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a) Versicherung kraft Gesetzes
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Die Versicherung kraft Gesetzes ist im Einzelnen in § 2 SGB VII geregelt. § 2 Abs. 1 SGB VII zählt zunächst in 17 Ziffern auf, welche Personenkreise kraft Gesetzes unfallversichert sind.
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aa) Unfallversichert sind vor allem gemäß § 2 Abs. 1 Nr 1 SGB VII Beschäftigte iSv § 7 Abs. 1 SGB IV (Rn 126 ff).
Anders als im Krankenversicherungsrecht (siehe § 5 Abs. 1 Nr 1 SGB V) muss es sich nicht um eine Beschäftigung gegen Entgelt handeln. Für § 2 Abs. 1 Nr 1 SGB VII genügt es, dass jemand überhaupt beschäftigt ist. Weder die Geringfügigkeit einer Beschäftigung noch die aus anderen Sozialversicherungszweigen bekannten Versicherungspflichtgrenzen nach oben spielen also eine Rolle. Auch ehrenamtliche Tätigkeit schließt eine Beschäftigung nicht aus[5].
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bb) § 2 Abs. 1 Nr 2–7 SGB VII nennen weitere mit der Beschäftigung in abhängiger Arbeit in Zusammenhang stehende Personenkreise und bestimmte Unternehmer, bei denen das Gesetz davon ausgeht, dass sie ebenso schutzbedürftig sind wie Beschäftigte[6].
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cc) Die Tatbestände des § 2 Abs. 1 Nr 8–17 SGB VII bezeichnen die in der „unechten“ Unfallversicherung Versicherten.
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(1) Seit 1971 sind Kinder während des Besuchs von Tageseinrichtungen, Schüler während des Besuchs von allgemein- oder berufsbildenden Schulen und Studierende während der Aus- und Fortbildung an den Hochschulen unter den näheren Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Nr 8a, b und c SGB VII versichert. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr 12 SGB VII sind Personen unfallversichert, die in Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen oder im Zivilschutz unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich tätig sind oder an Ausbildungsveranstaltungen dieser Unternehmen teilnehmen.
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(2) Gemäß § 2 Abs. 1 Nr 13 SGB VII sind ua Personen versichert, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr[7] oder Not Hilfe leisten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retten, Blut oder körpereigene Organe, Organteile oder Gewebe spenden und Personen, die sich bei der Verfolgung oder Festnahme einer Person, die einer Straftat verdächtig ist, oder zum Schutz eines widerrechtlich Angegriffenen persönlich einsetzen. Kennzeichnend ist hier regelmäßig (anders § 2 Abs. 1 Nr 15 SGB VII), dass kein Bezug zur Beschäftigung in abhängiger Arbeit besteht, ferner fehlt es teilweise an einem dauernden Versicherungsverhältnis zu einem bestimmten Unfallversicherungsträger und an der Beitragszahlung. Die Versicherten erhalten etwa für Unfälle bei den in § 2 Abs. 1 Nr 13 SGB VII genannten Tätigkeiten eine Entschädigung nach den Regeln der gesetzlichen Unfallversicherung, obwohl es sich in der Systematik des Sozialrechts um Fälle handelt, die dem Bereich der Sozialen Entschädigung zuzurechnen sind. Dabei hat dieser Bereich eine insgesamt gesehen durchaus beträchtliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung. Das leuchtet für die gesetzliche Unfallversicherung der Kinder, Schüler und Studierenden, aber auch der ehrenamtlich Tätigen (§ 2 Abs. 1 Nr 10a und b SGB VII), der vielen unentgeltlich im Gesundheitswesen oder in der Wohlfahrtspflege Tätigen oder der ca. drei Millionen Blutspender ohne weiteres ein. Versichert sind auch Personen, die als Freiwillige einen Freiwilligendienst aller Generationen leisten (§ 2 Abs. 1a SGB VII) sowie nach Maßgabe von § 2 Abs. 3 SGB VII Freiwilligendienste mit Auslandsbezug[8].
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(3) Im Zusammenhang mit der Versicherung kommt auch hier der Haftungsausschluss nach den Regeln der gesetzlichen Unfallversicherung in Betracht. Die unfallversicherungsrechtliche Haftungsfreistellung (§§ 104 ff SGB VII, Rn 342 ff) gilt gemäß § 106 Abs. 1, 2 SGB VII für Kinder, Schüler und Studierende und bei der Pflege im Rahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung. Daraus resultiert ein über den mit der Beschäftigung in abhängiger Arbeit zusammenhängenden Bereich hinausgehender praxisrelevanter Ausschluss des bürgerlich-rechtlichen Haftungsrechts. Das durch Versicherung und Haftungsfreistellung gekennzeichnete Modell der gesetzlichen Unfallversicherung ist weit über den Bereich der eigentlichen Arbeitsunfälle hinaus fortentwickelt worden. Wegen ihrer gesetzessystematischen Einordnung spricht man auch in den Fällen der „unechten“ Unfallversicherung von „Arbeitsunfällen“. Man hat übrigens darüber nachgedacht, ob nicht das durch Versicherung und Haftungsfreistellung gekennzeichnete Modell der gesetzlichen Unfallversicherung auf den Bereich des Straßenverkehrs übertragen werden sollte[9], und es ist die Frage aufgeworfen worden, ob das Modell der gesetzlichen Unfallversicherung nicht einer modernen Arzthaftung als Vorbild dienen könnte[10].
