Читать книгу Morde zwischen Rhein und Themse - Peter Splitt - Страница 7
Mittwoch, 6. März
ОглавлениеDie Nacht war nicht lang gewesen. Trotz ihrer überwältigenden Müdigkeit hatte Beverly kaum Schlaf gefunden. Als sie in ihrer kleinen Wohnung im Norden Croydons aufwachte, war der Fall sofort wieder präsent, und jeder Gedanke drehte sich um die Anhaltspunkte, die sie am Vorabend von Helen Fuller erfahren hatte. Die Zeugin hatte von einem Mann gesprochen, der sich bei Sheila Moreno im Gästezimmer eingenistet hatte. Diese Aussage hatte bei allen zunächst Irritationen ausgelöst, denn der Raum hatte völlig unbewohnt gewirkt. Dann waren sie zu dem Schluss gekommen, wer auch immer sich dort aufgehalten hatte, war mit Morenos Tod verschwunden und hatte sich Mühe gegeben, seine Spuren zu verwischen. Dennoch waren brauchbare Fingerabdrücke gefunden worden, die nicht der Hausherrin selbst gehörten. War der Unbekannte auch der Mörder?
Beverly verließ ihre Wohnung ohne Frühstück. Es war noch dunkel. Schwerer Nebel lag in der Luft. Sie war früh dran, der Verkehr lief trotz der Sichtverhältnisse noch fließend. Sie nahm die A 23 in Richtung City und erreichte den nördlich der Themse gelegenen Teil Zentral-Londons über die Vauxhall Bridge. Heute wird der Mordfall auf der Titelseite der Times und in den Lokalblättern erscheinen. Hoffentlich finden auch brauchbare Hinweise den Weg in den Yard.
Die Stimmung in Whitefields Büro war an diesem Morgen mehr als gedrückt, so als stecke jedem plötzlich wieder der Fall Laurie Hardin in den Knochen und jeder verdammte Tag, an dem sie daran gearbeitet, sich daran aufgerieben hatten. Dann gesellte sich Sergeant Hank Miller zu ihnen, er legte die Füße betont locker auf den Schreibtisch. Er ließ sich einen Zigarillo schmecken, blies dabei den Rauch in kunstvollen Kringeln in die stickige Luft und sagte: „Hays wäre beinahe explodiert. Ob er nicht schon genug Arbeit am Hals hätte, auch ohne meinen Mist. Ihr glaubt nicht, wie er gekocht hat.“ Miller grinste über das ganze, gerötete Gesicht, doch niemand schien seine Freude zu teilen. „Wo bleibt Whitefield“, mäkelte er und zupfte an seinem dunklen Schnauzbart, „ich habe heute eigentlich meinen freien Tag. Aber was tut man nicht alles für den Job. Dabei hab ich gerade heute ´ne Verabredung mit ner besonders scharfen Maus. ... Morgen kommt meine Alte von ihrem Beauty-Trip nach Hause. Dann stehen die Chancen wieder schlecht.“
„Er bespricht noch einige Details mit Dr. Morrow, anschließend kommt er hierher.“ Inspector Harold Sands beantwortete die Frage, ohne auf Millers Geplänkel einzugehen. Er hatte die Hände in den Hosentaschen seines Anzugs vergraben und sah aus dem Fenster.
Im Gegensatz zu Miller war er kein schwatzhafter Typ. Wenn er sprach, dann über die Arbeit. Niemals hatte auch nur einer der Kollegen ihn über private Probleme reden hören. Sands verzichtete auf zweideutige Seitenhiebe selbst in Situationen, in denen er allen Grund dazu hatte. Beverly schätzte seine respektvolle Art im Umgang mit Kollegen, bei der Befragung von Zeugen und der Vernehmung von Tatverdächtigen. Er konnte unnachgiebig und hart sein, aber er war immer gradlinig und fair. In der ersten Zeit beim Yard war sie ihm zugeteilt gewesen, sie hätte keinen besseren Mentor als Harold Sands haben können. Er hatte weder mit Lob, noch mit konstruktiver Kritik gespart. Er hatte ihr ihre Leistungen immer ehrlich zurückgespiegelt, und so hatte sie gelernt, ihr Potenzial und ihre Grenzen realistisch einzuschätzen.
„Beverly, frag doch mal nach, wo er bleibt“, drängelte Miller, während er auf die Uhr sah. Er drückte seinen Zigarillo aus und wippte nervös mit einem Fuß.
