um sie für eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen. Körperverletzung und versuchte Vergewaltigung, und das gegen eine Mitarbeiterin der Kripo. Außerdem hatte man bei zweien von ihnen Designerdrogen gefunden, mit denen sie eine ganze Schule hätten vergiften können.

„Ich habe bei weitem nicht alle Adressen geschafft, die auf meiner Liste stehen. Seid ihr fertig geworden?“

„Keiner von uns“, antwortete Sands. „Ich denke, dass noch einmal ein ganzer Tag dabei draufgehen wird. Whitefield war nicht gerade angetan, dass die Aktion bislang ergebnislos verlaufen ist.“

„Er bekommt wohl wieder Druck von oben. O’Brian sollte sich mit seiner ständigen Kritik zurückhalten. Es sitzt schließlich keiner untätig in der Gegend rum. Außer O’Brian selbst.“

„Das solltest du besser nicht laut sagen. Er wirft momentan verstärkt ein Auge auf dich, rein dienstlich natürlich.“

Sie schaute Sands überrascht an, war sich aber keiner Schuld bewusst. Sie hatte bislang immer korrekt und gewissenhaft gearbeitet und nie gemault, wenn Überstunden anstanden. Sie hatte, was ihre Dienstzeit beim Yard anging, ein völlig reines Gewissen, wenn man von ihrer Affäre mit Edward absah. Diese Geschichte gehörte aber eindeutig in ihr Privatleben und der Vergangenheit an. Also, was wollte O’Brian von ihr? „Wieso denn das?“

Er lächelte. „Weil ich der Meinung bin, dass wir dein Talent verschwenden. Ich habe O’Brian nahe gelegt, darüber nachzudenken. Anfang nächsten Jahres verlässt Tom Callagher den Yard. Ich habe dich für seinen Posten vorgeschlagen.“

„Als Inspektor? ... Das ist nicht dein Ernst! Ich hab noch nicht einmal vier Dienstjahre beim Yard.“

„Und steckst trotzdem einen Großteil der Kollegen locker in die Tasche.“

Beverly fühlte sich von diesem Gedanken völlig überrumpelt. Der Gedanke daran, welche Möglichkeiten sich ihr dadurch eröffneten, war verlockend. Aber die Vorstellung, sie würde dann nicht mehr mit Sands zusammenarbeiten, war ernüchternd. „Wie viele Bewerber gibt es noch?“

„Drei und Miller.“

Beverly lachte. „Ich wusste gar nicht, dass du so gemein sein kannst.“

„Sieh es einfach sachlich. Wenn Miller sein Alkoholproblem nicht endlich in den Griff bekommt, hat er ohnehin keine Chance.“

Sie seufzte. Sie musste das erst einmal verdauen. Locker bleiben, Evans. Mach dich nicht verrückt. Es bleibt eh alles beim Alten. Mit deinem Engelsgesicht hast du genauso gute Chancen, wie Miller mit seiner Whiskyfahne. Während sie sich mit diesem Gedanken beruhigte, erreichten sie die Werkstatt.

Whitefield war heute wieder besonders übellaunig, er äußerte sich nochmals missbilligend darüber, dass Beverly zum Dienst erschienen war. Jetzt war ihr auch klar, dass er Fleming nicht nur angerufen hatte, weil er sich gesorgt hatte. Vielmehr hatte er wohl gehofft, Fleming könnte sie davon überzeugen, sich doch noch ein paar Tage Erholung zu gönnen. Auch sonst war er unzufrieden. Mit hochrotem Kopf ließ er sich darüber aus, dass sie nicht weiterkamen. Es interessierte ihn auch nicht, dass Sands das ganz anders sah. Whitefield hatte nicht vor, einen weiteren Tag mit der Suche in den Obdachlosenunterkünften zu verschwenden. Er wollte sie alle bereits um vierzehn Uhr wiedersehen, mit komplett abgehakter Liste. Die Stimmung war entsprechend, als sie gemeinsam aufbrachen und sich dann in alle Himmelsrichtungen zerstreuten.


