Читать книгу 15 Jahre länger leben - Prof. Dr. med. Bernd Kleine-Gunk - Страница 6
ОглавлениеGLYKOSYLIERUNG: SÜSSER KLEBSTOFF
Zu viel Zucker macht uns krank und alt – er geht nämlich mit Proteinen eine verhängnisvolle Bindung ein.
Haben Sie schon einmal auf dem Jahrmarkt Zuckerwatte gegessen? Dann wissen Sie, wie es sich anfühlt, wenn man sich das Zeug – wie es bei Zuckerwatte ja geradezu unvermeidlich ist – ins Gesicht, an die Finger oder im schlimmsten Fall ans lange Haar schmiert. Es ist sehr, sehr klebrig. Das gilt auch für alle anderen übermäßig gesüßten Produkte, seien es zuckrige Bonbons oder Limonaden. Die Chemie bestätigt, was Jahrmarktbesucher erleben: Zucker ist nicht nur ein Brennstoff, er ist auch ein Klebstoff. Das gilt ebenso auf der molekularen Ebene. Zucker hat die Fähigkeit, Proteine miteinander zu verkleben. Und zwar so, dass diese Verbindungen nicht mehr gelöst werden können, was die Funktion dieser Proteine nachhaltig beeinträchtigt. Nichts anderes steckt hinter dem Begriff der Glykosylierung.
In dieser Weise »verzuckerte« Proteine nennt man mit einem englischen Begriff Advanced Glycation Endproducts – Endprodukte fortgeschrittener Glykosylierung, abgekürzt AGE.
SCHÄDLICHE FOLGEN DES »SÜSSEN LEBENS«
Dass Zucker uns alt und krank macht, können wir jeden Tag an Millionen von Menschen beobachten. Allein in Deutschland gibt es mehr als acht Millionen Zuckerkranke – Menschen, die an einem Diabetes Typ 2 leiden. Wird bei diesen Diabetikern ihre Stoffwechselkrankheit nicht gut eingestellt (in Bezug auf Medikation, Ernährung und Bewegung), so haben sie nicht nur eine deutlich verkürzte Lebenserwartung. Sie entwickeln auch eine ganze Reihe von Komplikationen, die Folge der oben beschriebenen Glykosylierungsprozesse sind. So verhärten sich etwa die Proteine in den Gefäßwänden (Kollagen und Elastin), was zu Hochdruck und Durchblutungsstörungen führt. Schlecht durchblutete Gewebe heilen auch nur sehr schlecht. Das ist der Grund, warum das »offene Bein« mit einem chronisch infizierten Geschwür zu den gefürchtetsten Folgen eines fortgeschrittenen Diabetes zählt. Auch am Auge führen die Glykosylierungsprozesse zu Komplikationen. Hier werden vor allem in der Augenlinse die Proteine durch den Zucker verklebt. Das wiederum macht diese Eiweiße für oxidative Schädigungen empfindlich. Die Folge ist ein grauer Star (Katarakt), der bei Diabetikern ebenfalls eine typische Komplikation darstellt.
Nun muss man allerdings kein Diabetiker sein, um unter Glykosylierungsprozessen zu leiden. Die finden nämlich durchaus auch bei Stoffwechselgesunden statt. Mit der Folge, dass der gesamte Organismus altert. Unsere neuzeitliche Ernährung trägt zu dieser Art von Altern erheblich bei. Denn sie enthält, verglichen zu früheren Zeiten, eine Unmenge an dem Alt- und Krankmacher Zucker. Man muss gar nicht, wie es zurzeit Mode ist, bis in die Steinzeit zurückgehen, um festzustellen, dass unsere Altvorderen diesbezüglich weniger Probleme hatten. Noch im Mittelalter war Honig nahezu die einzige Substanz, mit der man intensiv süßen konnte, und Honig war ein seltenes Gut. Erst mit der industriellen Gewinnung von Zucker aus Zuckerrüben in Europa und aus Zuckerrohr in Südamerika wurde Zucker ein billiges, weitverbreitetes Alltagsprodukt. Seither bestimmt er immer mehr unseren Speiseplan. Was uns kurzfristig das Leben versüßt, stellt sich langfristig als einer der schwerwiegendsten Alterungsfaktoren heraus. Das gilt auch für die rasch zu Glukose abgebauten Kohlenhydrate in Weißmehlprodukten.
VON DER KÜCHE INS LABOR
Dass sich Glukose und Proteine miteinander zu starren Strukturen verbinden, ist in der Medizin eine relativ junge Erkenntnis. In der Kochkunst nutzt man dieses Phänomen dagegen seit Langem: Wenn beim Brotbacken oder beim Zubereiten eines Bratens im Ofen eine köstlich knusprige Oberfläche entsteht, verbinden sich ebenfalls Zucker mit Eiweiß, was ganz neue Texturen schafft. Dies ist Küchenprofis als »Maillard-Reaktion« bekannt.