„Ich bin nicht dein Lakai.“ Blöder Affe. Beverly verdrehte die Augen. „Wenn dir schon jetzt jede Minute zuviel ist, könnten wir besser auf deine Mitarbeit verzichten.“
„Mach dich nicht wichtiger, als du bist Evans“, schnaubte Miller, „ es hat dich ja...“
„Beverly ist wichtig für das Team, genau wie Sie“, unterbrach sie Sands gelassen, mit ruhiger Stimme, während er sich zu ihnen umdrehte, „wir sollten unsere Zusammenarbeit nicht durch überflüssige Auseinandersetzungen belasten.“
„Der heilige Harold“, Miller zog spöttisch die Augenbrauen hoch und bekreuzigte sich, „immer ein bisschen edler als wir. Herrgott, wo bleibt Whitefield?“
Dieser Mistkerl von Hank! Jedem muss er seine gehässigen Seitenhiebe mitgeben. Beverly öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch in diesem Moment lächelte Sands ihr beschwichtigend zu. Sie wusste, was er meinte: „Es lohnt sich nicht.“ Er durchschaute sie mit einer Treffsicherheit, die ihr fast unheimlich war. Dennoch genoss sie das Gefühl, dass er ihre innersten Beweggründe zu kennen schien. Manchmal redete sie sich eine Art Seelenverwandtschaft ein, weil auch sie ihn verstand, ohne Fragen stellen zu müssen. Oft überkam sie die Furcht, sich völlig an ihn zu verlieren. Sie wusste um ihre Schwäche, doch sie würde einen solchen Fehler nicht noch einmal begehen. Sands war verheiratet.
„Ah, Miller, doch schon da.“ Whitefield hatte die Tür in einem Schwung aufgezogen, war dann einen Schritt zurückgewichen, um einer jungen, elegant gekleideten Frau den Vortritt zu lassen. Er räusperte sich. „Das ist Sergeant Patricia Henderson. Bislang uniformierte Polizei Liverpool, ab heute Scotland Yard. Wir sind komplett.“
Miller öffnete den Mund, und Beverly schwante, was er sagen würde, doch Whitefield kam ihm zuvor.
„Ja, sie ist ein Frischling. Ihr werdet sie schon einarbeiten. Das ist Inspektor Harold Sands, halten Sie sich an ihn, Henderson.“
Harold gab ihr die Hand und lächelte sie an. „Freut mich, Sie kennen zu lernen, Miss Henderson. Ich denke, wir werden gut zusammenarbeiten.“
„Das denke ich auch“, hauchte sie, als hätte sie gerade ihr erstes Rendezvous.
Beverly beobachtete die Wirkung, die Sands bloßes Vorhandensein auf dieses langbeinige, hellblonde Gift mit den stahlblauen Augen und glänzend roten Lippen ausübte. Kaum zu glauben, wie sie ihn anschmachtet. Aber die schöne Patricia Henderson wird sich an Harold die Zähne ausbeißen, da bin ich mir sicher.
„Das ist Sergeant Bill Stanton, unser Mann für alle Fälle und Unfälle am Computer.“
„Ja, ha-hallo“, stotterte er.
Miller grinste. Auch Beverly war es nicht entgangen, dass Bill seit dem Erscheinen der neuen Kollegin den Mund nicht mehr richtig zubekam. Sie fragte sich, was er jetzt wohl im Stillen kombinierte.
„Tja Billy, die ist ’ne Nummer zu groß für dich“, dröhnte Miller, „bei der hast du keine Chance.“
„Sergeant Beverly Evans. Die Frau ist hart im Nehmen“, fuhr Whitefield, unbeeindruckt von Hanks Benehmen, fort. „Sie schießt wie ein Kerl.”
Beverly hatte nicht gerade die Gabe, mit derlei Äußerungen gut umgehen zu können. Sie lächelte kurz und kämpfte dann gegen die aufsteigende Röte.
„Sie trifft alles“, ergänzte Whitefield, „im Gehen, im Stehen und im Liegen.“
„Ja, besonders im Liegen“, grinste Miller höhnisch.
„Und das ist Sergeant Hank Miller. Überhören Sie einfach seine Sprüche.“ Whitefield hustete heiser bevor er fortfuhr. „Er ist halt so.“
Hank nahm die Füße vom Tisch, stand auf, ging auf die neue Kollegin zu und blieb dicht, für Beverlys Geschmack zu dicht, vor ihr stehen. „Wenn Sie heute Abend noch ein Gläschen mit mir trinken gehen, dann läuft die Sache. Das hängt eigentlich nur von Ihnen ab.“ Er lächelte ölig. Als er ihr die Hand reichte war ihre reservierte Körperhaltung unübersehbar.
„Das wird sich zeigen“, antwortete sie kühl.
Whitefield räusperte sich gedehnt und setzte sich hinter seinen zugepackten Schreibtisch.
„Zum Fall! Wir haben zwei Tote: Laurie Hardin am 15.August 1989 und Sheila Moreno am 05. März 1991, also fast zwanzig Monate später.“
Stanton heftete Fotos der beiden Toten an die Pinwand. Irgendwie hatte Beverly völlig vergessen, wie Laurie Hardin ausgesehen hatte, doch jetzt stand ihr plötzlich nicht nur das Gesicht wieder klar vor Augen. Sie erinnerte sich an die helle, in weiß und grün eingerichtete Wohnung, auch an den imposanten weißen Flügel der Anwältin.
