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Zurück zu den einfachen Dingen

Vor einigen Jahren hat man mich eingeladen, bei einem Treffen der American Women’s Medical Association vor einer Gruppe von Ärztinnen einen Vortrag über meine Arbeit mit krebskranken Menschen zu halten. In der Diskussion nach dem Vortrag erklärte eine Internistin, dass sie den Umgang mit Krebskranken für schwierig halte und deshalb vermeide. Es frustriere sie, sich um todkranke und sterbende Patienten zu kümmern. „Ich hasse es, wenn keine Therapie mehr anschlägt, wenn ich nichts mehr tun kann“, gestand sie. Einige andere Frauen nickten zustimmend.

Ich fragte die Frauen, wann sie sich in einer solchen Situation zum ersten Mal unwohl gefühlt hätten. Überraschenderweise stimmten sie darin überein, dass dies vor ihrer medizinischen Ausbildung nicht der Fall gewesen sei. Im weiteren Verlauf der Diskussion kristallisierte sich heraus, dass wir uns – konfrontiert mit Krebspatienten – vor allem in unserer Eigenschaft als Ärztinnen und weniger als Frauen unangenehm berührt fühlten. Als Frauen empfanden wir es als natürlich, einfach mit jemandem zusammen zu sein. Allmählich wurden wir uns über manche Dinge klar, zum Beispiel darüber, dass in existenziellen Situationen – beispielsweise, wenn jemand starb oder ein Kind geboren wurde – schon immer Frauen zur Stelle gewesen waren, entweder um jemandem tröstend zur Seite zu stehen oder um Hilfe zu leisten.

Eine der Ärztinnen erzählte, wie sie als Neunzehnjährige ihre sterbende Mutter gepflegt hatte, ohne sich dabei viel zuzutrauen. Zunächst hatte sie ihre Mutter lediglich zum Arzt gefahren, für sie eingekauft und Besorgungen gemacht. Dann, als die Kranke immer schwächer wurde, hatte sie ihr regelrechte Festessen zubereitet und das Haus sauber gehalten. Als ihre Mutter schließlich nichts mehr essen wollte, hatte sie ihr zugehört und stundenlang vorgelesen. Zuletzt war die Patientin ins Koma gefallen. Ihre Tochter hatte sie gebadet, ihren Rücken mit einer Lotion eingerieben und ihre Bettlaken gewechselt. Es gab immer noch etwas zu tun, und die Fürsorge wurde zunehmend einfacher. „Am Ende“, erzählte uns die Ärztin, „hielt ich sie nur noch in den Armen und sang.“

Es blieb lange still im Raum. Dann gestand eine der älteren Frauen ein, dass auch sie bisher dazu tendiert habe, Patienten zu meiden, deren Lage aussichtslos war. Sie habe sich machtlos gefühlt. Aber sie sehe jetzt, dass auch dann, wenn medizinisch nichts mehr zu machen sei, noch genügend anderes zu sagen oder zu tun bliebe. Es sei wichtig, Patienten Linderung zu verschaffen, indem man Anteil nehme. Das habe sie lange Zeit einfach vergessen. Ihre Stimme zitterte leicht.

Ich betrachtete sie genauer. Diese starke und kompetente sechzigjährige Chirurgin hatte Tränen in den Augen. Es war unglaublich.

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