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3. Hintergrund und Entwicklung
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a) Die gesetzliche Unfallversicherung verfolgt zwei Anliegen: den Schutz der Versicherten durch eine leistungsfähige Versicherung (Soziales Schutzprinzip) und, damit verbunden, den Ausschluss der privatrechtlichen Schadensersatzhaftung des Unternehmers und weiterer Personen. Man spricht in Bezug auf Letzteres üblicherweise vom Prinzip der Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz[2]. Die Freistellung von der privatrechtlichen Schadensersatzhaftung ist aber inzwischen, insbesondere im Zusammenhang mit der Einordnung der Unfallversicherung in das SGB 1997, über die Haftungsersetzung hinaus so weit fortentwickelt worden, dass man nunmehr zugleich von einer „sozialen Haftpflichtversicherung“ sprechen kann (Rn 353).
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An sich käme, wenn sich ein Arbeitsunfall ereignet, das Privatrecht zum Zug. Das privatrechtliche Vertrags- und Deliktsrecht würde aber selbst in seiner heutigen Ausgestaltung nicht zu einem rechtlich angemessenen Ausgleich der Arbeitsunfallschäden führen. Gewiss hat sich das privatrechtliche Haftungsrecht vor allem in den letzten Jahrzehnten verändert, allgemein ist dort die Grenze zwischen Unglück und justiziablem Unrecht im Sinn der Anerkennung einer weitgehenden Ausgleichsbedürftigkeit eintretender Schäden verschoben worden. Im Zusammenhang mit den Gefahren der Technisierung und des Verkehrs ist es vor allem zu einem Ausbau der Gefährdungshaftung gekommen. Hinzu kommen Beweiserleichterungen im materiellen Schadensrecht und im Prozessrecht. Schließlich verdeutlicht die Erweiterung der Verkehrssicherungspflichten die Entwicklung des privatrechtlichen Haftungsrechts von einer Haftung allein für subjektives Verschulden zu einer Haftung auf der Grundlage objektiver Zurechnungskriterien. Diese Veränderungen würden auch bei der privatrechtlichen Ausgleichung von Arbeitsunfallschäden bedeutsam sein.
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Warum es zu der gesetzlichen Unfallversicherung gekommen ist, die auch in der Gestalt des SGB VII neben dem Versicherungsschutz durch den Ausschluss der privatrechtlichen Schadensersatzhaftung gekennzeichnet ist, zeigt der Blick auf das Haftungsrecht des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Das privatrechtliche Deliktsrecht folgte – obwohl sich die Lebenswirklichkeit in Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts mit inzwischen weit vorangeschrittener Industrialisierung entscheidend verändert hatte – dem Prinzip der Verschuldenshaftung[3]. Es war der Arbeitsunfall, an dem sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Fragwürdigkeit eines auf dem Verschuldensprinzip beruhenden privatrechtlichen Haftungsrechts zeigte. Die Industrialisierung hatte zu einem enormen Ansteigen der Arbeitsunfälle geführt. Arbeitsunfälle bei der Industriearbeit hatten zudem ganz andere Schadensfolgen als Arbeitsunfälle bei der Landarbeit oder im Handwerk. Der Arbeitsunfall nahm dem Arbeiter und seiner Familie meist die Existenzgrundlage. Ersatz des Unfallschadens, vor allem des Erwerbsausfallschadens, war nach dem Privatrecht aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen so gut wie nicht zu bekommen. Ohnehin gehen Arbeitsunfälle oft auf ein Selbstverschulden des Verletzten zurück, dafür gibt es keinen zivilrechtlich Haftenden.
Auch wenn es sich um einen Unrechtsschaden handelte, für den ein Dritter verantwortlich war, war es im ausgehenden 19. Jahrhundert nahezu aussichtslos, die privatrechtlichen Haftungsansprüche durchzusetzen. Nur selten bestanden Ansprüche aus Vertragsverletzung oder Delikt gegen den Unternehmer selbst, der ja typischerweise Leitungsfunktion hat. Hatte der Unternehmer Auswahl- oder Überwachungspflichten schuldhaft verletzt, sodass seine Haftung in Betracht kam, scheiterte seine Inanspruchnahme meist, weil die Arbeiter das Geld für einen Prozess nicht aufbringen konnten, weil die Schadensersatzklage sie und die als Zeugen aussagenden Arbeitskollegen den Arbeitsplatz gekostet hätte oder weil der Verschuldensnachweis nach den damals geltenden Beweisregeln nicht zu führen war. Ansprüche gegen andere Beschäftigte und auch gegen Aufsichtspersonen waren in aller Regel nichts wert.