Whitefield griff einen Block, auf dem einige in seiner unleserlichen Schrift gemachte Notizen standen, die an japanische Schriftzeichen erinnerten. „Beide ohne Anhang, aber mit Klavier. Beide auf die gleiche Weise gequält und ermordet. Mit altem chirurgischem Faden dilettantisch genäht. Es wurde nichts gestohlen. In beiden Fällen sah das Gästezimmer unbewohnt aus. Die Zeugin im Fall Sheila Moreno hat aber von einem Dauergast gesprochen, männlich, dunkelblond, gutaussehend und gepflegt. Habe ich die groben Details?“ Whitefield sah mit zusammengekniffenen Augen in die Runde der Ermittler.
„In beiden Fällen war die Presse ärgerlicherweise vor uns da“, ergänzte Beverly, „wir sollten auch dieser Sache nachgehen. Diese Typen machen eine Menge kaputt.“
„Wie gehen wir vor? Gibt es Hinweise?“, brummte Whitefield ungeduldig.
„Wir sind bei Laurie Hardin von einem Einzelfall ausgegangen“, begann Sands. „Nach Sheila Morenos Tod ist klar, dass es sich um einen Serientäter handelt. Wir müssen also davon ausgehen, dass es noch mehr Opfer geben könnte. Da der Fall bereits an die Öffentlichkeit gedrungen ist, haben wir inzwischen eine Reihe von Anrufen erhalten. Einer dieser Anrufe könnte uns auf eine entscheidende Spur bringen. Er kam aus Birmingham, von einem Polizeirevier: ein Mordfall nach fast genau dem gleichen Muster. Die Ermordete war allerdings verheiratet.“
„ Passt also nicht in unsere Schablone“, winkte Miller ab und steckte den nächsten Zigarillo an: „Wann war denn das?“
„Der Tatzeitpunkt lag im Sommer 1965. Mehr weiß ich zur Zeit noch nicht“, antwortete Sands.
„Ja klasse“, prustete Hank Miller los und verzog sein Gesicht zu einer peinlichen Grimasse, „das ist ja nur schlappe sechsundzwanzig Jahre her. Das ist ja der Hammer, ich glaube, ich bin im falschen Film!“
Inspektor Sands schien durch Hanks Auftreten weder beeindruckt noch verunsichert. „Wenn es sich nicht um den gleichen Täter handelt, so könnte ein Nachahmungstäter den alten Fall aus Birmingham kennen“, ergänzte er. „Ich habe das Gefühl, das wir dieser Sache nachgehen sollten.“
Whitefield strich sich mit den Fingern ums Kinn und kniff die Augen zusammen. Dann erhob er sich, ging ein paar Schritte, warf einen Blick auf die Fotos, räusperte sich dabei. „Könnte was dran sein, Harold“, er nickte zustimmend. „Sie fahren mit Henderson nach Birmingham. Ich will Details. Nehmen Sie den alten Fall auseinander. Mieten Sie sich notfalls ein Zimmer, falls es länger dauern sollte.“
„Mieten Sie sich notfalls ein Doppelzimmer, lassen Sie ja nichts anbrennen, Inspektor“, spöttelte Miller gedämpft, doch Beverly konnte ihn hören. Sie betrachtete ihn. Er konnte ein seltsames Gemisch aus Wut und Eifersucht in seiner Miene nur schwer unterdrücken: „Lassen Sie sich Zeit mit den alten Kamellen“, rutsche es ihm überlaut heraus.
„Wie schnell können Sie packen“, fragte Sands, an Patricia gewandt, und schob einige Unterlagen in seine Mappe. Millers Unverschämtheit schien er schlichtweg zu ignorieren.
„Sechzig Minuten, dann können wir los.“ Sie griff nach ihrer Jacke. „Ach, Sergeant Miller. Aus unserer Verabredung heute Abend wird dann wohl nichts. Tut mir leid.“ Sie lächelte ihn mit ehrlicher Genugtuung an, bevor sie Harold Sands in den Korridor folgte.
„Weiter“, Allister spielte mit einem Bleistift, deutete dann mit der Spitze in Millers Richtung. „Miller, finden Sie raus, wer bei der Presse Wind von der Sache gekriegt hat.“
„Was ist mit meinem freien Tag?“ murrte er genervt.
„Gestrichen. … Evans, Sie fahren zum Tatort. Benutzen Sie mal ihren sechsten Sinn. … Stanton, Sie halten die Stellung. Filtern Sie alle Hinweise.“
Bill Stanton grinste. „Alle Hinweise in Sachen Nadelmörder aussortieren, die von Kurzwarengeschäften kommen.“
„Halten Sie mich auf dem Laufenden“, legte Whitefield nach.
„Presse, zum Kotzen. Ich kann wieder die Drecksarbeit machen“, zischte Miller. „Jedes Mal kann ich diesen Mist machen aber irgendwann ist Schluss.“ Er erhob sich, verließ das Büro und schlug die Tür gut hörbar hinter sich zu.
„Das wär’s.“ Der Superintendent setzte sich und legte eine Handvoll Unterlagen auf den schon seitlich geneigten Stapel. „Stanton, Sie bleiben noch.“ Whitefield winkte ihn zu sich und nickte Beverly zu. Sie war froh, das verrauchte Büro verlassen zu können. Irgendwann schieb ich dir deine stinkenden Zigarillos sonst wo hin, Miller.
