Читать книгу Dem Leben vertrauen - Rachel Naomi Remen - Страница 21
ОглавлениеÄrzte weinen nicht
Wer in einem medizinischen Beruf arbeitet, wird häufig mit Verlusterfahrungen und Enttäuschungen konfrontiert – zum Beispiel mit dem Labortest, der offenbart, dass eine medikamentöse Behandlung nicht angeschlagen hat, oder mit dem Tod eines Patienten – für jeden Arzt ein schwerer Schlag. Niemand, der professionell Kranke betreut, wird leicht damit fertig. Doch die meisten Verluste dieser Art werden weder zugegeben noch betrauert.
Ich halte inzwischen für die Medizinstudenten aus den Anfangssemestern an unserem Institut einen Kurs ab. In einem Abendseminar beschäftigen wir uns damit, wie wir mit Verlusten umgehen, arbeiten heraus, welche Einstellungen wir dazu aus unserem Elternhaus übernommen haben, legen unsere Bewältigungsstrategien bloß und prüfen, was wir tun, anstatt zu trauern. Diese Übung ist oft sehr aufschlussreich und fruchtbringend für die Studenten, die sich selbst und ihre Kommilitonen aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln kennenlernen können.
Am Ende eines dieser Seminare stand eine Studentin auf und teile mir mit, dass ihre Klasse im Fach Psychiatrie bereits zwei Vorlesungen über die Trauer gehört habe. Ich hatte davon keine Ahnung, entschuldigte mich und schlug vor, für die Abenddiskussion ein anderes Thema zu wählen. „O nein“, sagte sie, „in der Vorlesung läuft alles ganz anders als hier. Wir werden mit theoretischem Wissen über das Trauern bombardiert, und uns wird beigebracht, wie man erkennt, wann unsere Patienten wegen eines Verlustes trauern und wie man sich in diesem Fall richtig verhält. Dass auch wir über etwas zu trauern hätten, darüber wird kein Wort verloren.“ Die Erwartung, dass es möglich sei, tagtäglich hautnah mit Leid und Verlust zu tun zu haben, ohne davon berührt zu werden, ist ebenso unrealistisch wie die Hoffnung, durchs Wasser zu schreiten, ohne nass zu werden. Sich auf diese Art zu verweigern ist keine Kleinigkeit. Die Art und Weise, wie wir mit Verlust umgehen, wirkt sich auf unsere Fähigkeit, uns dem Leben zu stellen, mehr als alles andere aus. So, wie wir uns vor den mit Verlust verbundenen Gefühlen schützen, distanzieren wir uns wahrscheinlich auch vom Leben.
Dass wir uns lieber abschotten als zu trauern und unsere Verletzungen auszukurieren, ist einer der Hauptgründe für das Burn-out-Syndrom, das Phänomen völligen Ausgebranntseins. Nur wenige meiner Patienten, die selbst im medizinischen Bereich tätig sind oder waren, haben Ausgebranntsein als Grund für ihre Konsultation genannt. Ich glaube, die meisten wussten nicht einmal, dass sie daran litten. Gewöhnlich bekomme ich zu hören: „Mit mir stimmt irgendetwas nicht. Ich sorge mich nicht mehr um meine Patienten. Vor meinen Augen können die schlimmsten Dinge passieren, und ich empfinde nichts.“
Doch Menschen, die sich wirklich nicht um andere sorgen, sind selten so verletzlich, dass sie ausbrennen. Psychopathen brennen nicht aus. Es gibt auch keine ausgebrannten Despoten oder Diktatoren. Nur Menschen, die zur Sorge fähig sind, können diesen Betäubungszustand erreichen. Wir brennen nicht deshalb aus, weil wir uns um nichts mehr sorgen, sondern weil wir nicht trauern. Wir brennen aus, weil wir so randvoll mit Verlusterfahrungen und Enttäuschungen sind, dass für die Sorge um andere kein Platz mehr bleibt.
