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Ein ganz gewöhnlicher Held

Mein Onkel war ein Held. Wie alle Männer in der Familie meiner Mutter war er Arzt, zunächst Allgemeinmediziner und später Pathologe. Während des Zweiten Weltkrieges hatte er an einem Gefecht teilgenommen und einen Orden bekommen.

Es hatte sich folgende Geschichte abgespielt: Mein Onkel gehörte einer Gruppe von Ärzten an, die die Kampftruppe begleitete. Einer falschen Meldung gehorchend, rückten die Soldaten zu einem Hügel vor, den sie unbesetzt wähnten. Als sie ihre Deckung verließen, eröffneten die gegnerischen Soldaten aus ihrem Versteck das Feuer, und innerhalb kürzester Zeit waren zahlreiche Männer verwundet oder lagen im Sterben. Die feindliche Truppe nahm das Gebiet weiterhin unter Dauerbeschuss. Niemand konnte gefahrlos aufrecht stehen. Erst zwölf Stunden später wurden die gegnerischen Soldaten durch einen Luftangriff kampfunfähig gemacht. Bereits lange vorher kroch mein Onkel mit auf den Rücken gebundenem Verbandsmaterial auf dem Bauch über das Schlachtfeld, setzte Aderpressen an, stillte Blutungen, nahm Botschaften entgegen, manchmal auf die Rückseite eines zerknautschten Fotos geschrieben, und spendete einen letzten Trost.

Als die Verstärkung eintraf und nachdem sich der Feind schließlich zurückgezogen hatte, wurde ersichtlich, dass mein Onkel Dutzenden Menschen das Leben gerettet hatte.

Er wurde für diese Tat ausgezeichnet und sein Bild auf der Titelseite unserer Zeitung, dem New York Daily Mirror, abgedruckt. Ich war damals etwa sieben Jahre alt und bekam, da ich zur Familie des Helden gehörte, alles brandaktuell mit. Am besten gefiel mir, dass er Urlaub bekommen hatte und uns besuchen wollte. Ich war ganz verrückt vor Aufregung.

Insgeheim wunderte mich seine Heldentat ein wenig. Mein Onkel war untersetzt, glatzköpfig und trug eine Brille. Er hatte sogar einen kleinen Schmerbauch. Sollte er sich verändert haben? Er hatte sich nicht verändert. Seit jeher ein schüchterner Mensch schien ihm all der Rummel unangenehm zu sein, genauso wie ihn der Besuch von Nachbarn, die einer nach dem anderen kamen und ihm die Hand schüttelten, eher belastete. Schließlich erwischte ich einen günstigen Augenblick. Ich setzte mich auf seinen Schoß und erzählte ihm, dass ich ihn für sehr tapfer halte und davon überzeugt sei, dass er nie vor etwas Angst habe. Lächelnd erklärte er mir, dass das keineswegs der Fall sei und er sich mehr gefürchtet habe als je in seinem Leben. Schwer enttäuscht, platzte ich heraus: „Aber warum haben sie dir dann einen Orden verliehen?“

Ruhig erklärte er mir, dass jeder, der in einer ähnlichen Situation keine Angst habe, ein Narr sei, und man vergebe keine Orden dafür, dass jemand sich wie ein Narr benehme. Tapfer zu sein bedeute nicht, keine Angst zu haben. Ein tapferer Mensch habe oft Angst und handle trotzdem.

Das war die erste von vielen Lehren über den Mut, die ich im Laufe meines bisherigen Lebens erhalten habe, und sie bedeutet mir viel. Als Kind hatte ich Angst vor der Dunkelheit und schämte mich deshalb. Aber wenn mein Onkel, der ein Held war, ebenfalls Angst hatte, gab es vielleicht auch für mich noch Hoffnung. Meine Furcht hemmte mich, ich fühlte mich gedemütigt, und mein Selbstbewusstsein war angeschlagen. Indem mir mein Onkel von seiner Furcht erzählte, befreite er mich. Sein Heldentum wurde zu einem Teil meiner Geschichte, genauso wie es Bestandteil seines Lebens geworden war.

Dem Leben vertrauen

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