Beverly folgte dem Korridor in Richtung Treppenhaus. Dort stand eine Gruppe von Leuten, die sich, wie war es anders zu erwarten, um Hank Miller scharte. Es waren mehrere junge Kollegen einer anderen Abteilung, die Beverly nur vom Sehen kannte. Jung und unerfahren, auch was Miller anging. Er redete, gestikulierte und lachte ungeniert. Er schien schon wieder bei bester Laune. Beverly ging auf die Runde zu, und als der Name Sands fiel, blieb sie wie beiläufig stehen.
„Wie lange arbeitet Sands jetzt schon beim Yard? Und hat irgendjemand je seine Frau gesehen? Whitefield vielleicht. Aber der ist ja auch kein Maßstab. Sands hat nicht einmal ein Bild von ihr auf dem Schreibtisch. Ich sag euch was, Jungs. Seine Alte ist so grottenhässlich, dass er sie im Keller versteckt.“ Miller grinste über das ganze Gesicht.
„Du bist ein Mistkerl“, konstatiere Beverly, „ du kannst es nicht ertragen, dass Sands mit Henderson nach Birmingham fährt.“
„Darüber solltest du dir lieber Gedanken machen, Evans.“
„Es liegt wohl an deiner schleppenden Karriere, dass du ständig geistlose Geschichten über ihn verbreitest.“
„Ach, Beverly, unsere rote Hexe. Hängst dich ja wieder mächtig weit für ihn aus dem Fenster. Aber was soll’s, es weiß hier ohnehin jeder, dass du scharf auf ihn bist. Schlechte Karten für dich, Schätzchen. Ab heute vögelt er Blondie.“
„Du solltest zur Abwechslung mal dein Hirn anschalten, Miller.“ Idiot! Sie schob sich an der kleinen Gruppe vorbei, Richtung Ausgang.
„Fühl dich nicht so sicher Evans, ich weiß mehr über deine kleinen Affären, als du denkst“, giftete er ihr hinterher.
Das saß. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Beverly hatte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Sie ging mit raschen Schritten weiter zur Tür. Als sie das Schnappen des Schlosses hinter sich hörte, sog sie die kalte feuchte Luft tief in sich ein.
Er blufft nur. Er kann nichts wissen. Niemand beim Yard hatte irgendetwas von ihrer Beziehung zu Edward mitbekommen. ...es sei denn, er selbst hätte...? Nein, er hatte mit Sicherheit zu niemandem etwas gesagt, schon gar nicht zu Miller. Er und Miller waren sich immer aus dem Weg gegangen, außerdem war dieser Dreckskerl ja für sein loses Mundwerk bekannt. Wenn du willst, dass alle in Windeseile Bescheid wissen, so sag’s Miller im Vertrauen. ... In einem Punkt jedoch hatte Miller Recht. Außer Whitefield kannte niemand Sands Ehefrau.
Im Tageslicht wirkte das Haus größer, als sie es in Erinnerung hatte. Beverly entfernte das Siegel und betrat den Flur. Sie streifte die Handschuhe über und stieg die schmale Treppe hinauf. Sie ging noch einmal in das Gästezimmer, öffnete das Fenster. Von hier oben hatte sie einen guten Blick auf die schmale Straße. Der kleine Fußweg am Rande der Lichtung entlang hätte ihr die nassen Füße vom Vortag ersparen können, sie hatte ihn gestern nicht bemerkt. Die Gehwegplatten aus gebrochenem Marmor hatten durch die feuchte Witterung Grün angesetzt. Sie führten in einem kleinen Bogen auf das Haus zu. Beverly wandte sich wieder dem Innern des Hauses zu. Das kleine Zimmer war mit hellen Möbeln aus Kiefernholz eingerichtet. Sie öffnete den leeren Schrank, schaute in die Frisierkommode, danach unter das Bett. Sie zog die Schubladen aus dem kleinen Wäscheschrank ganz heraus, aber es war nichts dahinter gefallen. Sie stieg auf das Bett, um auf den Schrank zu sehen. Nichts. Sie trat zurück in den Flur. Das Bad neben dem Schlafraum war aufgeräumt und sauber. Ein paar frische Handtücher lagen akkurat gefaltet auf dem Rand der Wanne. Ein angenehmer Geruch schwebte im Raum. Beverly hätte ihr altes Auto darauf verwettet, dass es ein Herrenduft war, der ihre Nase kitzelte. Sie schraubte die Flasche mit der Badelotion auf. Fliederduft stieg ihr in die Nase, stark und blumig. Nein, das war es nicht. Sie durchsuchte die Schränkchen nach Herrenparfüm, wurde aber nicht fündig.
Sie verließ das kleine Bad und stieg die schmale Treppe hinunter. Wenn es etwas gab, das die Spurensicherung übersehen hatte, dann würde sie es wohl auch nicht finden.