In der Literatur über das Burn-out-Syndrom wird oft dazu geraten, auszuspannen, sich zu bewegen, zu spielen und sich von unrealistischen Erwartungen zu verabschieden, um zu genesen. Meiner Erfahrung nach ist das Burn-out-Syndrom jedoch nur dann tatsächlich heilbar, wenn die Leute lernen zu trauern. Die Fähigkeit, zu trauern, zeugt von dem Vermögen zur Selbstheilung, ist quasi das Gegengift zu übertriebener Professionalität. „Gesundheitsprofis“ weinen nicht. Leider.
Am zweiten Tag meines Praktikums in der Kinderklinik musste ich zusammen mit dem Assistenzarzt einem jungen Elternpaar den Tod ihres einzigen Kindes mitteilen. Es war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, den die Eltern unverletzt überstanden hatten. Unerfahren, wie ich war, weinte ich mit ihnen, als sie in Tränen ausbrachen. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, nahm mich mein Assistenzarzt beiseite und erklärte mir, dass ich mich unprofessionell verhalten habe. „Diese Leute haben erwartet, dass wir Stärke zeigen“, sagte er. Mein Verhalten hingegen habe sie deprimiert. Ich nahm mir seine Kritik sehr zu Herzen. Als ich später selbst Assistenzärztin war, habe ich über Jahre hinweg nicht geweint.
Zu dieser Zeit ertrank ein Baby in der Badewanne, das nur einen Moment lang unbeaufsichtigt gewesen war. Wir kämpften verzweifelt darum, es wiederzubeleben, mussten aber nach einer Stunde unsere Niederlage eingestehen. Zusammen mit einem jungen Praktikanten ging ich zu den Eltern, um ihnen zu sagen, dass wir ihr Kind nicht hatten retten können. Vom Leid überwältigt, begannen sie zu schluchzen. Nach einer Weile schaute mich der Vater an. Stark und schweigend stand ich da in meinem weißen Kittel, mit dem erschütterten Praktikanten neben mir. „Tut mir leid, Frau Doktor“, sagte der Vater. „Ich habe für kurze Zeit die Fassung verloren.“ Ich sehe diesen Mann mit seinem tränenüberströmten Gesicht noch vor mir, und ich denke beschämt an seine Entschuldigung zurück. Weil ich damals davon überzeugt war, dass Trauer zwecklos ist und Schwäche nur Zeitverschwendung, hatte ich mich so verhärtet, dass andere mich um Entschuldigung baten, wenn der Schmerz sie überwältigte.
Ich erinnere mich daran, wie wir während einer Schicht auf der Kinderstation des Memorial-Sloan-Kettering-Krebszentrums in New York feststellten, dass pro Tag ein Kind starb. Wir begannen unseren täglichen Rundgang in der Pathologie, wo wir den Todesfall des vorigen Tages oder der vergangenen Nacht erörterten, und jeden Morgen verließ ich die Pathologie mit dem Gedanken: „Also gut, auf zum nächsten Patienten.“
Diese Haltung einzunehmen hatte ich bereits zu Hause gelernt. An dem Nachmittag, als mein zehn Wochen altes Kätzchen überfahren wurde, ging meine Mutter mit mir in eine Tierhandlung und kaufte mir ein neues. Man brachte mir schon im Kindesalter bei, dass es am besten war, nicht darüber nachzudenken, wenn etwas Schlimmes passiert war, und sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Leider bestand das „andere“, mit dem ich mich als Ärztin zu beschäftigen hatte, meist aus einem weiteren Unglücksfall.
Als Quintessenz lässt sich daraus Folgendes ableiten: Der Sinn des Trauerns besteht nicht darin, irgendeinem Patienten zu helfen. Indem man trauert, hilft man sich selbst, wird fähig, nach einem Verlust weiterzumachen. Trauern heilt, ermöglicht einem, wieder zu lieben. Wenn man sich jedes Mal sofort dem nächsten „Fall“ zuwendet, büßt man allmählich seine Menschlichkeit ein, lernt den Tod anderer Menschen zu ertragen, ohne davon berührt zu werden. Man negiert die eigene Ganzheit und damit eine fundamentale Bedingung menschlichen Miteinanders.