Читать книгу Dem Leben vertrauen - Rachel Naomi Remen - Страница 16

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Das Richtige tun

Ich hatte George zum ersten Mal getroffen, als er im vierten Schuljahr war; in diesem Jahr hatte man bei seinem Vater Prostatakrebs festgestellt. Nun, in seinem letzten Schuljahr, kam er wegen eines Problems zu mir, das er, wie er meinte, mit niemand anders besprechen konnte. Damals, als sein Vater erkrankt war, hatte George vor allem sein Mitbewohner Michael zur Seite gestanden. Inzwischen befand sich Michael in Schwierigkeiten; Er war in eine Gruppe geraten, die zur Unterhaltung Kokain nahm. George hatte das Gefühl, dass Michael dabei war, süchtig zu werden. Alle vorsichtigen Bemühungen, dies anzusprechen, verhallten ungehört. Michael war ohne Weiteres in der Lage, seine Sucht zu kontrollieren, und brachte in der Schule weiterhin gute Leistungen, sodass außer George niemandem etwas auffiel.

George war praktizierender Buddhist. Seiner Meinung nach war es ein essenzieller Bestandteil dieser Lehre, etwas weder zu verurteilen noch sich darin einzumischen. Es war George nicht leichtgefallen, eine solche Haltung einzunehmen. Zu Hause bei seinen Eltern war es üblich, einander zu kritisieren und vorzuschreiben, wie man zu leben hatte. Es fiel George zunehmend schwerer, Michael gegenüber seinen vom Buddhismus geprägten Standpunkt beizubehalten, denn Michael wurde in seinem Verhalten immer unberechenbarer. George wusste nicht mehr, was er tun sollte, und war gekommen, um sich Klarheit zu verschaffen.

Eines Abends, als George eine junge Frau mit nach Hause brachte, die ihm viel bedeutete, kam es zum Eklat. Als er die Wohnung betrat, lag Michael ohne Hemd und völlig weggetreten im Wohnzimmer auf dem Boden. Er hatte sich übergeben und dabei mit seinem Erbrochenen besudelt.

„Ich sah den Ausdruck in Liz’ Gesicht und rastete total aus“, erzählte mir George reumütig. „Ich riss Michael hoch, schob ihn ins Bad, drehte die Dusche auf und schubste ihn hinein. Ich weiß noch, wie ich dastand und das kalte Wasser auf uns beide spritzte, wie ich ihn gegen die Wand knallte und ihm die gemeinsten Dinge an den Kopf warf. Ich beschimpfte ihn wüst. Ich sagte ihm alles, was seit Monaten in mir gärte, was ich aber unterdrückt hatte. Und dann stellte ich ihm ein Ultimatum: Entweder würde er mit dem Koksen aufhören oder ausziehen. Es war einfach nicht zu ertragen, mit anzusehen, wie er sich zugrunde richtete. Sobald er wieder einigermaßen bei sich war, zog ich mich um und ging mit Liz zu ihr nach Hause.“

Am nächsten Morgen war George zerknirscht und deprimiert. Zehn Jahre buddhistischer Praxis lagen hinter ihm, und er hatte sich dennoch genauso verhalten, wie es sein Vater getan hätte. Es war ihm nicht gelungen, seinem Anspruch gerecht zu werden und mit Mitleid zu reagieren. Er hatte Michael verurteilt und war bitter enttäuscht von sich. Er fürchtete sich davor, in die Wohnung zurückzukehren. Vielleicht würde Michael nicht mehr dort sein.

Aber Michael war dort. Blass und offensichtlich leidend, aber in aufrechter Haltung, saß er auf der Couch und wartete. Sie redeten miteinander. George erfuhr Dinge, von denen er nichts gewusst hatte. Zum Beispiel, dass Michael, das einzige Kind prominenter und reicher Eltern, von fremden Leuten, die man dafür bezahlt hatte, aufgezogen und mit sieben Jahren in ein Internat gesteckt worden war. Zum Beispiel, dass man ihn jeden Sommer in ein Ferienlager geschickt hatte, dass er alles bekommen hatte, was er sich gewünscht hatte, aber niemand da gewesen war, der ihn beachtet oder sich für ihn Zeit genommen hätte. Niemand hatte sich je so um ihn und das, was er machte, gekümmert wie George in der vergangenen Nacht.

Unter der Dusche hatte Michael begriffen, dass er George etwas bedeutete, dass sein Verhalten George quälte. Leise erzählte er George, dass er in Schwierigkeiten stecke, es seit Monaten wisse, aber nicht die geringste Hoffnung gehegt habe, dass irgendjemand bereit sein würde, ihm zu helfen oder sich Zeit für ihn zu nehmen. „Hilfst du mir, George?“, fragte er und fing an zu weinen.

Das alles geschah vor einigen Jahren, und die Geschichte nahm ein glückliches Ende. Ein Jahr lang nahmen die beiden Freunde jeden Abend an einer Therapie für Kokainsüchtige teil. Es fiel ihnen nicht leicht, aber gemeinsam schafften sie es. Michael ist jetzt ein erfolgreicher Geschäftsmann, hat eine liebevolle Frau geheiratet und ist inzwischen Vater eines Kindes. Und George hat, wenn er über diese Zeit nachdenkt, das Gefühl, etwas Wichtiges gelernt zu haben.

„Ich habe immer versucht, alles richtig zu machen. Eingespannt in meine Religion und die Berufsausbildung, habe ich immer an mir gearbeitet, um in meinen Reaktionen und Gefühlen vorbildlich zu werden. Dabei ist mir nie eingefallen, dass meine Persönlichkeit so in Ordnung sein könnte, wie sie war. Wenn Gott gewollt hätte, dass Michael mit dem Buddha zusammenlebte, hätte er ihm den Buddha als Zimmergenossen gegeben. Stattdessen gesellte er Michael einen engagierten Jungen aus der Mittelschicht zu, der aus einem konservativen Elternhaus im Mittleren Westen stammte und dessen Eltern niemals auch nur angetrunken waren. Als ich meiner Persönlichkeit entsprechend zu handeln begann, tat ich endlich das Richtige. Im Grunde hatte ich Michael nichts anderes zu geben als meine Integrität. Und das genügte vollauf.“

Dem Leben vertrauen

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