Читать книгу Dem Leben vertrauen - Rachel Naomi Remen - Страница 6

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VORWORT

Mein Großvater hat mich schon sehr früh und auf eine Art, die einem Sokrates entsprochen hätte, dazu angehalten, nach der Wahrheit zu suchen. In Großvaters Welt, die von einem immanenten und persönlichen Gott bewohnt wurde, verlebte ich den einen Teil meiner Kindheit. Er war ein ernster und gelehrter Mann und schon ziemlich alt, als ich geboren wurde – ein orthodoxer Rabbi, der den größten Teil seiner Zeit damit verbrachte, die Texte des mystischen Judaismus zu lesen. Die Bücher der Kabbala, die er aus Russland mitgebracht hatte, waren alt und in hebräischer Sprache mit der Hand auf sehr dünnes Papier geschrieben. Als kleines Kind saß ich unter dem Tisch, an dem er sie las, streichelte seine purpurroten Samtpantoffel und träumte vor mich hin.

Das andere Reich meiner Kindheit war die Welt der Medizin. Unter den Kindern und Enkelkindern meines Großvaters sind drei Krankenschwestern und neun Ärzte. Als junges Mädchen war ich davon überzeugt, dass erwachsen zu werden gleichzeitig bedeutete, Ärztin zu werden. Ich lernte früh, die „richtigen“ Antworten zu geben, wenn ich gefragt wurde, was ich später einmal werden wolle. Ich war die einzige künftige Ärztin in der Vorschule. Als mein Großvater starb, hinterließ er mir das Geld, das ich benötigte, um Medizin zu studieren. Damals war ich sieben Jahre alt.

Je älter ich wurde, desto mehr belasteten mich die Erwartungen, die meine Familie an mich stellte. Meine Onkel und Vettern waren Männer der Wissenschaft, zurückhaltend, gebildet, intellektuell und erfolgreich. Wie mein Vater belohnten sie mich, wenn ich in ihrem Sinne richtig antwortete. Mein Großvater hingegen hatte mich für die richtigen Fragen belohnt. Zwar bewunderte ich diese Doktoren, aber meinen Großvater und seine Art, Fragen an das Leben zu stellen, hatte ich geliebt. Mit zwölf Jahren wollten mein Lieblingsvetter und ich beide Rabbi werden. Er wurde Arzt, und ich wurde Ärztin.

Ich glaube, für die Medizin habe ich mich letztlich wegen eines Romans entschieden, den ich mit etwa zwölf Jahren las, eine Geschichte über den Evangelisten Lukas mit dem Titel Die Straße nach Bithynien. Historische Romane waren das LSD der Fünfzigerjahre, ein einfaches Rauschmittel für eine Generation von gelangweilten Nachkriegsjugendlichen. Ich war süchtig danach.

Ich hatte nicht gewusst, dass Lukas Arzt war. Die Straße nach Bithynien hatte mich ursprünglich angesprochen, weil mir die biblische Weihnachtsgeschichte in der Version des Lukasevangeliums am besten gefiel. Frank Slaughter, der Autor der Straße nach Bithynien, war ebenfalls Arzt, und er erzählte die Geschichte von Lukas mit einer Eindringlichkeit und Überzeugungskraft, die er seiner Erfahrung und Berufspraxis verdankte. Ich habe den Roman vier Mal gelesen und verblüfft festgestellt, dass keiner der darin geschilderten Ärzte so war wie meine Onkel und dass es möglich sein musste, den Arztberuf so auszuüben, wie es mein Großvater gutgeheißen hätte: als Möglichkeit, das Leben und den Ursprung des Lebens besser kennenzulernen und ihm zu dienen. Der Roman machte mir Hoffnungen, dass jemand wie ich seinen Platz in der Medizin finden könnte, ohne zwischen dem Leben meines Großvaters und dem seiner Söhne wählen zu müssen.

Der Tag, an dem alles anfing, ist mir lebhaft im Gedächtnis geblieben: Mein Vater, der meine Siebensachen in mein Zimmer des Studentenwohnheims trägt, meine Mutter, die meine Kleider auspackt und wie immer die Schubladen mit einem besonderen Papier auslegt – beide in trauter Eintracht arbeitend, bis es nichts mehr zu tun gibt. Ich erinnere mich an ihre besorgten Worte und daran, wie sich endlich die Tür hinter ihnen schloss. Wie gerne wären sie geblieben, hätten mit mir diese letzte Nacht vor dem Beginn meines Medizinstudiums verbracht. Aber mit zwanzig wollte ich diese Herausforderung allein bestehen.