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dd) Gemäß § 2 Abs. 2 SGB VII sind über die in § 2 Abs. 1 Nr 1–17 SGB VII genannten Personenkreise hinaus die sog. „Wie-Beschäftigten“ versichert. Das sind Personen, die wie nach § 2 Abs. 1 Nr 1 SGB VII Versicherte, also wie Beschäftigte, tätig werden. Der Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 2 SGB VII ist gegenüber dem nach § 2 Abs. 1 Nr 1 SGB VII subsidiär (Rn 298).
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(1) Die Wie-Beschäftigung ist dadurch gekennzeichnet, dass keine Versicherung als Beschäftigter nach § 2 Abs. 1 Nr 1 SGB VII besteht, aber in einer wertenden Gesamtwürdigung im Sinn der typologischen Methode (Rn 132) folgende Merkmale erkennbar sind[11]: (1) Es muss sich um eine ernstliche, einem fremden Unternehmen wesentlich dienende Tätigkeit mit (wenn auch nur geringem) wirtschaftlichem Wert handeln; (2) diese muss in Übereinstimmung mit dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen des Unternehmers stehen; (3) es muss sich um eine Tätigkeit handeln, die ihrer Art nach von Personen verrichtet werden kann, welche in einer dem allgemeinen Arbeitsmarkt zugänglichen Beschäftigung stehen[12]; (4) die Verrichtung muss unter Umständen erfolgen, die einer Tätigkeit auf Grund einer Beschäftigung ähnlich sind; sie muss also der Handlungstendenz nach durch Fremdbestimmung gekennzeichnet sein und nicht eher einer unternehmerischen Tätigkeit ähneln.
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(2) Zweck des § 2 Abs. 2 SGB VII ist es, den Versicherungsschutz bei (der Handlungstendenz nach) fremdnützigem „arbeitnehmerähnlichem“ Handeln nicht vom Bestehen einer formellen Beschäftigung abhängig zu machen und auch kurzfristige, vorübergehende oder einmalige Verrichtungen, auch aus Gefälligkeit, in den Versicherungsschutz einzubeziehen. Vor dem Hintergrund des weit gefassten unfallversicherungsrechtlichen Unternehmerbegriffs[13] hat § 2 Abs. 2 SGB VII einen auf den ersten Blick ungeahnt weiten Anwendungsbereich im nicht gewerbsmäßigen privaten Bereich (wie etwa dem Haushalt, bei zum Eigenbedarf selbst ausgeführten Bauarbeiten oder im Zusammenhang mit der Kfz-Haltung). Das hat auch Bedeutung für die Frage der Haftung: Besteht Versicherungsschutz gemäß § 2 Abs. 2 SGB VII, kommt es gemäß §§ 104 ff SGB VII zum Haftungsausschluss (Rn 343 f, 345 ff).
Beispiele für angenommene Wie-Beschäftigung: Anschieben eines Fahrzeugs, dessen Motor nicht anspringt, wenn es nicht lediglich um eine ganz geringfügige Handreichung geht (BSGE 35, 140 ff); anders aber das Schieben eines Pkw von der Autobahn, wenn die Voraussetzungen der Hilfe bei Unglücksfällen vorliegen, der Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr 13a SGB VII geht vor (BSG, NZS 1993, 172 ff mwN); Reparatur, Reifenwechsel oder Waschen eines Pkw (vgl BGH, NJW 1987, 1643 f = SGb 1988, 28 ff mit Anm. Mummenhoff); Renovierung der Wohnung mit Freunden (LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1994, 386 ff); Mithilfe von Freunden aus Gefälligkeit beim Bau eines Einfamilienhauses (BSG, NJW 2004, 966 f)[14]; anders aber weisungsfreies Anbringen einer Dachrinne am Elternhaus durch selbstständigen Hochbautechniker (BSG, NZS 2006, 257 ff) oder Gefälligkeit aufgrund verwandtschaftlichen Verhältnisses (LSG Berlin-Brandenburg, BeckRS 2009, 55723).
One-Page-Fall: BSG, NZS 2019, 34 (Brose): Unterstützung im Unternehmen des Ehegatten.
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ee) Was das Verhältnis der einzelnen Tatbestände des § 2 SGB VII zueinander angeht, ist § 135 SGB VII einschlägig. Danach geht meist die Versicherung nach § 2 Abs. 1 Nr 1 SGB VII einer anderen Versicherung vor. Das gilt namentlich gegenüber der Versicherung durch „Wie-Beschäftigung“ (§ 135 Abs. 1 Nr 7 SGB VII). Die Ausnahme bilden § 135 Abs. 4, Abs. 4a und Abs. 5 SGB VII.
Beispiele: (1) Erleidet der Arbeitnehmer durch seine im Rahmen von Verpflichtungen aus der Beschäftigung liegende Hilfe bei einem Unglücksfall Schaden, besteht Versicherungsschutz gemäß § 2 Abs. 1 Nr 1 SGB VII, auch wenn zugleich die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 Nr 13a SGB VII vorliegen (§ 135 Abs. 1 Nr 5 SGB VII). Die praktisch wichtige Konsequenz ist, dass nicht der zuständige Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand, sondern die für den Betrieb zuständige Berufsgenossenschaft eintritt. (2) Erleidet die im landwirtschaftlichen Unternehmen ihres Mannes M auf der Basis eines Arbeitsverhältnisses mitarbeitende F einen Arbeitsunfall, geht ihre nach § 2 Abs. 1 Nr 5a SGB VII bestehende Versicherung der Versicherung gemäß § 2 Abs. 1 Nr 1 SGB VII vor (§ 135 Abs. 4 SGB VII).