Читать книгу Dem Leben vertrauen - Rachel Naomi Remen - Страница 22

Оглавление

Wer ist dieser Mann

hinter dem Mundschutz?

Einmal hatte ich gleichzeitig zwei Chirurgen als Patienten. Beide gehörten zum Lehrkörper der medizinischen Fakultät und wurden von ihren Kollegen sehr geschätzt. Sie suchten mich wegen Einsamkeit, Depressionen und Ausgebranntsein auf. Keiner der beiden wusste von den Problemen des anderen.

Nach und nach erzählten mir beide Männer, wie tief sie am Geschehen um sie herum Anteil nahmen, ohne es den Patienten zeigen oder mit Kollegen darüber sprechen zu können – obwohl sie manchmal das Bedürfnis dazu hatten, zum Beispiel, wenn im OP etwas schiefging oder ein Patient starb. Genau wie mir war diesen beiden Männern in ihrer Ausbildung eingetrichtert worden, dass Gefühlsäußerungen als unprofessionell, ja sogar unmännlich einzuschätzen waren. Infolgedessen fühlten sie sich allein gelassen und isoliert.

Auf dem sicheren Terrain, das meine Praxis bot, konnten sie sich indessen erlauben, sich laut über Fakten zu wundern, die nicht bewiesen werden konnten. Gab es eine Erklärung für die mysteriöse Tatsache, dass manche Chirurgen besser operierten als andere? Existierten unbekannte Faktoren, die das Überleben begünstigten? Die beiden Ärzte rätselten über das Phänomen des Lebenswillens und ärgerten sich darüber, dass Menschen operiert wurden, die glaubten, bereits im Sterben zu liegen. Sie erzählten mir Geschichten über ihre Patienten, staunten über die Stärke mancher Menschen, die trotz schrecklicher Leiden wieder auf die Beine kamen oder neu zu leben lernten.

Diese beiden Männer waren seit zwanzig Jahren Arbeitskollegen. Sie hatten eine gemeinsame Sprechstundenhilfe, gemeinsames Pflegepersonal, ein gemeinsames Büro, aber sie kannten einander nicht. Nun hatten sie auch eine gemeinsame Therapeutin, doch mein Berufsethos verbot mir, darüber auch nur die geringste Bemerkung fallen zu lassen. Ich habe beide ermutigt, mit Kollegen über die Therapie zu sprechen, erhielt aber immer nur dieselbe Antwort: „Mit ihm? Um Himmels willen! Er würde nur lachen.“

Wie Krebskranke fühlen sich Ärzte häufig durch die Art ihrer Erfahrungen und darüber hinaus wegen eines berufsbedingten Verhaltenskodex von anderen isoliert. In den von mir geleiteten Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte zeigte sich die Einsamkeit dieser Menschen auf viele verschiedene Weisen. In einer der Sitzungen berichtete ein Gastroenterologe von dem unerwarteten Tod eines seiner Patienten. Obwohl schon Jahre vergangen waren, begann jener Arzt im Kreis seiner Kollegen zu weinen und erzählte uns dann, dass er das noch nie getan habe und sich nun wesentlich besser fühle. Die anderen waren sehr bewegt. Einer fragte ihn, warum er damals nicht geweint habe. Der Gastroenterologe antwortete, dass nur ein anderer Arzt seine Gefühle hätte nachvollziehen können. „Doch wer würde schon vor einem Kollegen weinen?“ Wir verstanden alle sofort.

Einsamkeit wurde in diesen Seminaren oft auch auf symbolische Weise deutlich. Als Jon, ein auf die Entfernung von Tumoren spezialisierter Chirurg, gebeten wurde, seine Rolle als Arzt in einem Sandkastenmodell darzustellen, baute er folgende Szene auf: In größtmöglicher Entfernung von sich selbst platzierte er den offenen Rachen eines Hais. Zwischen diesen und sich stellte er eine Gruppe von Tonfiguren in einem Kreis auf. Unter den Figuren befanden sich ein von Hoffnungslosigkeit niedergedrückter Mann, eine Frau, die nur eine Brust besaß und kniend die Arme zum Gebet erhoben hatte, eine andere Frau, die versuchte, das Loch, an dessen Stelle sich ihr Herz hätte befinden sollen, zuzuhalten, sowie ein Mann, der die Arme ausstreckte, als wolle er unsichtbares Unheil abwehren. In die Mitte des Kreises legte Jon ein Stückchen brennenden Weihrauch und erklärte, der Rauch symbolisiere den Heilungsprozess dieser verwundeten Menschen, die nur deshalb genesen könnten, weil sie füreinander da seien.

Gleich neben sich platzierte Jon eine Katchina-Puppe. Katchinas gelten bei den Hopi-Indianern als Verkörperungen eines heilenden Geistes. Interessanterweise hatten in verschiedenen anderen Seminaren mehrere Ärzte diese Puppe ausgewählt, um sich selbst darzustellen. Hunderte von Krebspatienten hatten sie dazu benutzt, ihre eigene Heilung darzustellen. Die Tatsache, dass Ärzte diese Figur wählen, ist besonders aufschlussreich, denn sie hatte Risse und Sprünge und war beschädigt.

Jon legte einen Mundschutz zwischen die Katchina und die kreisförmig aufgestellten Figuren, um die Puppe vor deren Blicken zu verbergen. Hinter der Maske stehend, konnte die Puppe ungehindert lediglich den Hai betrachten. Ich fragte mich, ob Jon damit seine Position als Arzt symbolisieren wollte. Wenn er Krebspatienten behandelte, war sein verwundetes Selbst isoliert und unsichtbar; die Menschen, denen er half, sahen nur seinen Mundschutz. Er richtete seinen Blick allein auf die Krankheit. Die Szene im Sandkasten war ein treffendes Modell dafür.

Als Jon gebeten wurde, sein Modell zu erläutern, bot er folgende Interpretation an: „Da ist eine Bedrohung“, sagte er und deutete auf den Hai. „Diese Figuren stellen verwundete Menschen dar, meine Patienten. In ihrer Mitte befindet sich eine Heilstätte. Und hier stehe ich. Trotz meines Mundschutzes bin ich ebenfalls verwundet. Ich verliere mein linkes Ohr und verstecke mich hinter meinen Fähigkeiten und meinem Wissen. Nur der Hai kann mich sehen; er weiß, dass ich hier bin.“ Als Jon gebeten wurde, die Szene in einen Begriff zu fassen, sagte er: „Allein.“

Nach dieser Übung hatten die Seminarteilnehmer die Möglichkeit, ihr eigenes Modell nach Belieben zu verändern. Jon nahm die zerbrochene Katchina-Puppe hinter dem Mundschutz hervor und legte sie in den Kreis der verwundeten Figuren. Seine Augen röteten sich, aber er weinte nicht.

Die anderen Ärzte, die ihm zugeschaut hatten, waren von Jons Beitrag zum Sandkastenspiel sichtlich betroffen. Danach diskutierten sie noch stundenlang. Viele von ihnen hatten sich einsam gefühlt, waren aber bisher nicht dazu fähig gewesen, darüber zu sprechen.

Dem Leben vertrauen

Подняться наверх