Ich betrachtete die sorgsam gefalteten Kleidungsstücke, die leeren Bücherregale, das harte, schmale Bett und die glatte Oberfläche des Schreibtischs. Das Zimmer wirkte unpersönlich wie eine Klosterzelle, völlig anders als mein eigenes, feminin eingerichtetes Schlafzimmer, in dem ich noch die Nacht davor verbracht hatte. Vier Jahre lang würde ich nun hier zu Hause sein. In dieser Nacht fröstelte ich. Ich fühlte mich verlassen.

Ein altvertrauter Zweifel plagte mich: die Angst, mich auf etwas Falsches einzulassen, wofür ich nicht geschaffen war und woran ich scheitern würde. Mit Philosophie als Hauptfach war ich nur unter Schwierigkeiten an der Cornelluniversität zum Medizinstudium zugelassen worden. Der Leiter des Auswahlkomitees hatte sich meine Examensarbeit über Wittgenstein angesehen und gemeint, mein Hauptfach sei „belanglos“. Dann war er in eine vehemente Diskussion über Genetik, sein Steckenpferd, eingestiegen. Ich hatte mich wacker geschlagen, war mir aber im Stillen darüber im Klaren gewesen, dass ich nicht zur Wissenschaftlerin taugte. Insgeheim hielt ich die Wissenschaft für so farblos, kalt und eckig wie dieses Zimmer.

Ich wandte mich zu dem einzigen Fenster. Schon einmal hatte ich einen Blick nach draußen geworfen und dabei festgestellt, dass es zur Straßenseite hin lag. Mein Blick war auf trostloses Grau gefallen. Aber jetzt war es Nacht, und auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich der Haupteingang zur Klinik, einer der berühmtesten der Welt. Er war hell erleuchtet.

Von meinem Standpunkt aus konnte ich das Hauptgebäude sehen sowie die beiden Seitenflügel, die von einer großen halbkreisförmigen Auffahrt umgeben waren. Ein endloser Strom von Autos kam und fuhr wieder, brachte Kranke oder Menschen, die voller Unruhe andere begleiteten, um die sie sich Sorgen machten. Ich trat näher ans Fenster und beschloss, mir das Geschehen eine Weile lang anzuschauen, bis die Lichter gelöscht würden. Kurz vor Mitternacht trafen eine ganze Menge Leute ein, viele davon in weißen Kitteln, und kurz nach Mitternacht verließen sehr viele andere weiß gekleidete Menschen das Gebäude und begaben sich zu ihren Autos auf dem Parkplatz. Die Schicht hatte gewechselt. Ich holte mir die Bettdecke, wickelte mich darin ein und zog mir einen Stuhl heran. Autos, Ambulanzen, Taxis und Streifenwagen der Polizei kamen und verschwanden wieder. Ab und zu nickte ich ein, stellte aber nach dem Aufwachen jedes Mal fest, dass sich nichts geändert hatte. Um vier Uhr morgens wurde mir klar, dass diese Lichter nie ausgehen würden. Es waren immer Menschen hier, die sich um Patienten im kritischen Stadium und um Schmerzpatienten kümmerten. Die Lichter wurden weitergegeben, von Hand zu Hand. Und wie an diesem Morgen würde ich auch zukünftig ein Teil davon sein. Ich wusste noch nichts, aber ich gehörte dazu.

In der Synagoge meines Großvaters gab es ein Licht, das nie ausging. Jede Synagoge beherbergt solch ein ewiges Licht als Zeichen dafür, dass Gott an diesem Ort stets gegenwärtig ist. Beruhigt stand ich auf und legte mich ins Bett. Ich kann mich nicht erinnern, in den nächsten vier Jahren noch einmal Zeit gehabt zu haben, aus diesem Fenster zu schauen.