Beverly fuhr zunächst in die Wohngegend, in der ihre Arbeit am Vortag ein unerwartetes Ende gefunden hatte. Als sie den großen Garagenkomplex erreichte, hielt sie an und stieg aus. Dort, wo sie gestern geparkt hatte, waren noch Reste ihres Blutes auf dem Asphalt zu sehen. Sie atmete tief durch und ging auf die Unterführung zu. Die Geräusche der Straße drangen jetzt nur noch entfernt in ihr Bewusstsein. Sie blieb stehen und blickte in die lange düstere Röhre. Du musst es jetzt tun. Sie atmete hörbar aus. Mit einem leichten Anfall von Schwindel betrat sie den Tunnel und durchschritt ihn betont langsam. Nur der leise Hall ihrer eigenen Schritte war zu hören. Sie erreichte das Ende, blickte kurz in den bewölkten Himmel und trat den Rückweg an. Sie erreichte den Parkplatz und spürte sofort, wie erleichtert sie war. Fertig. Da gehst du nie wieder durch! Du gehst nie wieder durch diesen verdammten Tunnel! Gerade weil dieser Gedanke in ihr keimte, tat sie es noch einmal. Sie durchquerte den Tunnel ein zweites Mal. Als sie wieder ins Auto stieg wusste sie, dass dies nur der erste, ein kleiner Schritt gewesen war, um ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden.

Bis zum Mittag hatte sie vierzehn Adressen abgearbeitet. Es ärgerte sie maßlos, dass die meiste Zeit vom dichten Straßenverkehr geschluckt wurde. Wenn sie das Mittagessen ausfallen ließ, würde sie die letzten sechs schaffen, vorausgesetzt, sie geriet in keinen Verkehrsstau. Die Wirkung der Schmerztablette ließ allmählich nach, und sie spülte eine zweite mit Mineralwasser hinunter. Sie warf einen Blick in die Straßenkarte Sie dachte an Sands, der solche Hilfestellungen selten benötigte. Es gab kaum eine Straße in London, die er nicht kannte. Heimvorteil. Er war hier geboren.


Das Haus, vor dem Beverly hielt, wirkte wie ausgestorben. Der Zustand war vergleichbar mit dem von Maggie Hunters Haus. Ein Schild davor kündigte an, dass es demnächst abgerissen und durch ein modernes Appartementhaus ersetzt werden sollte. Das Gelände war mit einem hohen Gitter abgesperrt. Hier befand sich keine Wohlfahrtsorganisation mehr. Sie strich die Adresse und fuhr weiter. Als sie an diesem Tag das letzte Mal ihren Ausweis und das Foto aus der Tasche zog, zeigte ihre Uhr, dass sie es nicht im vorgegebenen Zeitlimit schaffen würde. Es war schon nach vierzehn Uhr und sie würde mindestens zwanzig Minuten für den Rückweg brauchen. Auch hier kannte niemand Timothy St. Williams. Wenn alle anderen genauso erfolglos gewesen waren wie sie, würde Whitefields Stimmung unter den Nullpunkt sinken. Das war für das Arbeitsklima nicht gerade förderlich. Sie seufzte. Die Kopfschmerzen wurden stärker, aber sie wollte nicht schon wieder eine Tablette nehmen. Rote Ampeln. Stau am Kreisel. Grüne Ampeln, an denen man in den Kolonnen erst vorwärts kam, wenn das Licht schon wieder auf rot schaltete. Hupen. Quietschende Bremsen. Sie war froh, als sie den Yard endlich erreichte.


Es war bereits fünfzehn Uhr. Gähnende Leere in ihrer Abteilung. Whitefields Büro war verschlossen. Niemand von den anderen war da. Waren sie noch nicht zurück oder hatte sie jetzt etwas Wesentliches verpasst? Unschlüssig stand sie im Korridor und ließ sich nach einer Weile erschöpft auf die Bank sinken, die an der kahlen Wand stand. Sie hätte sich auf der Stelle hier hinlegen und schlafen können. Der Hunger drehte ihr den Magen um, doch ihr war eher schlecht, als dass sie Appetit verspürte. Die Kopfschmerzen waren so intensiv, dass sie gerade beschloss, noch ein oder zwei Tabletten zu nehmen, als Fleming um die Ecke bog. Er sah sie und setzte sich zu ihr auf die Bank.

