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Das Wehwehchen küssen

Von Kindesbeinen an wird uns gewöhnlich beigebracht, dass die Äußerung von Schmerzempfindungen auf mangelnde Selbstbeherrschung hindeute. Schmerz zu zeigen erscheint uns daher oft wie ein Verstoß gegen die guten Manieren. In anderen Kulturen bleibt man mit seinem Schmerz oder einem Verlusterlebnis nicht so allein wie bei uns. Wir jedoch leiden an unserer Einsamkeit zusätzlich und werden dadurch noch verwundbarer.

Eines Tages erklärte mir eine neue Klientin, die einen Termin verpasst hatte, dass sie in der Zeit, die sie hier bei mir hätte verbringen sollen, in der Notaufnahme gelegen habe. Ich hatte nichts davon gewusst und fragte sie, was geschehen sei. Sie erzählte mir, dass sie zeitweise an Verstopfung leide. Diese sei auf Bestrahlungen zurückzuführen, die nach einer bereits mehrere Jahre zurückliegenden Krebsoperation notwenig geworden waren. Die Schmerzen, die sie vor einer Woche empfunden habe, seien schlimm gewesen und hätten einen ganzen Tag lang angehalten, aber jetzt seien sie vorbei. Sie habe sofort gewusst, dass sie ernst zu nehmen seien, und habe eine kleine Tasche mit Make-up, Nachtzeug und einem bis zur Hälfte gelesenen Krimi gepackt. Dann sei sie allein zu dem vierzig Kilometer weit entfernten Krankenhaus gefahren.

Als gebranntes Kind wusste ich, wie unerträglich solche Schmerzen werden konnten. Ich fragte meine Klientin, wie sie damit habe Auto fahren können. Sie erwiderte, dass sie jeweils so lange gefahren sei, bis der Schmerz sie überwältigt habe. Dann habe sie angehalten und gewartet, bis er wieder vergangen sei. Sie habe sich vorsichtshalber eine Schüssel und ein Handtuch mitgenommen und sich ein- oder zweimal erbrochen. Sie habe sich sehr krank gefühlt, habe es aber, wenn auch im Schneckentempo, bis zum Krankenhaus geschafft. Erstaunt fragte ich sie, warum sie keine Freundin angerufen habe. Sie erklärte mir, es sei Mittagszeit gewesen und alle hätten gearbeitet.

Den nächsten Tag hatte sie allein im Krankenhaus verbracht. Ich fragte sie, warum sie nicht spätestens dann jemanden angerufen habe. „Warum hätte ich jemanden anrufen sollen?“, fragte sie irritiert. „Keiner von meinen Bekannten versteht etwas von Verstopfung.“

„Warum haben Sie dann nicht mich angerufen?“

„Nun, es ist ja auch nicht Ihr Fachgebiet“, erwiderte sie.

„Jessie“, sagte ich, „sogar Kinder suchen instinktiv die Nähe eines anderen Menschen, wenn sie hingefallen sind.“ Ziemlich aufgeregt meinte sie: „Ja, und das habe ich nie verstanden. Es ist doch dumm. Das Wehwehchen zu küssen hilft doch nicht gegen den Schmerz.“ Ich war verblüfft. „Jessie“, sagte ich, „es hilft zwar nicht gegen den Schmerz, aber es hilft gegen die Einsamkeit.“

Viele Menschen gehen mit dem Schmerz um wie Jessie. Wenn Jessie Schmerzen hatte, war das einzig Wertvolle, was ihr ein anderer bieten konnte, fachmännisches Wissen. Sie hatte ihre Mutter verloren, als sie noch ein Kind war. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass man gegen Einsamkeit etwas tun konnte.

Dem Leben vertrauen

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