Es ist undenkbar, jahrelang rund um die Uhr zu lernen, ohne sich dabei zu verändern. Wir arbeiteten sieben Tage die Woche, meistens sechsunddreißig Stunden am Stück mit einer darauffolgenden zwölfstündigen Pause. Wenn wir frei hatten, schliefen wir. Das Verleugnen körperlicher Bedürfnisse wie schlafen, entspannen und sogar essen war ein wesentlicher Bestandteil des Lehrplans. Niemand beschwerte sich. Wir alle führten das gleiche Leben. Viele der Räume, in denen ich arbeitete und lernte, hatten keine Fenster. Oft wusste ich nicht einmal, welchen Wochentag wir hatten oder wie spät es war. Ich erinnere mich daran, wie ich die Krankenschwestern Tag für Tag beim Schichtwechsel an mir vorbeigehen sah. Ich schaute dann auf, erblickte Miss Harrison und wusste, dass ein neuer Tag angebrochen sein musste. Oft hatte ich nicht geschlafen, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Einmal besuchte mich während meines Praktikums meine Mutter im Wohnheim der Klinik und stellte beim Öffnen meines Kleiderschranks erschrocken fest, dass ich keinen Wintermantel hatte. „Wo ist dein Mantel?“, rief sie. Ich hatte nicht gemerkt, dass Winter war. Ich war über ein Jahr lang nicht aus der Klinik und deren unterirdischem Tunnelsystem herausgekommen.

Ich erinnere mich an einen jener seltenen freien Sommernachmittage, als ich mit der U-Bahn nach Hause fuhr, um meine Eltern zu besuchen. Nach einer Weile ertappte ich mich dabei, wie ich unbewusst die Armvenen der sommerlich gekleideten Menschen um mich herum in Augenschein nahm und mir überlegte, ob ich die Nadel schon so geschickt handhaben könnte, um ihnen erfolgreich Blut abzuzapfen. Eine medizinische Ausbildung verändert den Blickwinkel, und sie beeinflusst das Denken. Allmählich wurde vieles, was in meinem bisherigen Leben von zentraler Bedeutung gewesen war, unwichtig und verschwand im Hintergrund, während ich auf anderes, was mir nun lohnender erschien, allzu großen Wert legte. Nach einiger Zeit vergaß ich ganz einfach vieles, was mir wichtig gewesen war. Vor fünfunddreißig Jahren war ich in meinem Lehrgang eine von wenigen Frauen, und meine männlichen Kollegen hielten es im Allgemeinen für selbstverständlich, dass ich als Frau im Umgang mit den emotionalen Nöten der Patienten über mehr Geschick verfügte, besser Trost spenden könnte. Sie hätten sich nicht ärger täuschen können. In vieler Hinsicht waren meine emotionalen Fähigkeiten weniger gut entwickelt als bei manchen Männern, mit denen ich täglich zusammenarbeitete. In den vier Jahren meines Medizinstudiums hatte ich erfolgreich mit Männern konkurriert und wie sie konsequent jene Eigenschaften kultiviert, die in diesem Milieu am meisten galten: Entschlossenheit, Objektivität, analytisches Denken und die Fähigkeit, kompetent und klar zu urteilen. Mir waren diese Eigenschaften vielleicht sogar noch wichtiger als den Männern, weil ich gegen etwas ankämpfte, das die meisten von ihnen als geschlechtsspezifisches Handicap betrachteten. Doch ebendiese Kollegen, die sonst so eifrig bestrebt waren, mich wie einen Mann zu behandeln, wandten sich oft an mich, wenn sie in Situationen gerieten, die ihnen unangenehm waren. Arbeiteten wir beispielsweise alle in der Ambulanz oder in der Notaufnahme – jeder mit seinem Patienten in einem eigenen Behandlungsraum beschäftigt –, konnte es passieren, dass plötzlich jemand an meine Tür klopfte. Wenn ich dann öffnete, stand meist einer der anderen Ärzte vor mir und stotterte verlegen etwas in der Art von: „Mein Patient weint … kannst du mal kommen?“ Ich verhielt mich in einer solchen Situation keineswegs souveräner als er, aber ich merkte bald, dass ich hier Punkte sammeln konnte, und deshalb ging ich gewöhnlich mit und hörte dem Patienten zu, der mir seine Bedenken anvertraute und über seine Erfahrungen mit der Krankheit berichtete.

Anfangs war ich überrascht, dass Menschen mit der gleichen Krankheit völlig verschiedene Geschichten darüber erzählten. Später begannen mich diese Geschichten und die Menschen, die versuchten, in ihren Problemen einen Sinn zu finden, ebenso zu rühren wie die unvermutete Stärke und die tiefen Gefühle der Patienten. Dieses kostbare Muster, aus dem das Leben besteht, zu enthüllen war Sache der Medizin, des Gebietes, das ich studierte und auf dem ich handelte. Schließlich schlugen mich diese Geschichten, die mich persönlich mehr bereicherten als eine richtig gestellte Diagnose, immer stärker in den Bann. Sie trugen dazu bei, dass ich langsam stolz darauf wurde, ein menschliches Wesen zu sein.