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b) Um auf das Arbeitsunfallrisiko der Lohnarbeit angemessen zu reagieren, war sofort nach der Reichsgründung das Reichshaftpflichtgesetz von 1871 erlassen worden. Dieses traf eine privatrechtliche Lösung:
Der Unternehmer haftete gemäß § 2 RHG in einigen mit besonderen Gefahren verbundenen Gewerben auch für das (bewiesene) Verschulden des leitenden Personals. Diese (durchaus bescheidene) Ausweitung der privatrechtlichen Unternehmerhaftung war mit einer versicherungsrechtlichen Komponente verbunden. Gemäß § 4 RHG wurden dem Verletzten erbrachte Versicherungsleistungen auf den Schadensersatzanspruch angerechnet, wenn der Unternehmer sich zu wenigstens einem Drittel an den Prämien der Unfallversicherung beteiligt hatte. Das RHG hat sich als nicht ausreichend erwiesen. Man hätte theoretisch aber durchaus die privatrechtliche Haftung für Arbeitsunfallschäden der Lebenswirklichkeit weiter anpassen können, man hätte insbesondere eine Gefährdungshaftung einführen können, um den mit industriell organisierter Arbeit typischerweise verbundenen Zufallsschaden angemessen zuzuweisen. Das Haftungsrisiko wäre dann auf der Basis privatrechtlicher Verträge zu versichern gewesen. Wie eine privatrechtliche Lösung heute etwa aussehen könnte, zeigt uns die Kfz-Haftpflichtversicherung: Die Schadensersatzhaftung ist dort als Gefährdungshaftung ausgestaltet und mit der Verpflichtung zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung gekoppelt. Dem Geschädigten wird sodann ein direkter Anspruch gegen die Haftpflichtversicherung eingeräumt. Es ist aber nicht zu einer Fortentwicklung der mit dem Reichshaftpflichtgesetz von 1871 gewählten privatrechtlichen Lösung gekommen.
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c) Die Lösung Bismarcks war die öffentlich-rechtliche Unfallversicherung, eingeführt mit dem Unfallversicherungs-Gesetz von 1884. Die gesetzliche Unfallversicherung basiert seit ihren Anfängen auf einer Versicherungskonzeption. Insbesondere die (in einem Arbeitsverhältnis) Beschäftigten sind gegen das Risiko des Arbeitsunfalls (und das Risiko einer Berufskrankheit) versichert. Das gilt, wenn unter den Voraussetzungen des privatrechtlichen Haftungsrechts der Arbeitgeber oder Arbeitskollegen den Schaden zu tragen hätten, genauso gut aber, wenn der Schaden vom Verletzten selbst verschuldet worden ist. Damit erreicht die Versicherungskonzeption der gesetzlichen Unfallversicherung eine Lösungsbreite (Entschädigung bei Verschulden des Schädigers, bei Zufall und bei Selbstverschulden des Geschädigten), die eine privatrechtliche Haftpflichtkonzeption auch auf moderner Basis einer Gefährdungshaftung nicht erreichen könnte. Zugleich ist die Versicherungskonzeption der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Frage der privatrechtlichen Haftung eng verbunden. Es ist ja zu bedenken, dass der Verletzte nicht sowohl die Unfallversicherungsleistung als auch den privatrechtlichen Schadensersatz erhalten darf. Die gesetzliche Unfallversicherung löst die Frage, indem sie mit der Versicherungskonzeption von jeher die Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz verbindet. Mit der Finanzierung der gesetzlichen Unfallversicherung wird dem Arbeitgeber auch die privatrechtliche Haftung (gegen eine entsprechende Erhöhung des Beitragsvolumens) abgenommen. Der Unternehmer ist den in § 104 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 SGB VII näher beschriebenen Versicherten sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen wegen eines Personenschadens nur schadensersatzpflichtig, wenn er den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem gemäß § 8 Abs. 2 Nr 1–4 SGB VII versicherten Weg herbeigeführt hat. Die gesetzliche Unfallversicherung hat für die Unternehmer damit die Funktion einer Haftpflichtversicherung. Ein Forderungsübergang gemäß § 116 SGB X, der normalerweise das Spannungsverhältnis von Sozialrecht und Privatrecht auflöst (Rn 5, 37, 40, 678 ff), findet nicht statt (§ 104 Abs. 1 S. 2 SGB VII). Eine strukturgleiche Regelung trifft das Unfallversicherungsrecht (insbesondere) für Arbeitskollegen. Die Haftungsfreistellung gehört zum Kernbestand des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung seit es die gesetzliche Unfallversicherung gibt. Sie ist in der Folgezeit, erneut durch das SGB VII, fortentwickelt worden. Zahlreiche andere Staaten, etwa Österreich oder Frankreich, kennen ebenfalls die Haftungsfreistellung als Kernelement des Unfallversicherungssystems.
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Zusammengefasst gewährt die gesetzliche Unfallversicherung also Versicherungsschutz gegen die Folgen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, und zwar ohne Rücksicht auf die privatrechtliche Haftungslage. Der Arbeitgeber und insbesondere die Arbeitskollegen werden zugleich von ihrer Haftung gegenüber dem Geschädigten freigestellt (§§ 104 ff SGB VII). Damit hat die gesetzliche Unfallversicherung zugleich die Funktion einer Haftpflichtversicherung. Die öffentlich-rechtliche Versicherungslösung der gesetzlichen Unfallversicherung hat dem Privatrecht einen nennenswerten Teil des Haftungsrechts weggenommen. Bedenkt man zudem, dass auch Kranken- und Rentenversicherung wegen der Regressmöglichkeit namentlich bei Krankheit auf Grund eines haftungsrechtlich relevanten Unfallereignisses das privatrechtliche Haftungsrecht beeinflussen – es in wesentlichen Hinsichten zu einem Sachschadens- und Schmerzensgeldrecht machen, wie die Vielzahl der Haftungsprozesse zeigt –, ist die Bedeutung des Sozialrechts für das privatrechtliche Haftungsrecht offenkundig. Kein Lehrbuch, das dem Schadensrecht größere Aufmerksamkeit schenkt, und keiner der praxisorientierten Leitfäden zum Haftpflichtrecht kommt ohne Darstellung der Einflüsse des Sozialversicherungsrechts auf das privatrechtliche Schadensersatzrecht aus.