Im Wohnzimmer hing der Geruch des erloschenen Kamins. Auf einem Schränkchen standen Fotos. Auf zweien war eine Gruppe von Kindern zu sehen, eines zeigte drei Frauen vor einer alten Kirche, und auf einem weiteren Bild saß ein greises Paar auf einer Bank in einem blühenden Garten. Beverly öffnete die Rahmen. Hinter den Bildrücken verbarg sich nichts. Sie ging in den Nebenraum, zog unschlüssig mehrere Bücher aus dem Regal und fand ein Fotoalbum: Sheila Moreno’s Urlaubsfotos: Strand, Landschaft, Wasser, Felsen, an denen sich die Wellen brachen, keine Menschen, kein gutaussehender dunkelblonder Mann. Sie legte das Album beiseite und betrat wieder das Kaminzimmer. Sie berührte die Tasten des Klaviers, ohne ihnen einen Ton zu entlocken. Die Kälte der glatten Oberfläche, die durch das dünne Latex ihrer Handschuhe drang, ließ sie erschauern. Was hatte der Mörder gewollt? Es war das Motiv, das fehlte. Warum hatte er Sheila Moreno auf so bestialische Weise umgebracht? Er hatte nichts entwendet, er hatte nichts im Haus zerstört, er hatte sie nicht vergewaltigt. Was um alles in der Welt hatte er gewollt? Liebte er das Töten oder war sein Geist krank und zwang ihn dazu? Passte Sheila Moreno in sein Bild von Frauen, die er ausmerzen musste, oder folgte er einer irrealen Wahnvorstellung, die sie zu einer Gefahr gemacht hatte? Beverly setzte sich auf den dicken Teppich. Sie ließ den Raum auf sich wirken, die Farben, den Duft, die Stille. Alles war so harmonisch, und doch schwang jetzt das Grauen mit, das nicht hierher passte. Das Klavier, was hatte ein Klavier mit einem zugenähten Mund zu tun? Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Ihr ganzes Denken war blockiert, ihr Kopf schmerzte. Was um alles in der Welt ... was hatte er bezweckt?
Beverly fuhr in Richtung Stadtmitte. Blechlawinen drängten sich durch die Straßen. Sie hatte schon wieder vergessen, in der Werkstatt anzurufen. Dieses hustende Geräusch, das der Wagen hin und wieder von sich gab, konnte nicht normal sein. Nein, wirklich nicht. Irgendwann bleibst du mit deiner Schrottkarre liegen. Sie bog in die nächste Straße ein. Sands und Henderson waren vermutlich noch unterwegs. Sie nahmen die M 1 an Northampton vorbei. Wie lange fuhr man nach Birmingham? Sicherlich geschlagene zwei Stunden. Beverly war nie dort gewesen. Ein Fall aus dem Jahr 1965. Miller konnte sagen, was er wollte, aber Sands hatte immer ein untrügliches Gespür für brauchbare Hinweise. Wenn er glaubte, dass es eine Verbindung geben könnte, dann war das fast schon sicher.
Sie fuhr auf das Parkdeck. Es war schwierig, einen freien Platz zu finden. Sie erhaschte eine Lücke, aus der gerade jemand herausfuhr. Als sie das Kaufhaus betrat, wurde sie von seichter Musik eingelullt. Das Gedränge der Menschen nervte sie. Auf den Rolltreppen standen sie dicht an dicht. Mein Gott, gibt es denn nichts Wichtigeres, als sich mit diesem ganzen Krempel zu bepacken?
Die Parfümerieabteilung lag im dritten Stock. Die Menschen schoben sich durch die Regalreihen. Beverly steuerte auf die Herrendüfte zu und ergriff die Erstbesten. Sie probierte ein paar auf der Innenseite ihrer Unterarme. Ihre Nase war nach wenigen Proben duftblind. Sie ließ sich ein paar Blättchen mit den Herrenparfüms besprühen, jedes einzeln in Folie verpacken, beschriftete sie mit einem Kürzel und steckte sie sorgsam getrennt in ihre Handtasche. Den seltsamen Blick der Verkäuferin hielt sie dabei problemlos aus. Im Ausgangsbereich kaufte sie sich ein Sandwich. Während sie im Aufzug zum Parkdeck stand, wurde ihr durch die peinlich berührten Blicke bewusst, dass sie wie ein parfümierter Iltis stank.
„Warst du im Puff?“ waren Millers erste Worte, als Beverly das Büro betrat. Er war zurück und hatte bereits eine Verhaftung vorgenommen. Er hing selbstgefällig hinter ihrem Schreibtisch, die Füße hochgelegt, der Dunst von Whisky schwebte in der Luft. „Dieser Adrian La Vince hat den Polizeifunk abgehört, dafür wette ich. Ich hab ihm mit einer Verhaftung gedroht, falls er es nicht zugibt. Er hat es nicht zugegeben, also hab’ ich die Pfeife verhaftet. ... Ich kenne diesen Typen. Ständig knipst er rum, wo er nichts zu suchen hat, und schreibt dummes Zeug. Und jetzt tut er so, als wenn er von nichts wüsste. Dem würde ich am liebsten seine lose Reporterfresse polieren.“
„Soll ich es mal versuchen?“
„Ihm die Fresse zu polieren?“
„Ihn zu befragen“, seufzte Beverly.