Der Grund für mein Interesse an den Geschichten lag indessen tiefer. Ich leide ebenfalls an einer Krankheit, der Crohn-Krankheit, einer chronischen, fortschreitenden Darmerkrankung, die ich im Alter von fünfzehn Jahren bekommen hatte. Die Gespräche mit den Patienten linderten meine Einsamkeit. Sie waren etwas anderes als die lockeren Späße und der kumpelhafte Umgang mit den anderen Assistenzärzten. Hier ging es um den Austausch mit Menschen, die sich in einer Krisensituation, in einer Art Belagerungszustand befanden. Ich hörte Menschen zu, die litten und auf ihr Leiden in einer Weise reagierten, die so einmalig war wie der Fingerabdruck eines jeden. Ihre Geschichten waren anregend, rührend, wichtig. Und mit der Zeit begann die Wahrheit, die darin steckte, mich zu heilen.

Jeder Mensch ist eine Geschichte. Noch in meiner Kindheit saßen die Menschen um den Küchentisch herum und erzählten sich ihre Geschichten. Heutzutage tun wir das kaum mehr. Dabei ist es nicht nur ein Zeitvertreib, um den Tisch herumzusitzen und einander Geschichten zu erzählen – am Küchentisch geben wir unsere Lebensweisheit an die anderen weiter. Das Erzählen hilft uns, ein der Erinnerung wertes Leben zu leben. Trotz der beachtlichen Leistungsfähigkeit unserer Technik führen viele von uns kein sonderlich gutes Leben. Vielleicht sollten wir einander wieder besser zuhören.

Die meisten Geschichten, die uns heute erzählt werden, sind von Schriftstellern beziehungsweise Dramatikern verfasste fiktionale Storys, die einen Anfang und ein Ende haben und von Schauspielern aufgeführt werden. Die Geschichten, die wir einander erzählen können, haben weder Anfang noch Ende. Konkrete Erfahrungen stehen in ihnen jedoch an erster Stelle. Selbst wenn sie sich vielleicht zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort zugetragen haben, rufen sie in uns ein vertrautes Gefühl hervor. Denn in gewisser Weise handeln sie von uns allen.

Geschichten, die auf Erfahrung beruhen, brauchen Zeit. Wir haben mit dem Geschichtenerzählen aufgehört, als uns die Zeit abhandenkam, innezuhalten, nachzudenken und zu staunen. Das Leben rast an uns vorbei, und nur wenige Menschen sind stark genug, das Tempo aus eigener Kraft zu drosseln. Meist sind es unvorhergesehene Ereignisse, die uns zum Innehalten zwingen und uns Zeit schenken, uns an den „Küchentisch des Lebens“ zu setzen, unsere eigene Geschichte zu verstehen und sie zu erzählen, aber auch, den Geschichten anderer Menschen zu lauschen und zu erkennen, dass die Welt aus lauter solchen Geschichten besteht.

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir innehalten oder, was viel öfter geschieht, unsere Betriebsamkeit gestoppt wird, hoffen wir, bestimmte Dinge im Leben „hinter uns“ bringen und dann wie gewohnt weitermachen zu können. Erst nach einer solchen Unterbrechung erkennen wir, dass uns bestimmte Probleme unser Leben lang begleiten werden. Wir werden immer wieder mit ihnen konfrontiert werden, und zwar jedes Mal im Zusammenhang mit einer neuen Geschichte. Wir werden ihnen aber auch von Mal zu Mal mit größerem Verständnis begegnen. Irgendwann werden wir sie nicht mehr von unseren Wünschen und unserem Wissen unterscheiden können. Auf diese Art schult uns das Leben.

Wenn wir keine Zeit haben, uns gegenseitig zuzuhören, rennen wir zu Experten, die uns sagen sollen, wie wir leben sollen. Je weniger Zeit wir am Küchentisch verbringen, desto zahlreicher werden die Ratgeber in den Buchhandlungen und in unseren Bücherregalen. Aber die Lektüre solcher Bücher ist etwas ganz anderes, als jemandem zuzuhören, der über eigene Erlebnisse erzählt. Es mag sein, dass wir vergessen haben, wie man einander zuhört, wie man die Bedeutung einer Geschichte erkennt, weil wir nicht mehr bereit dazu sind. Stattdessen geben wir uns mit den gewöhnlichen Ereignissen des Lebens zufrieden. Wir sind einsam geworden, verbringen unser Leben lieber lesend und zuschauend als mitteilend und mitwirkend.

