Читать книгу Dem Leben vertrauen - Rachel Naomi Remen - Страница 7
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Lebenskraft
Klar, einzigartig, geheimnisvoll, ästhetisch. Als ich seinerzeit meinen Doktor der Medizin erwarb, hätte ich das Leben nicht auf diese Weise beschrieben. Denn ich hatte noch nicht begriffen, was Leben wirklich bedeutet, wusste noch nichts von der Liebe und der Lebenskraft, die in allem und jedem steckt. Das Leben hatte mich noch nicht gebeutelt, und das Gefühl, inmitten der tiefsten Schwäche von seiner Kraft überrascht zu werden, kannte ich noch nicht. Ich wusste nicht, was Ehrfurcht ist. Ich glaubte, das Leben sei etwas Zerbrechliches und ich, ausgerüstet mit den mächtigen Werkzeugen der modernen Wissenschaft, sei dazu angetreten, schadhafte Stellen zu reparieren. Auch mich selbst hielt ich für zerbrechlich. Aber das Leben hat mich eines Besseren belehrt.
Viele meiner Patienten suchen mich auf, weil die moderne Medizin bei ihnen versagt hat oder deren Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Oft wissen sie nicht mehr weiter und hoffen einfach auf die Stärkung ihrer Lebenskraft. Nachdem ich mir in den letzten zwanzig Jahren Hunderte von Geschichten angehört habe, glaube ich sagen zu können, dass viele gar nicht wissen, wie stark ihre Lebenskraft ist und in welchen Formen sie sich ihnen darbietet. Und doch hat jeder von uns ihre Macht schon einmal gespürt. Obwohl wir zweifeln, sind wir mit den Narben von zahlreichen Heilungsprozessen bedeckt.
Die Therapie beginnt gewöhnlich an diesem Punkt – wir reden über das Leben und unsere Einstellung dazu, über unsere Erfahrungen, unser Vertrauen ins Leben oder unser Misstrauen ihm gegenüber. Es geht darum, den Blick für das Leben zu schärfen. Zu Beginn ist das Leben reine Kraft. Nachdem nun mehr als fünfzig Lebensjahre hinter mir liegen, habe ich gelernt, dass man dieser Kraft vertrauen kann.