Machen Sie doch gleich mal ein kleines wissenschaftliches Experiment: Kauen Sie eine alte Brotkruste intensiv für etwas mehr als eine halbe Minute. Sie werden sehen, dass der Geschmack allmählich immer süßer wird. Der Grund: Durch das mechanische Zerkleinern beim Kauen und durch bestimmte Enzyme im Speichel wird der Zucker wieder aus seiner Eiweißverbindung gelöst. Die Forschung arbeitet intensiv an Substanzen, die Gleiches auf schonende Weise auch in unserem Körper vollbringen und damit Alterungsprozessen entgegenwirken. Der Arbeitstitel für diesen Anti-Aging-Ansatz lautet »AGE Breaker«.
METFORMIN, DAS NEUE ANTI-AGING-WUNDERMITTEL?
Diabetiker müssen nicht nur bestimmte Ernährungsregeln einhalten, in vielen Fällen müssen sie auch zusätzlich Medikamente nehmen. Ein seit Jahrzehnten bekanntes und bewährtes Medikament ist Metformin. Es gehört zur Substanzgruppe der Biguanide, die vor allem die Glukoseneubildung in der Leber hemmen. Seit einigen Jahren erlebt es eine zweite Karriere als Hoffnungsträger der Anti-Aging-Medizin. In einer Reihe von Tierversuchen konnte Metformin seine lebensverlängernde Wirkung unter Beweis stellen. Aufsehen erregten aber vor allem Studien an Menschen. In deren Rahmen zeigte sich, dass Diabetiker, welche auf Metformin eingestellt waren, nicht nur länger lebten als andere Diabetiker. Sie lebten auch länger als Menschen, die gar keinen Diabetes hatten.
Die Daten waren derart überzeugend, dass die amerikanische Zulassungsbehörde FDA im Jahr 2015 erstmals eine Studie genehmigte, die für die Anti-Aging-Medizin eine neue Epoche einläutete. TAME – Targeting Aging with Metformin – soll untersuchen, ob Metformin tatsächlich Alterungsprozesse hemmt und das Leben verlängert. Das Sensationelle an dieser Studie ist, dass erstmals ein Medikament rein auf seine Anti-Aging-Wirkung hin untersucht wird. Bisher hatten sowohl amerikanische als auch europäische Zulassungsbehörden solche Studien strikt abgelehnt.
Was Metformin über die gegenwärtige Studienlage hinaus als Anti-Aging-Medikament prädestiniert, ist auch die Tatsache, dass es bereits seit Jahrzehnten bekannt und erprobt ist. Die Nebenwirkungen bestehen zumeist lediglich in einem leichten Unwohlsein im Magen-Darm-Bereich, sie treten jedoch fast ausschließlich bei hohen Dosierungen auf, die bei Diabetes erforderlich sind (Tagesdosis im Durchschnitt 2000 mg, für Anti-Aging-Zwecke reichen zweimal 500 mg täglich zu den Mahlzeiten). Das Medikament ist verschreibungspflichtig.
Schlüsselhormon Insulin
Bei der Glykosylierung von Eiweißen hört die negative Wirkung des Zuckers nicht auf. Bekanntermaßen nimmt Zucker auch Einfluss auf das Körpergewicht und auf die hormonelle Situation. Vor allem fördert Zucker die Insulinsekretion. Jeder Anstieg von Zucker im Blut ruft in der Bauchspeicheldrüse eine Insulinantwort hervor. Das Insulin sorgt als eine Art Schlüssel dafür, dass der Zucker dahin kommt, wo er gebraucht wird, allem voran die Muskelzellen mit ihrem hohen Energiebedarf. Permanent erhöhte Blutzuckerspiegel führen dazu, dass die Bauchspeicheldrüse auf Hochtouren Insulin produziert. Dies wiederum hat zur Folge, dass die Insulinrezeptoren an den Zellen allmählich abstumpfen. Es kommt zur Ausbildung einer Insulinresistenz. Die Bauchspeicheldrüse weiß darauf nun keine andere Antwort, als noch mehr Insulin auszuschütten. Ein Teufelskreis entsteht: Zu viel Insulin führt zu einer Insulinresistenz. Die Insulinresistenz bewirkt die Ausschüttung von noch mehr Insulin.
Statt in die Muskelzellen wird die Glukose nun hauptsächlich in die Fettzellen eingeschleust, die leider keine Resistenzen gegen das Insulin entwickeln. Dort wird die Glukose in Fettsäuren umgewandelt und gespeichert, und dies häufig für lange Zeit. Denn Insulin schleust nicht nur Zucker in die Fettzellen ein. Es sorgt auch dafür, dass die Energie dort möglichst dauerhaft gespeichert wird. Insulin hemmt wie kein anderes Hormon die Lipolyse, also den Fettabbau.