„Sie sehen aber gar nicht gut aus.“ Sie zuckte mit den Achseln und schwieg. Wahrscheinlich hat er Recht.

„Es ist ja auch absolut unvernünftig von Ihnen, hier heute schon wieder aufzutauchen. Sie sind überhaupt nicht arbeitsfähig.“

Sie entschied, ihn einfach reden zu lassen.

„Ich kann Sie auch nach Hause fahren.“ Sie schüttelte langsam den Kopf. Es tat weh.

„Ach, ich hatte ganz vergessen. Sie steigen ja nicht mehr in mein Auto. Ich könnte Sie auch in Ihrem Wagen fahren.“

Sie lächelte matt und tippte mit den Fingerspitzen auf ihre Mappe. „Ich kann hier jetzt nicht einfach verschwinden, Fleming. Aber wenn Sie unbedingt etwas für mich tun wollen, dann organisieren Sie mir ein Glas Wasser.“

Er verschwand in Richtung Teeküche. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück. Gedankenfetzen zogen an ihr vorüber. Sie versuchte nicht, sie zu halten. Die kurze Ruhe tat ihr gut. Ein kalter Luftzug ging durch den Korridor, sie öffnete die Augen wieder. Ihre Lider waren bleischwer. Whitefield. „Wo sind die anderen?“, knurrte er.

„Keine Ahnung, ich bin auch gerade erst zurück.“

Er musterte sie. „Irgendwas rausgefunden?“

„Leider nichts.“

„Sie sehen schlimm aus, Evans. Ich will Sie vor Montag hier nicht mehr sehen. Das ist eine Dienstanweisung.“ Er streckte die Hand aus, sie gab ihm die Mappe. Fleming kam mit einem Glas den Flur entlang, er gab es ihr in die Hand. Beverly nahm gleich drei Tabletten und trank das Wasserglas in einem Zug leer. Whitefield schüttelte verständnislos den Kopf. „Fleming, bringen Sie Sergeant Evans nach Hause. Ich will nicht, dass sie in diesem Zustand noch selbst fährt.“ Er drehte sich um und schimpfte im Weggehen. „Die können was erleben, vierzehn Uhr hatte ich gesagt!“

„Kommen Sie, Beverly.“ Sie folgte Fleming durch die Flure, ging schweigend mit ihm die Treppe zum Parkdeck hinunter, registrierte noch, wie seltsam das war, weil sie bislang immer den Aufzug genommen hatte, und stieg kommentarlos in den Roadster. Er steuerte den Wagen aus der Tiefgarage hinein in den dichten Verkehr. Beverly schloss die brennenden Augen. Die Kopfschmerzen wurden schier unerträglich; sie hoffte darauf, dass das Schmerzmittel bald wirken würde. Ihr war schwindlig, ihr Magen rebellierte. „Mir ist speiübel. Halten sie an. Ich kotze Ihnen sonst auf der Stelle in den Wagen.“

Er fuhr an die Seite und hielt. Sie riss die Tür auf, wankte hinaus. Sie erbrach sich augenblicklich in die Grünanlage. Er stieg aus und stützte sie. Dann nestelte er in seiner Manteltasche und reichte ihr ein Taschentuch. Sie wischte sich den Mund ab, lächelte gequält. „War nicht gegen Sie, Fleming.“

Sie blieb einen Moment schwer atmend stehen, weil sie glaubte, es sei noch nicht vorbei. Dann verfrachtete Daniel sie zurück ins Auto, während sie die neugierigen Gesichter der Vorbeifahrenden bemerkte. Den Rest des Weges war sie wie benommen, sie registrierte es nicht einmal, als sie vor ihrem Wohnblock hielten. Er begleitete sie nach oben, denn das Gefühl von Schwindel wurde immer intensiver. Sie wankte, er hakte sie unter. Sie wühlte unkoordiniert nach ihrem Haustürschlüssel, fand ihn endlich und wollte aufschließen. Er verschwamm vor ihren Augen, er zog sich in die Länge und verlief in seltsamen Wellen. Sie starrte das kleine Stückchen Metall ungläubig an, versuchte es mit beiden Händen ins Schloss zu bugsieren, doch plötzlich wurde ihr schwarz vor Augen.

