Читать книгу Dem Leben vertrauen - Rachel Naomi Remen - Страница 24

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Die Babyküsserin

Als Assistenzärztin in der Pädiatrie war ich eine heimliche Babyküsserin. Das war so eklatant „unprofessionell“, dass ich darauf achtete, nicht erwischt zu werden. Spätabends machte ich unter dem Vorwand, einen Verband oder eine Infusion zu überprüfen, oft allein die Runde auf der Station und gab den Babys einen Gutenachtkuss. Hatten sie ein Lieblingsspielzeug oder ein Schmusetuch, achtete ich darauf, dass es in ihrer Nähe lag, und wenn eines der Kinder weinte, sang ich ihm manchmal sogar eine Weile vor. Über diesen Aspekt meiner Pflegetätigkeit verlor ich nie ein Wort. Ich hatte die Befürchtung, dass mich die anderen Assistenzärzte, vorwiegend Männer, dafür verachten würden.

Eines Abends, als ich auf dem Korridor mit dem Vater eines Patienten sprach, sah ich, wie Stan, mein Chef, über das Bettchen eines kleinen leukämiekranken Mädchens gebeugt stand und es auf die Stirn küsste. In dem Moment wurde mir klar, dass auch andere sich bemühten, mehr als nur professionell zu sein und Mitgefühl zu zeigen. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, darüber zu sprechen, um einander zu stärken.

Eines Nachts, kurz bevor man uns in den OP zu einem Kaiserschnitt rief, erzählte ich Stan, was ich gesehen hatte und dass es von großer Bedeutung für mich gewesen sei. Obwohl wir im Bereitschaftszimmer allein waren, leugnete Stan das Ganze.

Verlegen ließen wir das Thema fallen. Den Rest des Jahres arbeiteten wir zusammen, immer im Turnus von sechsunddreißig Stunden Bereitschaftsdienst und zwölf Stunden frei. Wir lernten uns gut kennen, tranken sogar gelegentlich freundschaftlich ein Gläschen zusammen, erwähnten jedoch diesen Vorfall nie mehr.

Stans Integrität war nahezu legendär. Er hätte niemals einen Laborwert gefälscht oder behauptet, einen Artikel gelesen zu haben, den er gar nicht kannte. Aber zuzugeben, wie er sich dem kleinen Mädchen gegenüber verhalten hatte, hätte für ihn einen gewaltigen Imageverlust bedeutet. Mitgefühl zu zeigen war damals unmöglich und ist auch heute nicht opportun, denn es verstößt gegen einen starren Berufskodex und widerspricht ganz einfach professionellem Verhalten. Sechsunddreißig Stunden am Stück zu arbeiten oder noch spätabends medizinische Fachliteratur zu lesen und sich über neue Behandlungsmethoden Gedanken zu machen wurde hingegen von uns erwartet. Ich habe schließlich aufgehört, Babys zu küssen. Es stand einfach zu viel für mich auf dem Spiel.

In gewisser Weise ist das Medizinstudium selbst eine Art Krankheit. Es dauerte Jahre, bis ich mich völlig davon erholt hatte.

Dem Leben vertrauen

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