„Wenn du deine Zeit damit verschwenden willst. Er ist unten. Aber lass dich nicht von diesem kleinen Schleimer einwickeln. Ist ’ne ganz fiese Sorte, sag ich dir.“
Der Reporter saß im Verhörzimmer und betrachtete anscheinend amüsiert das vergitterte Kellerfenster. Er grinste, als Beverly den Raum betrat.
„Ich bin Sergeant Beverly Evans.“ Sie setzte sich an den Tisch ihm gegenüber. Er war höchstens fünfundzwanzig Jahre alt. Seine leicht gebräunte Haut und das Profil seines Gesichts verrieten, dass südländisches Blut in seinen Adern floss. Sein schwarzes langes Haar hatte er im Nacken zu einem Zopf gebunden. Mit seinen ausdrucksstarken, flackernden Augen musterte er sie.
„Ich bin Adrian La Vince, Mitarbeiter bei der London News. Ich würde jetzt gern wieder gehen. Ich hab’ noch zu tun. Sie haben übrigens ganz fantastische Sommersprossen.“
„Ich möchte gleich zur Sache kommen. Sie sind hier, weil Sie im Verdacht stehen, den Polizeifunk abgehört zu haben. Dadurch behindern Sie unsere Arbeit. Was haben Sie dazu zu sagen?“
„Bis in die Gemäuer von Scotland Yard hatte ich es bislang noch nicht geschafft. Ich hab’s mir in der Victoria Street allerdings aufregender vorgestellt. War ein bisschen enttäuscht. Aber Sie machen das wieder wett. Ich wusste gar nicht, dass es hier so hinreißende Sergeants gibt. Allerdings“, er zögerte einen Moment, „Sie sollten ein anderes Parfüm benutzen.“ Er lachte. „Ich würde trotzdem gern heute Abend mit Ihnen essen gehen.“
Keine Chance, Bürschchen.
„Zur Sache, La Vince. Äußern Sie sich bitte zu den Vorwürfen.“
„Was wollen Sie denn hören?“ Er lächelte.
„Die Wahrheit.“
„Mit der Wahrheit ist das immer so eine Sache. Dann würde ich doch gern vorher meinen Anwalt sprechen. Bitte foltern Sie mich nicht.“ Er machte ein dermaßen eingeschüchtertes Gesicht, dass sie sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Sie sah kurz auf ihren Notizblock, um es zu verbergen.
„Mister La Vince. Wir ermitteln in einem Mordfall. Wir müssen wissen, wer die Presse informiert hat, um ausschließen zu können, dass es der Täter selbst war.“
„Was würde das ändern?“
„Das könnte eine ganze Menge ändern. Es könnte den Ermittlungsansatz ändern oder auch das Täterprofil.“
„Warum geht eine Frau wie Sie zur Polizei?“
„Das steht hier nicht zur Diskussion.“
„Sie sind echt Wahnsinn. Ich mag rothaarige Frauen. Wenn Sie mit mir ausgehen verrate ich Ihnen...“
„Ich lasse mich nicht erpressen.“
La Vince schien anscheinend zu glauben, dass er mit ein bisschen gespieltem Charme auf jede Frau unwiderstehlich wirkte. Er schien tatsächlich dem Trugschluss zu unterliegen, dass er dadurch den Verlauf dieser Befragung steuern konnte.
„Dieser fiese Kerl von vorhin, macht der Ihnen Druck? Ist Ihre Karriere beendet, wenn Sie keine Aussage von mir bekommen?“
„Dieser Kerl ist Sergeant Miller, und er ist nicht mein Vorgesetzter. ... Können wir jetzt weitermachen, es geht hier um einen Mord. Ich habe keine Lust auf Spielchen.“
„Ich würde sehr gern noch ein bisschen mit Ihnen spielen, Sergeant Evans.“
Sie erhob sich. „Mr. La Vince. Sie zeigen sich in keiner Weise kooperativ. Damit wäre das Verhör jetzt beendet. Sergeant Miller wird Sie gegen Abend noch einmal befragen. So lange haben Sie doch Zeit?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie zur Tür, sah sich noch einmal kurz um. Der fröhlich beherrschte Ausdruck fiel ihm aus dem Gesicht. „Warten Sie, Sergeant“, sagte er hastig.
Na also!
La Vince lehnte sich vor. Sie setzte sich wieder.
„Gut. Ich sag Ihnen, was Sie wissen wollen, und Sie lassen mich gehen, okay?“
„Es kommt ganz darauf an, ob ich mit dem zufrieden bin, was Sie mir jetzt auftischen.“ Sie lehnte sich zurück.