Die Folge dieser Prozesse kennen wir alle: Übergewicht, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes, Bluthochdruck. Seit den 1990er-Jahren hat sich für dieses sogenannte tödliche Quartett der Begriff des metabolischen Syndroms eingebürgert (Metabolismus = Stoffwechsel). Die gemeinsame Ursache aller Komponenten des metabolischen Syndroms sind dabei die Insulinresistenz und die Hyperinsulinämie – hierbei werden aufgrund der Insulinresistenz der Zellen immer größere Mengen von Insulin von der Bauchspeicheldrüse ausgeschüttet. Letztlich hervorgerufen werden sie durch eine permanente Blutzuckererhöhung. Das süße Leben hat bittere Folgen.
Wie messen?
Glykosylierungsprozesse im Organismus lassen sich durch Laboruntersuchungen recht einfach erfassen.
Am Anfang steht dabei die Messung des Blutzuckers (Glukose) im nüchternen Zustand.
Normalwert Nüchternglukose: 70 bis 100 mg / dl
Ein differenzierteres Bild erlaubt der orale Glukose-Belastungstest (oGT). Hierbei wird nach Messung des Nüchternblutzuckers eine standardisierte Zuckerlösung getrunken. Nach einer und noch einmal nach zwei Stunden wird wieder der Blutzucker gemessen. Die nach diesem Schema gemessenen Werte sind ein gutes Maß für die Fähigkeit des Körpers, auf unterschiedliche Glukosebelastungen zu reagieren.
Normalwert Nüchternblutzucker: < 100 mg / dl
Normalwert nach einer Stunde:< 140 mg / dl
Normalwert nach zwei Stunden:< 120 mg / dl
Ein weiterer wichtiger Wert ist der HbA1c. Er misst die Verzuckerung des Hämoglobinmoleküls und erfasst somit im Nachhinein die durchschnittlichen Zuckerspiegel während der letzten zwei bis drei Monate. Der Test wird hauptsächlich bei Diabetikern eingesetzt, um zu überprüfen, ob die Zuckererkrankung richtig eingestellt ist. Er erlaubt aber auch ganz allgemein eine Aussage über Glykosylierungsprozesse im Körper. Letztlich ist HbA1c selbst ein AGE-Protein (siehe >), nämlich die glykosilierte Form des roten Blutfarbstoffes Hämoglobin, der seinerseits ein Eiweiß ist.
Normwert: 5 bis 7 Prozent
Um festzustellen, ob aus permanent erhöhten Blutzuckerspiegeln bereits eine Insulinresistenz folgt, misst man das Proinsulin.
Normwert: < 11 pmol / l
Wie therapieren?
Nach allem, was wir in diesem Kapitel erfahren haben, ist die Therapie von Glykosylierungsprozessen im Körper recht einfach. Die Lösung lautet: Zucker reduzieren. Das gilt nicht nur für das Süßen von Tee oder Kaffee oder für Gummibärchen und Limonaden. Das gilt generell für Nahrungsmittel mit einem hohen Kohlenhydratanteil, also zum Beispiel auch für Brot, Gebäck oder Nudeln. Besonders gefährlich sind dabei Produkte mit einfachen Kohlenhydraten, welche schnell ins Blut gehen und eine sofortige Insulinantwort hervorrufen. Unproblematischer sind dagegen die komplexen Kohlenhydrate, die vor allem in Gemüse und Vollkornprodukten vorkommen. Diese Kohlenhydrate muss der Körper zunächst in einzelne Glukosemoleküle aufspalten. Der Blutzuckeranstieg erfolgt daher nur langsam, die gefährlichen Blutzuckerspitzen werden vermieden.
Um die guten (komplexen) von den schlechten (einfachen) Kohlenhydraten zu unterscheiden, hat sich der glykämische Index (GI) bewährt. Er ist ein Maß für den durch ein Nahrungsmittel hervorgerufenen Blutzuckeranstieg und die durch den Zuckeranstieg hervorgerufene Insulinantwort. Bevorzugt werden sollten grundsätzlich Nahrungsmittel mit einem niedrigen glykämischen Index wie Gemüse, Vollkornprodukte, Nüsse, Samen, Fleisch und Käse.
Es gibt inzwischen auch eine ganze Reihe von Diäten, die auf dem Prinzip der Auswahl von Lebensmitteln mit einem möglichst niedrigen glykämischen Index beruhen. Mit solchen Diäten lässt sich nicht nur effektiv Gewicht reduzieren. Sie sind – im Hinblick auf das Phänomen der Glykosylierung – auch unter Anti-Aging-Aspekten nachhaltig zu empfehlen. Die im deutschsprachigen Raum bekannteste derartige Low-Carb-Diät ist sicherlich die GLYX-Diät von Marion Grillparzer (siehe >).
FREUNDE KOMMEN UND GEHEN, FEINDE SAMMELN SICH AN.
THOMAS JONES (1756 – 1807)