Читать книгу Dem Leben vertrauen - Rachel Naomi Remen - Страница 14

Оглавление

Ein aufgestauter Fluss

Anfangs reagierte ich auf körperliches Leiden und die damit verbundenen Einschränkungen mit Wut. Als ich mit fünfzehn sehr krank wurde, musste ich bei den einfachsten Handlungen zunächst meine Krankheit bedenken. Würde sie mir gestatten, ein Stück Käse zu essen? Würde ich die Kraft haben, diese Treppe hinaufzusteigen? Würde ich den Film bis zum Ende anschauen können, ohne wegen quälender Bauchschmerzen hinausgehen zu müssen? Diese Krankheit herrschte so autoritär über mich, dass jeder Widerspruch zwecklos war. Sie ist noch immer die gestaltende Kraft in meinem Leben, formt es jedoch mit weitaus leichterer Hand.

Vielleicht kann man nur als junger Mensch eine solche Wut, wie ich sie verspürte, empfinden. Ich hasste all die gesunden Menschen, hasste diejenigen in meiner Familie, die mir diese Gene vererbt hatten. Ich hasste meinen Körper. In diesem Zustand befand ich mich fast zehn Jahre lang.

Kurz bevor das letzte Jahr meines Medizinstudiums begann, änderten sich die Dinge. Man hatte mir in einem guten Lehrkrankenhaus eine Stelle als Assistenzärztin angeboten. Doch meine Kraft reichte gerade noch zur Erledigung meiner Aufgaben. Wieder sah ich mich um einen Traum gebracht. An jenem Nachmittag begab ich mich zu dem alten Strandhaus, das zu unserer Klinik gehörte und sowohl von den Studenten als auch vom Personal benutzt wurde. Innerlich aufgewühlt, ging ich verdrossen am Ufer entlang, verglich mich selbst mit anderen meines Alters, mit Leuten von anscheinend grenzenloser Vitalität. So wollte ich auch sein. Ich erinnere mich daran, dass ich dachte, diese Krankheit hätte mir meine Jugend geraubt. Ich wusste noch nicht, was sie mir dafür gegeben hatte.

Mein Inneres reagierte auf diese quälenden Gedanken mit einer Welle intensiver Wut, jenem Gefühl, das ich schon früher viele Male erlebt hatte. Aber aus irgendeinem Grund ertrank ich diesmal nicht darin. Stattdessen bemerkte ich, dass die Welle verebbte und etwas in mir sagte: „Du hast keine Vitalität? Hier ist deine Vitalität.“

Erschüttert erkannte ich die Verbindung zwischen meinem Zorn und meinem Willen, zu leben. Meine Wut war einfach die Kehrseite meines Lebenswillens. Meine Lebenskraft war genauso intensiv, genauso mächtig wie mein Zorn, aber zum ersten Mal vermochte ich ihn anders zu erleben und direkt zu spüren. Im ersten Moment der Überraschung bekam ich eine flüchtige Ahnung meiner selbst: dass ich im Innersten eine intensive Liebe zum Leben hegte, den Wunsch hatte, am Leben voll und ganz teilzunehmen und anderen dabei zu helfen, dasselbe zu tun. Auf irgendeine Weise war die Kraft dazu in mir gewachsen, als Folge der starken Beschränkung, die meiner Vitalität nur scheinbar entgegenstand – vergleichbar mit der Energie eines aufgestauten Flusses. Ich hatte vorher keine Ahnung davon gehabt. Ich begriff auch, dass diese Kraft in ihrer gegenwärtigen Form, als Wut, gefangen war. Mein Zorn hatte mir dabei geholfen, zu überleben, meiner Krankheit Widerstand entgegenzusetzen, sogar gegen sie zu kämpfen, aber er hinderte mich auch daran, mir das Leben aufzubauen, nach dem ich mich sehnte. In dem Moment wurde mir klar, dass ich es nicht länger nötig hatte, mich auf diese Weise zu verhalten. Ich begriff und wusste plötzlich mit absoluter Sicherheit, dass niemand etwas für mein Leid konnte, dass die Welt nicht dafür verantwortlich war. Ich erlebte einen Moment vollkommener innerer Freiheit.

Ich nahm die Stelle an. Wenn es mir zu viel wurde, bat ich andere um Hilfe. Früher wäre ich zu zornig und verbittert dazu gewesen. Es war ein sehr wichtiges Jahr für mich.

Viele Jahre später, in einem Seminar über ayurvedische Medizin, lernte ich die theoretische Grundlage für diese Art von Erfahrung kennen. Der Ayurveda besagt, dass ein Unterschied zwischen der Energie selbst und dem Energiemuster oder der Energieform besteht, dem Gefäß also, durch das die Lebensenergie einer Person in einem bestimmten Moment fließt. Die Energieform ist beispielsweise Zorn, Trauer, Freude oder Enttäuschung, die Energie selbst jedoch ist das Qi oder die Lebenskraft. Im Chinesischen heißt „wütend werden“ shen qi, das heißt, „das Qi erzeugen“ beziehungsweise „die Lebenskraft steigern“. Noch immer werde ich manchmal zornig, aber meine Wut hält sich im Rahmen. Sie ist keinesfalls mit den Gefühlen zu vergleichen, die in all den Jahren mein Leben begleiteten. Diese Wut hat ihren Zweck erfüllt. Sie hat meine persönliche Integrität verteidigt, hat Nein gesagt zu den Einschränkungen, die meine Krankheit mir auferlegte. Aber ich hatte etwas anderes als Wut nötig, um Ja zum Leben zu sagen.

Dem Leben vertrauen

Подняться наверх