„Ich habe den Funk nicht abgehört, und das ist die Wahrheit. Wir bekommen hin und wieder anonyme Tipps von einem Typen, der sich Das Ohr nennt. Er macht auf völlig anonym, niemand kennt ihn persönlich. Er hört den Polizeifunk ab. Er lässt sich seine Informationen gut bezahlen. Das Geld geht immer an ein Schließfach. Fragen Sie mich also nicht, wie er heißt oder wo er wohnt. Ich weiß es wirklich nicht. Meine Kollegen Clark und Darryl können das bestätigen. ... Reicht das für Ihre Ermittlungen?“
Sie schrieb sich ein paar Notizen auf ihren Block und wandte sich ihm wieder zu. „War das auch beim Mordfall Laurie Hardin so?“
Er schien einen Moment lang nachzudenken. „Ja, auch da hatten wir die Information von ihm.“
„Danke, Mister La Vince. Warum nicht gleich so. Ich werde die Formalitäten erledigen und schicke dann jemanden, der Sie hier herauslässt.“
„Okay, und dann gehen Sie mit mir essen?“
„Warum hast du ihn gehen lassen?“ Millers Gesicht war puterrot, sein Schnauzbart zitterte.
„La Vince hat seine Aussage gemacht, ich glaube ihm, außerdem hat Whitefield zugestimmt. Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, ich würde ihn ohne Rücksprache hier herausspazieren lassen?“
„Ich kaufe diesem Typen nichts von dem ab, was er dir da aufgebunden hat. Der lügt doch schon, bevor er den Mund aufmacht. Hast dem Latino wohl zu tief in die Augen geguckt. So geht das nicht, Beverly. Ich reiß mir doch nicht den Arsch auf und schlepp den Typen an, damit du ihn wieder gehen lässt. Weißt du, was du tust? Du untergräbst meine Arbeit.“
„Hank, seine Aussage war glaubhaft. Es gab keinen Grund, ihn hier weiter festzuhalten. Du lässt dich manchmal einfach zu sehr von deinen Antipathien leiten.“
„Ach ja? Und wovon, bitteschön, lässt du dich leiten, Evans? Von deinen Hormonen?“
„Das will ich jetzt überhört haben.“ Sie sah ihn wütend an und unterdrückte den Impuls, ihm ins Gesicht zu schlagen. „Sieh es doch mal so, Hank: Ohne dich hätten wir seine Aussage nicht. Du hattest den richtigen Riecher. Du hast ihn schließlich hierher gebracht.“
Sergeant Bill Stanton war vollauf beschäftigt. Er hatte einen chaotischen Zettelberg auf einem Stuhl, einen weiteren auf dem Boden und einen dritten auf dem Tisch von Whitefields Büro gestapelt. Die Pinwand war mindestens mit drei Lagen überfrachtet. Beverly bemerkte eine rot umrandete Notiz, die separat auf dem Schreibtisch lag. Stanton nahm sie in die Hand.
„Was hast du da?“
„Merkwürdige Geschichte. Liegt genau wie der Fall in Birmingham etliche Jahre zurück, genau gesagt, es ist noch länger her. Es war ein anonymer Anruf. Wahrscheinlich ein älterer Mann. Er hat uns eine Adresse in West Bromwich gegeben. Angeblich hat ein Junge damals eine Tat begangen, die ihn an unseren Fall erinnert. Mehr wollte er nicht sagen.“
„Glaubst du, es ist ein ernst zu nehmender Hinweis?“, forschte Beverly.
„Das denke ich schon“, bestätigte Stanton.
„West Bromwich liegt in der Nähe von Birmingham“, kommentierte Allister, der mit der Hand auf die Fensterbank gestützt die Landkarte an der Wand anschaute. „Die Sache wird heiß, muss irgendwas dran sein. Ich hab Inspektor Sands angerufen. Die Tote in Birmingham hieß Carla Harwood. Er und Henderson stecken bis über beide Ohren in den alten Polizeiakten. Sie brauchen noch ein, zwei Tage. Wir wollen keine Zeit verlieren. Sie, Miller und Evans werden den Fall in West Bromwich überprüfen. Sie fahren sofort, dann können Sie morgen früh gleich loslegen. Sie steigen im Cityhotel in West Bromwich ab.“
Beverly atmete tief durch. Nicht das! Eine Dienstreise mit Hank, genau das hatte ihr jetzt gefehlt. Sie konnte sich nicht entsinnen, ihn jemals sympathisch gefunden zu haben. Von Anfang an hatte sie sich durch sein ungehobeltes Benehmen, die abfällige Art, über Frauen zu reden, besonders über die eigene Ehefrau, und sein cholerisches Temperament abgestoßen gefühlt. Es störte sie, wie unsensibel er mit Zeugen umsprang, dass er Verdächtige im Verhör zynisch und herablassend behandelte. Miller machte Arthur Hays das Leben schwer, der nun wirklich ein harmloser, netter Kerl war, er hatte auch gegen Edward immer gestichelt. Er hasste Harold Sands, der im Yard einen tadellosen Ruf besaß und den Rang eines Inspektors bekleidete, der eigentlich ihm, so glaubte Hank, zugestanden hätte. Er war in letzter Zeit stets hinter den Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden, zurückgeblieben. Er trank zu viel. Ständig provozierte er irgendwelche Streitereien. Was hatte Whitefield nur dazu bewogen, diesen Mann wieder mit ins Team zu nehmen?