Als Beverly wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett. Die Vorhänge waren zugezogen, schwaches Licht drang ins Zimmer. Die Tür war angelehnt, sie konnte Stimmen hören. Sie wollte sich aufsetzen, aber sie fühlte sich so matt, dass sie nicht einmal die Arme bewegen konnte. Sie versuchte sich zu erinnern. Sie war mit Fleming im Treppenhaus gewesen und irgendetwas hatte mit ihrem Schlüssel nicht gestimmt. Jetzt lag sie nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet im Bett. Und dazwischen? Filmriss. Sie stöhnte und schloss die Augen. Jetzt konnte sie die Stimmen deutlicher hören. Sie wurden lauter, sie kamen in ihre Richtung.

Sie versuchte die Augen wieder zu öffnen. Die Tür ging auf, das Licht aus dem Flur fiel auf ihre Bettdecke. Sie kamen ins Zimmer, Fleming und ein Mann, den sie nie vorher gesehen hatte.

„Wann ist das passiert?“, fragte der Unbekannte während Fleming die Vorhänge aufzog. Beverly schloss die Augen. Das Licht tat ihr weh.

„Gestern Abend, wann genau, weiß ich nicht. Die Kopfwunde wurde genäht. Sie hat bis heute Nachmittag gearbeitet; ich habe sie nach Hause gefahren, weil es ihr nicht gut ging. Unterwegs hat sie sich übergeben, und vor der Tür ist sie dann kollabiert.“

Sie spürte, dass der Unbekannte an ihr Bett trat und sich zu ihr herunterbeugte.

„Miss Evans, ich bin Dr. Webber, können Sie mich verstehen?“

Sie zwang sich, ihn anzusehen und flüsterte ein kaum vernehmbares „Ja“.

Er nahm eine kleine Lampe und versuchte ihr damit in die Augen zu leuchten. „Offen lassen, lassen Sie die Augen offen, Miss Evans.“

Grelles Licht, dann wieder Dunkel.

„Warum ist sie nicht im Krankenhaus geblieben?“

„Keine Ahnung. Ich nehme an, sie wollte nicht.“

„Unvernünftig, sehr unvernünftig. ... Sie hat eine Gehirnerschütterung. Zwei, drei Tage strikte Bettruhe. Ich werde jetzt noch etwas spritzen, um den Kreislauf zu stabilisieren.“ Sie spürte die Latexhandschuhe an ihrer Haut, kaltes Sprühen, den Einstich. Sie fühlte sich so elend, dass sie alles über sich hätte ergehen lassen, nur um endlich wieder in Ruhe gelassen zu werden. Sie schaffte einen letzten Blick durch ihre Wimpern und sah, wie Fleming die Vorhänge wieder zuzog. Dann schlief sie ein.

Es war dunkel. Durch den Türspalt war Licht zu sehen. Beverly setzte sich vorsichtig auf. Die Kopfschmerzen waren erträglicher geworden, aber ihr Mund war trocken und klebrig wie Haferschleim. Sie rutschte aus dem Bett, ging durch den hellen Flur und das Wohnzimmer in Richtung Küche. Sie blieb kurz stehen. Auf der Couch lag etwas, das dort nicht hingehörte. Ein Psychologe. Er war in ihre Wolldecke eingewickelt und schlief. Sie betrachtete sein friedliches Gesicht und das zerzauste Haar. Schlafend gefiel er ihr beinahe noch besser. Sie riss sich von dem Anblick los und ging an den Kühlschrank. Sie trank ein Glas Mineralwasser, schraubte die Flasche zu und nahm sie mit. Völlig erschöpft kroch sie wieder ins Bett. Sie hatte bereits vergessen, dass Fleming in ihrem Wohnzimmer lag. Sie rollte sich zusammen und schlief wieder ein.

Morde zwischen Rhein und Themse

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