Читать книгу Dem Leben vertrauen - Rachel Naomi Remen - Страница 12
ОглавлениеStille
Als junges Mädchen leistete ich in den Ferien einen freiwilligen Dienst in einem Altenpflegeheim ab. Der Job begann mit einem zweiwöchigen Intensivkurs über den Umgang mit alten Leuten. Offenbar musste dabei jede Menge beachtet werden, und was sich anließ wie ein Teenagersommer, in dem ich mich in Nächstenliebe üben wollte, entpuppte sich schnell als reglementierte Beschäftigung, für die Techniken und Fachkenntnisse erforderlich waren, nach denen das Pflegepersonal mich beurteilen würde. Vor dem Tag, an dem ich zum ersten Mal mit einem Patienten in Kontakt kommen sollte, war mir ziemlich bange.
Meine erste Aufgabe bestand darin, eine 96-jährige Frau, die seit über einem Jahr nicht mehr gesprochen hatte, zu besuchen. Ein Psychiater hatte senile Demenz diagnostiziert, aber auf eine medikamentöse Behandlung hatte sie nicht angesprochen. Die Krankenschwestern bezweifelten, dass sie mit mir reden würde, hofften aber, dass ich sie zu einer gemeinsamen Beschäftigung anregen könnte. Man gab mir einen großen Korb voller Glasperlen in den verschiedensten Größen und Farben. Wir sollten zusammen Perlen auffädeln. Nach einer Stunde sollte ich im Stationszimmer Bericht erstatten.
Ich wollte diese Patientin nicht sehen. Ihr hohes Alter machte mir angst, und das Wort „Dementia senilis“ ließ vermuten, dass sie nicht nur viel älter war als alle Menschen, die mir je begegnet waren, sondern überdies schwachsinnig. Erfüllt von bösen Vorahnungen, klopfte ich an ihre geschlossene Zimmertür. Es kam keine Antwort. Als ich die Tür öffnete, befand ich mich in einem kleinen Raum, der von einem einzelnen, der Morgensonne zugewandten Fenster erhellt wurde. Vor das Fenster hatte man zwei Stühle gestellt, und in einem davon saß die uralte Lady und schaute hinaus. Der andere Stuhl war frei. Ich blieb eine Weile an der Tür stehen, doch sie nahm meine Anwesenheit gar nicht zur Kenntnis. Unsicher, was ich als Nächstes tun sollte, ging ich zu dem freien Stuhl und setzte mich, den Korb mit den Perlen stellte ich mir auf den Schoß. Sie schien nicht einmal mein Kommen bemerkt zu haben.
Eine Weile lang zerbrach ich mir den Kopf, wie ich ein Gespräch in Gang bringen könnte. Ich war damals ungeheuer schüchtern, und unter anderem deshalb hatten mir meine Eltern nahegelegt, den Job anzunehmen. Auch unter weniger schwierigen Bedingungen wäre es also eine harte Zeit geworden. Die Stille im Raum war vollkommen. Jede Äußerung schien unangebracht, dennoch wollte ich meine Aufgabe unbedingt erfolgreich erledigen. Ich überlegte hin und her und verwarf dann alle Konversationshilfen, die man uns in der Ausbildung empfohlen hatte. Keine davon schien anwendbar. Die alte Frau blickte weiterhin zum Fenster, hielt ihr Gesicht halb von mir abgewandt und atmete leise. Schließlich gab ich auf und blieb mit dem Korb voller Glasperlen auf dem Schoß eine geschlagene Stunde einfach sitzen. Es war sehr friedlich.
Die Stille wurde schließlich durch eine kleine Glocke unterbrochen, die das Ende der morgendlichen Beschäftigungsstunde anzeigte. Ich packte meinen Korb und wollte gehen. Aber ich war erst vierzehn, und die Neugier überkam mich. Ich wandte mich an die alte Frau und fragte: „Wohin schauen Sie eigentlich?“ Ich errötete sofort. Es war strikt verboten, die Nase in das Leben der Heimbewohner zu stecken. Vielleicht hatte sie es ja nicht gehört. Anscheinend aber doch. Langsam drehte sie sich zu mir um, und ich sah zum ersten Mal ihr Gesicht. Es strahlte. Mit einer von Freude erfüllten Stimme sagte sie: „Nun, mein Kind, ich schaue zum Licht.“
Viele Jahre später, als ich bereits Kinderärztin war, bemerkte ich, dass der Blick von Neugeborenen zum Licht denselben entzückten Ausdruck hat, fast so, als würden sie auf etwas lauschen. Zum Glück war mir damals im Altenpflegeheim nichts eingefallen, um die Stille zu unterbrechen.
Eine 96-jährige Frau hört möglicherweise zu sprechen auf, weil Arteriosklerose ihr Gehirn zerstört hat oder weil sie an einer Psychose leidet und nicht mehr fähig ist, sich zu artikulieren. Es kann aber auch sein, dass sie sich in einen Raum zwischen der inneren und der äußeren Welt zurückzieht, um zu sinnieren, was als Nächstes kommt, und geduldig darauf zu warten, dass es ihr gelingt, das Licht einzufangen.
Der Zufall hatte mich zu ihr geführt oder vielleicht die Gnade. Ich habe mich oft gefragt, was geschehen wäre, wenn ich als technisch hoch qualifizierte Ärztin, die ich in Kürze sein würde, an ihre Tür geklopft hätte. Sicher hätte ich dann nicht den Weg zu ihr gefunden, hätte nicht einfach mit ihr zusammensitzen können und hätte nichts über die absolute Stille und das Vertrauen ins Leben von ihr gelernt. Jetzt, viele Jahre später, hoffe ich, es zu können.