Die Geschichte eines jeden ist bedeutsam. Die Geschichte einer hochgebildeten und einflussreichen Person enthält oft genauso viel Weisheit wie die Geschichte eines Kindes, und das Leben eines Kindes vermag uns genauso viel zu lehren wie das Leben eines Weisen. Die meisten Eltern wissen, wie wichtig es für das Selbstverständnis ihrer Kinder ist, die eigene Geschichte immer wieder zu hören. So erfahren Kinder auch, zu wem sie gehören. Einer erzählt für den anderen, und hinter all diesen Geschichten steckt eine große Geschichte. Je besser wir zuhören, umso deutlicher kristallisiert sich diese Geschichte heraus. Sie handelt von unserer wahren Identität, davon, wer wir sind, warum wir hier sind und was uns trägt. Und in allen Geschichten geht es um dieselben Dinge, um das Besitzen und Verlieren, um Sex und Macht, den Schmerz und das Staunen, um Mut, Hoffnung und Heilung, um die Einsamkeit und die Erlösung von der Einsamkeit und um Gott.

Geschichten, die uns in unserem tiefsten Innern berühren, rütteln uns wach und wecken ein Gefühl von Zusammengehörigkeit. Manchmal, wenn ich Leute darum bitte, mir ihre Geschichte zu erzählen, berichten sie mir, was sie im Laufe ihres Lebens erreicht, erworben oder aufgebaut haben. Viele Menschen kennen ihre eigentliche Geschichte gar nicht, nämlich die, die davon handelt, wer sie sind, nicht davon, was sie getan haben. Letztlich geht es darum, was wir durchgestanden und riskiert haben, um uns etwas aufzubauen, was wir während unseres Lebens empfunden, gedacht, gefürchtet und entdeckt haben.

Alle wirklichen Geschichten sind wahr. Es kommt vor, dass mir ein Patient seine Geschichte erzählt und seine Angehörigen Protest erheben: „So ist es ja gar nicht gewesen, es war vielmehr so und so.“ Im Laufe der Jahre ist mir klar geworden, dass in solchen Fällen beide Versionen aufrichtig gemeint sind und eine Wahrheit enthalten und vermutlich keine der beiden „korrekt“ ist im Sinne einer exakten Beschreibung des Ereignisses. So verstanden, geben Geschichten persönliche Erfahrungen wieder, die auf bestimmten Ereignissen im Leben beruhen, und nicht diese Ereignisse selbst. Wir alle erleben das, was uns widerfährt, auf individuelle Art und interpretieren und erzählen es auch entsprechend subjektiv – so wie auch die Wahrheit in höchstem Maße subjektiv ist.

Alle Geschichten, so einmalig, wie sie sind, bringen bestimmte Vorlieben zum Ausdruck, mischen Fakten mit Interpretationen. Darin liegt ihre Stärke, denn dadurch wird es uns möglich, etwas Vertrautes mit neuen Augen zu sehen. In einem solchen Moment nehmen wir am Leben eines anderen teil. Die Deutung, die wir der Geschichte eines anderen geben, mag sich von der Deutung des Erzählers unterscheiden. Das ist nicht weiter schlimm. Fakten vermitteln uns zwar Wissen, aber Geschichten fuhren uns zur Weisheit.

Die besten Geschichten haben viele Bedeutungen, die zu entschlüsseln wir erst lernen müssen. Beschäftigt man sich nach Jahren noch einmal mit einer Geschichte, wundert man sich oft, dass man sie früher ganz anders verstanden hat, und bedenkt nicht, dass ein weiterer Leser sie vermutlich wieder anders interpretieren wird. Ebenso wie die Geschichten selbst sind all diese Deutungen wahr.

Will man die eigene Geschichte kennenlernen, muss man eine persönliche Antwort auf das Leben finden und sich darum bemühen, offen für Erfahrungen zu sein – so wie Kinder, die häufig viel intensiver als Erwachsene leben. Kinder achten auf Einzelheiten. Für ein Kind besteht die Zeit zwischen Nikolaus und Weihnachten aus Tausenden von Augenblickserlebnissen. Sie alle zu durchleben und sich danach zu richten dauert seine Zeit. Ist man über vierzig, scheint dagegen drei Mal pro Jahr Weihnachten zu sein.

