Читать книгу Dem Leben vertrauen - Rachel Naomi Remen - Страница 13

Оглавление

Zwischen den Zeilen lesen

Sara ist eine Frau, die genau wie ich seit vielen Jahren an der Crohn-Krankheit leidet. Im Laufe von dreißig Jahren hat sie über vierzehn Unterleibs- und Gelenkoperationen hinter sich gebracht. Das Ergebnis dieser Erfahrungen: Sie sah sich als Opfer. Als sie zum ersten Mal in meine Sprechstunde kam, war sie vor lauter Selbstmitleid chronisch depressiv und arbeitsunfähig. Aber das änderte sich mit der Zeit. Inzwischen arbeitet sie dreimal die Woche und nimmt wieder aktiv an dem turbulenten Leben ihrer Familie teil. Als sie ihre Sitzungen bei mir abschloss, kommentierte dies ihr Ehemann mit der Bemerkung, er habe das Gefühl, mit einer anderen Frau verheiratet zu sein.

Ein Jahr, nachdem ich sie zum letzten Mal gesehen hatte, bekam sie Schmerzen im Kiefer und suchte ihren Zahnarzt auf. Er stellte einen kleinen Abszess am Knochen fest und erklärte ihr, er müsse, um ihn zu entfernen, eine Wurzelkanaloperation durchführen. Als er ihr den Vorgang schildern wollte, stand sie abrupt auf und verließ seine Praxis. Einige Stunden später rief mich ihr Mann bestürzt an und sagte mir, er habe sie, als er von der Arbeit nach Hause kam, tief depressiv in ihrem Bademantel im Wohnzimmer sitzend vorgefunden. Er habe keine Ahnung, was los sei, und sie sei nicht bereit, mit ihm darüber zu reden. „Kommt vorbei“, sagte ich.

Ich erschrak zutiefst über die Veränderung, die mit Sara passiert war; sie sah etwa so aus wie damals vor drei Jahren, als wir uns zum ersten Mal getroffen hatten: leblose Augen, ungekämmt, die Kleidungsstücke nicht zusammenpassend, als hätte sie das Erstbeste angezogen, was sie im Schrank gefunden hatte. In sich zusammengesunken, saß sie mir gegenüber. Mit matter Stimme berichtete sie, was sich am Nachmittag beim Zahnarzt ereignet hatte. „Es ist einfach zu viel. Ich kann das nicht machen“, sagte sie. „Diese Operation ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.“

„Was ist los mit Ihnen, Sara?“, fragte ich. Sie begann zu weinen. „Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Ich fühle mich genauso wie damals, als ich zum ersten Mal hierherkam, irgendwie überfordert, einfach niedergeschlagen.“ Ich schlug vor, es mit mentalen Bildern zu versuchen, die ihr schon einmal geholfen hatten. Vielleicht würden sie den Grund für ihren Kummer offenbaren. Tränenüberströmt stimmte sie zu.

Ich redete ihr gut zu, und sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, um sich zu entspannen. Es dauerte einige Zeit, bis sie in der Lage war, dem vertrauten Muster zu folgen. Als ihr Atem langsamer und etwas tiefer wurde, schlug ich ihr vor, sie solle sich vorstellen, vor einer geschlossenen Tür zu stehen. „Wenn du bereit bist, streck die Hand aus und öffne die Tür“, sagte ich. „Auf der anderen Seite wirst du etwas sehen, was dir bei der Bewältigung deiner Gefühle helfen wird.“

Nach dem Öffnen der imaginären Tür stellte Sara überrascht fest, dass sie sich in einem Krankenzimmer befand. Die Patientin im Bett war sie selbst. Sie lag im Koma, wie zu Beginn ihrer Krankheit vor dreißig Jahren.

In den nächsten fünfzehn Minuten besuchte sie in ihrer Fantasie ein Krankenzimmer nach dem anderen. Langsam enthüllten sich ihr die Ereignisse ihrer langen Krankheit, sie sah Jahr um Jahr, Operation um Operation, Rückfall um Rückfall, Genesung um Genesung an sich vorbeiziehen. Während ich sie auf ihrem Weg begleitete, begann mein Sinn für Logik zu protestieren. Insgeheim fragte ich mich, ob dies der richtige Weg war, ihr zu helfen. Würde sie sich, wenn sie all dieses Leid noch einmal durchlebte, letztlich nicht noch mehr als hilfloses Opfer fühlen? Doch je weiter sie voranschritt, um so kräftiger wurde ihre Stimme, und sie begann, sich auf ihrem Stuhl aufzurichten. Als sie im Jahr 1988 angelangt und dabei war, sich ihre zwölfte Operation, bei der ihre gesamte rechte Hüfte ausgetauscht worden war, noch einmal zu vergegenwärtigen, öffnete sie plötzlich die Augen und brach in schallendes Gelächter aus. „Wurz-Kanal, Schnurz-Kanal“, wieherte sie und musste Tränen lachen. „Diese läppische Operation schaffe ich mit links.“

Durch eine Rückschau auf ihre Leidensgeschichte gelang es Sara, die Geschichte hinter der Geschichte zu entdecken und den Sinn, der in den vertrauten Fakten und Ereignissen verborgen war, zu entdecken. Indem sie sich ihren Verletzungen stellte, wurde es ihr möglich, zu ihrer Kraft zurückzufinden, ihren unbezähmbaren Lebenswillen zu erfahren, ihren Mut und ihre Fälligkeit, sich selbst zu heilen. Vielleicht ist jedes „Opfer“ in Wirklichkeit ein Überlebender, der noch nichts von seinem Überleben weiß.

Dem Leben vertrauen

Подняться наверх