Beverly spürte die Müdigkeit in allen Knochen. Sie hätte auf dem Beifahrersitz augenblicklich einschlafen können, wenn ihr Instinkt ihr nicht befohlen hätte, wach zu bleiben. Sie starrte nach vorn auf die Strasse und fragte sich, ob Miller sie beide umbringen wollte. Sein Fahrstil passte zu seinem Charakter, unterschwellig aggressiv und betont rücksichtslos. Sie hätte die Einladung von Adrian La Vince annehmen sollen, nur um dieser Höllenfahrt zu entgehen. Der Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe, und Miller stierte aus dem Wagen, als sei er auf der Jagd. Hin und wieder zuckte sein Mund, als wolle er etwas sagen, manchmal entfuhr ihm ein Schimpfwort. Er drehte das Radio aus. „Was findet ihr Weiber eigentlich an Sands, diesem Waschlappen?“
Sands? Er ist der Mann meiner Träume. Er ist der Mann meiner Albträume. Wie oft hatte Beverly schon geglaubt, Scotland Yard verlassen zu müssen, weil sie seine Nähe nicht ertrug, weil sie nicht ertrug, dass er nur ein Kollege für sie war, dass er verheiratet war. Es kostete so viel Kraft, alle Gefühle zu unterdrücken, die sie für ihn hegte. War es nicht diese unerfüllte Sehnsucht gewesen, die sie damals in Edwards Arme getrieben hatte? Hatte sie nicht immer nur Harold Sands gewollt?
„Ihr lasst euch immer von Äußerlichkeiten blenden. Immer nur die schicke Schale. Da setzt es dann völlig aus. Da fehlt den Frauen was am Hirn“, höhnte Miller.
Beverly stöhnte. Sollte sie jetzt auf diesen Blödsinn reagieren? Sie fühlte sich viel zu erschlagen, um noch in einen verbalen Zweikampf zu ziehen. Halt doch einfach die Klappe, Miller.
„Frauen sind genau deshalb auch für den Polizeidienst nicht geeignet. Sie sehen einfach nicht, was hinter der Fassade steckt. Dazu sind sie einfach zu blöd. Manchmal glaube ich, sie lassen sich ganz gern verarschen. Edward war genau so ein Typ wie Sands, aalglatt und ständig hinter jedem Rock her. Aber keins der Weiber hat gemerkt, dass der gute Ed drei Bräute gleichzeitig beglückt hat.“
Miller, du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir diesen Schwachsinn abkaufe? Sie würde einfach weghören. Diese Unverschämtheiten! Wie konnte er so über einen toten Kollegen reden?
„Na ja, umsonst stirbt man nicht schon mit dreißig am Infarkt. Der gute Edward. Hinterlässt eine lustige Witwe, einen Stall voller Kinder und drei trauernde Geliebte. Du hast es auch nicht gerafft, Evans.“
Sie sah ihn völlig entnervt an. Im Profil seines Gesichtes erkannte sie Häme.
„Ich hab euch Turteltauben vor einer Ewigkeit in einem Hauseingang rumknutschen sehen. Hab ’nen Kumpel in der Hackney Street abgeholt. ... Na ja, turteln ist nicht ganz das richtige Wort. Die Szene war eindeutig. So wie Edward an dir rumgefummelt hat. Er war spitz wie ein Straßenköter. Ich dachte, er reißt dir noch auf der Straße die Klamotten vom Leib. Brad und ich haben ’ne Weile zugesehen. War schon schwer, sich von dem Anblick loszureißen. Mein Gott, war das scharf.“
Beverly glaubte, ihr würde schlecht, unwillkürlich griff sie sich an den Mund.
„Glaubst du im Ernst, dass du die einzige warst, mit der er ins Bett gestiegen ist? Der war doch hinter jeder Braut her, die nicht bei drei auf ’nem Baum saß. Geschieht dir ganz recht. Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall, Evans.“
Das Hotel war nicht einmal Mittelklasse, aber es machte einen sauberen Eindruck. Sie wurden freundlich empfangen. Beverly wollte jetzt nichts sehnlicher als allein sein, und Miller wünschte ihr süße Träume, bevor er an die Bar ging.
Sie lag auf dem breiten Bett, ein Glas Wein auf dem Nachtschränkchen, sah an die Decke und fragte sich ernsthaft, warum sie jetzt über Millers Geschwafel nachdachte. Sie hatte sich doch geschworen, ja, Beverly, das hast du, nichts mehr auf sein Gerede zu geben. Er lästerte ständig über alles und jeden. Er hatte immer irgendeine peinliche Geschichte auf Lager. Nur jetzt gab es da einen kleinen Unterschied. Nun war klar, dass Miller über ihre Affäre mit Edward Bescheid wusste. Sie kannte ihn nur zu gut, um zu wissen, was passieren würde. Er würde sie nicht in Ruhe lassen. Er würde ihr ständig damit auf die Pelle rücken. Es gab jedoch einen Gedanken, der sie trotzdem beruhigte. Auch wenn Miller auf die Idee kommen sollte auszupacken, wer würde ihm die Geschichte abkaufen? Er hatte seinen speziellen Ruf. Er war der Gerüchtekoch des Yard. Niemand würde seinen Geschichten Glauben schenken. Also spar deine Kraft und reg dich bloß nicht über diesen Mist auf, morgen wird ein anstrengender Tag.