Ich war einmal Kinderärztin, bin es aber nicht mehr. Ich habe mir viele Jahre lang die Geschichten von Krebskranken und Menschen, die an anderen lebensbedrohlichen Krankheiten litten, angehört und habe ihnen beratend zur Seite gestanden. Von ihnen habe ich gelernt, den Augenblick wieder zu genießen, die Annehmlichkeit einer heißen Tasse Kaffee beispielsweise oder die Anwesenheit eines Freundes, die Wonne, sich mit einem neuen Stück Seife zu waschen oder eine Stunde lang keine Schmerzen zu haben. Aus diesen oder ähnlichen Stoffen sind viele Geschichten gemacht. Wenn es uns so vorkommen sollte, als hätten wir keine Geschichte, dann nur deshalb, weil wir unserem Leben nicht genügend Beachtung schenken. Das Leben der meisten Menschen ist reicher und bedeutungsvoller, als sie ahnen.

Was wir einmal gehört oder erlebt haben, bewahren wir sorgfältig in unserem Gedächtnis auf. Die meisten Geschichten tragen wir gleichsam ungelesen bei uns, bis wir bereit beziehungsweise fähig sind, sie zu lesen. In diesem Augenblick entfalten sie eine bisher ungeahnte Bedeutung für uns. Es ist, als hätten wir, manchmal über viele Jahre hinweg und ohne es zu wissen, kleine Einzelteile einer größeren Weisheit gesammelt.

Meine Mutter war eine Frau mit vielen Geschichten. Als Gemeindeschwester hatte sie an zahllosen Küchentischen gesessen, Tee getrunken und zugehört. Mit vierundachtzig Jahren entschloss sie sich notgedrungen zu einer Bypassoperation. Das Risiko, dass sie den Eingriff nicht überleben würde, stand allerdings vier zu zehn, war also ziemlich hoch. Aber meine Mutter war keine gewöhnliche alte Frau. Sie hatte stets mit Risiken gelebt, und deshalb schienen ihr die Aussichten nicht so schlecht. Zwei Stunden vor dem Eingriff kam ich in ihr Krankenzimmer und musste feststellen, dass die Operation vorverlegt worden war und mir gerade noch Zeit blieb, sie zu küssen, bevor man sie in den OP brachte. Obwohl sich die Umstände so plötzlich geändert hatten und die Aussichten alles andere als gut waren, war meine Mutter friedlich, ja strahlte sogar.

„Oh, gut, dass du hier bist!“, begrüßte sie mich. „Eines wollte ich dir noch sagen. Egal, wie diese Sache hier ausgeht, ich bin damit zufrieden, und ich hoffe, dass auch du alles tun wirst, dich damit zufriedenzugeben.“ Dann lächelte sie ihr charmantes, verwegenes Lächeln. Es waren die letzten klaren Worte, die sie zu mir sagte.

Ich habe lange darüber nachgedacht und versucht zu verstehen, was sie wohl bedeuteten. Meine Mutter hatte eine Menge geleistet in ihrem Leben, aber ich konnte nicht glauben, dass es dies war, was sie dem möglichen Tod so gelassen und zufrieden ins Auge blicken ließ. Allmählich ist mir dann klar geworden, dass der Schlüssel zu dieser Art von Zufriedenheit in der inneren Welt liegt, der Welt der Geschichten und Erinnerungen. In dieser Welt spielen irgendwelche Erfolgserlebnisse keine Rolle. Hier geht es um den Reichtum eines gelebten Lebens und die Fähigkeit, von der eigenen Lebenserfahrung anderen etwas mitzuteilen.

Nachdem ich nun fünfunddreißig Jahre als Ärztin tätig bin und bereits über vierzig Jahre selbst an einer lebensbedrohlichen Krankheit leide, habe auch ich ein großes Reservoir an Geschichten, solchen, die ich erlebt habe und solchen, die mir erzählt wurden. Ich kann über mein Leben als Tochter, als Enkelin, als Freundin, Patientin und Ärztin berichten, kann Geschichten erzählen, die andere Ärzte und Patienten mir anvertraut haben, von meiner Katze reden oder über Dinge, die ich nicht verstehe. Wenn ich an Ihrem Küchentisch sitzen würde, wie es Hausärzte einst oft taten, würde ich Ihnen einige dieser Geschichten mitbringen. Jede Einzelne von ihnen hat mir dabei geholfen, zu leben.

Dem Leben vertrauen

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