Читать книгу 15 Jahre länger leben - Prof. Dr. med. Bernd Kleine-Gunk - Страница 5
ОглавлениеDAS HORMESIS-PRINZIP (1)
DOSIS UND WIRKUNG
Für das Versagen von hochdosierten Vitaminsupplementen bei oxidativem Stress, das sich in vielen Studien gezeigt hat, gibt es noch eine andere Erklärung, die sich auf das Prinzip Hormesis beruft.
WAS UNS NICHT TÖTET …
Das Hormesis-Prinzip, das in den Biowissenschaften erst vor wenigen Jahren entdeckt wurde, gewinnt seitdem zunehmend an Bedeutung. Durch dieses Buch wird es sich wie ein roter Faden ziehen, deshalb hier vorab eine kurze Erklärung.
Auch wenn es ähnlich klingt: Hormesis hat nichts zu tun mit Hormonen. Mit den Botenstoffen unseres Körpers hat Hormesis lediglich den altgriechischen Wortstamm gemeinsam (hormān = antreiben, erregen). Was hinter dem Begriff Hormesis steckt, lässt sich vielleicht am besten in einem Satz zusammenfassen, der zunächst paradox erscheint: Vieles, was für uns schädlich ist, ist gut für uns. Es kommt auf die Dosis an. Auf den ersten Blick erscheint das wenig einleuchtend. Es ist auch mit unserem traditionellen Denken schwer vereinbar. Das nämlich bevorzugt klare Einteilungen. Etwas ist entweder gut oder schlecht, gesund oder ungesund, nützlich oder schädlich. Wie sollte etwas für unsere Gesundheit gut sein, wenn es uns schadet?
Die Erklärung für dieses scheinbare Paradox liegt in der Komplexität unseres Organismus. Der ist dann eben doch mehr als eine Maschine, die durch längeren Gebrauch zunehmend verschleißt. Seit Denham Harman, dem US-amerikanischen Biogerontologen (1916 – 2014), wissen wir: Freie Radikale lassen nicht nur Metalle rosten oder die Butter ranzig werden. Sie schädigen auch biologische Organismen. Das ist weiterhin richtig. Es bedarf allerdings einer Ergänzung: Im Gegensatz zu Metallen und Butter verfügen biologische Organismen über die wichtige Fähigkeit, auf Schädigungen zu reagieren. Alle Lebewesen – das gilt von der Bäckerhefe bis zum Homo sapiens – besitzen die Fähigkeit zur Selbstreparatur. Mehr noch: Werden sie wiederholten Schädigungen ausgesetzt, so entwickeln sie spezifische Schutz- und Abwehrmechanismen. Diese Mechanismen reparieren nicht nur die entstandenen Schäden. Sie bereiten den Körper auch darauf vor, sich vor künftigen Schäden zu schützen. Von der Reparaturmedizin zur Präventivmedizin! Im ärztlichen Bereich vollziehen wir diese Wende gerade erst. Jede einzelne Körperzelle praktiziert das aber schon seit Langem.
HORMESIS UND DIE FREIEN RADIKALE
Was bedeutet das Ganze nun für unseren konkreten Fall, die Oxidation? Was hat Hormesis zu tun mit der fehlenden Wirkung von Vitamintabletten? Der Zusammenhang ist relativ einfach, hat man das Prinzip erst einmal verstanden. Freie Radikale schädigen unseren Organismus auf einer molekularen Ebene. Allerdings hat unser Organismus darauf auch eine »Schadensantwort« parat. Als Reaktion auf den oxidativen Stress fährt er seine eigenen antioxidativen Enzymsysteme hoch. Die haben wir bereits kennengelernt: Glutathionperoxidase, Superoxiddismutase, Katalasen (siehe >). Ganz offensichtlich sind diese körpereigenen antioxidativen Enzymsysteme ein sehr viel besserer Schutz gegen freie Radikale als von außen zugeführte antioxidativ wirkende Vitamine. Werden diese Vitamine dann auch noch ständig oder in überhöhten Dosen verabreicht, so unterbleibt die »hormetische Antwort« unseres Körpers. Der fehlende Stress durch freie Radikale bewirkt, dass die antioxidativen Enzymsysteme nicht mehr stimuliert werden und damit ineffizient bleiben. Langfristig erweisen wir unserem Körper damit einen Bärendienst.
Ist das nicht alles paradox?
Wenn dem tatsächlich so ist, dann stellt sich natürlich eine andere Frage. Warum sind Gemüse und Obst gesund? Die sind ja schließlich auch voller Vitamine!
Der Gedankengang ist durchaus richtig. Zum einen enthalten Früchte und Gemüsesorten diese Vitamine aber nicht in überhöhten Dosen und nicht als Einzelsubstanzen. Zum anderen sind es nach neuesten Erkenntnissen auch gar nicht in erster Linie die Vitamine, die Obst und Gemüse gesund machen. Es sind die sogenannten sekundären Pflanzenstoffe. Womit wir schon bei der nächsten Frage wären: Gelten diese Pflanzenstoffe nicht auch als Antioxidanzien? Werden sie nicht sogar als Radikalenfänger beworben, die noch weit effektiver sind als die bekannten antioxidativen Vitamine? Auch hier gilt es, altbekannte »Wahrheiten« über Bord zu werfen. Viele der wirksamsten und für uns wichtigsten sekundären Pflanzenstoffe sind eigentlich keine Schutzstoffe, sondern Gifte. Es sind chemische Kampfstoffe der Pflanze. Gesund daran ist nicht der Stoff selbst. Gesund daran ist die Reaktion unseres Organismus auf diese Substanz. Wir werden darauf noch ausführlicher eingehen. Für den Augenblick sollte es genügen, das Prinzip Hormesis in seinen Grundzügen verstanden zu haben: Vieles von dem, was uns in hohen Dosen schadet, ist in niedrigen Dosierungen nützlich. Das ist damit zu erklären, dass es in unserem Organismus eine »gesunde Antwort« hervorruft.
Letztlich knüpft diese neue Erkenntnis an jahrhundertealtes Wissen an. »Die Dosis macht das Gift« lautet der berühmteste Satz des Arztes Paracelsus, der im 16. Jahrhundert die Grundlagen der modernen Pharmakologie schuf. Dinge, die prinzipiell für uns nützlich sind, werden irgendwann einmal schädlich, wenn man ihre Dosierung nur immer weiter erhöht. Das kennen wir von jedem Medikament. In hohen Konzentrationen wird irgendwann jedes Heilmittel zum Gift. Das Prinzip Hormesis lehrt uns im 21. Jahrhundert, dass auch der Umkehrschluss richtig ist: In niedrigen Dosierungen können auch Gifte zu Heilmitteln werden, indem sie heilsame Prozesse vorantreiben.