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III. Sozialrecht und Verwaltungsrecht

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Schrifttum: Henke, Die Rechtsformen der sozialen Sicherung und das allgemeine Verwaltungsrecht, VVDStRL 28 (1970), 149; Kingreen/Rixen, Sozialrecht: Ein verwaltungsrechtliches Utopia? DÖV 2008, 741; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005; ders., Sozialrecht und allgemeines Verwaltungsrecht, in: Masuch et al. (Hrsg.), Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht, Bd. 1, 2014, S. 351; Rüfner, Die Rechtsformen der sozialen Sicherung und das Allgemeine Verwaltungsrecht, VVDStRL 28 (1970), 187; Schnapp, Sozialrecht und Verwaltungsrecht, SGb 1979, 200.

Fall 2:

(nach BSGE 91, 1 ff): Die im Mai 1936 geborene A sprach im Mai 1995 bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vor und informierte sich über die für sie in Betracht kommenden Möglichkeiten, Altersrente zu beziehen. Ihr wurde, fehlerhaft, mitgeteilt, dass sie erst im Alter von 65 Jahren die Altersrente in Anspruch nehmen könne. Als A erfährt, dass sie doch schon mit 60 Jahren eine Altersrente für Frauen hätte in Anspruch nehmen können, beantragte sie am 15.2.2000 die Bewilligung einer Altersrente für Frauen ab dem 1. Juni 1996. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte lehnte den Rentenantrag ab. Rn 29, 371

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1. Das Sozialrecht als Rechtsgebiet zählt zum öffentlichen Recht, es ist ein Teilgebiet des Besonderen Verwaltungsrechts. Für den Bereich des als rein einseitige staatliche Leistung zu erbringenden Sozialrechts (zB WoGG, BKGG, BAföG) versteht sich dies von selbst. Der Bereich der Sozialversicherung ist durch den Zusammenschluss von Risikogemeinschaften gekennzeichnet, der, wie das Versicherungswesen allgemein zeigt, auch privatrechtlich organisiert sein kann. Seit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung ist die Sozialversicherung aber aus heute noch tragfähigen Gründen öffentlich-rechtlich verfasst. Auf der Leistungserbringung durch Träger hoheitlicher Gewalt beruht deren grundsätzlich öffentlich-rechtliche Handlungsweise.

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2. Der Gesetzgeber hat den Sozialleistungsträgern dafür mit dem 1. Kapitel des SGB X ein spezielles Verwaltungsverfahrensgesetz an die Hand gegeben (§§ 1–66 SGB X, Rn 647 ff). Dieses kennt im Wesentlichen dieselben Begriffe und Institute wie die allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder, deren Regelungen weitestgehend wörtlich übernommen sind. Auf die Erfordernisse des Sozialrechts zugeschnittene Besonderheiten finden sich vor allem hinsichtlich der Bestandskraft von Verwaltungsakten (Leistungsbescheiden); hier ist der Vertrauensschutz zu Gunsten des Sozialleistungsempfängers verstärkt und die Bindungswirkung in seinem Interesse abgeschwächt (siehe §§ 39 ff SGB X).

Man kann also auf die Rechtskenntnisse im Verwaltungsrecht zurückgreifen, die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Regeln und Prinzipien beanspruchen auch für das Sozialverwaltungsrecht Geltung. Auch im Sozialverwaltungsrecht begegnet insbesondere die Handlungsform des Verwaltungsakts (§ 31 SGB X entspricht § 35 VwVfG). Allerdings steht im Sozialverwaltungsrecht der Aspekt der Leistungsverwaltung im Vordergrund. Bekanntlich ist der Rechtsbegriff des Verwaltungsakts in seiner ursprünglichen Konzeption an der (punktuellen) polizeilichen Verfügung orientiert. Was die Bedeutung und Tauglichkeit des Instruments des Verwaltungsakts für den Bereich der Leistungsverwaltung angeht, kann indessen heute auf gesicherte Erkenntnisse der verwaltungsrechtlichen Lehre zurückgegriffen werden.

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3. Eine Besonderheit des Sozialrechts besteht darin, dass nicht selten die Leistungsverhältnisse und zudem die sozialrechtlichen Mitgliedschafts- und Beitragsverhältnisse Dauerrechtsverhältnisse sind. So wie begrifflich die Verwaltungsrechtslehre das Verwaltungsrechtsverhältnis als einen speziellen Fall des Rechtsverhältnisses ansieht und als besonderen Fall des Verwaltungsrechtsverhältnisses das verwaltungsrechtliche Schuldverhältnis kennt, spricht das Sozialrecht von dem Sozialrechtsverhältnis als öffentlich-rechtlichem (Dauer-)Schuldverhältnis, das mit dem zentralen Begriff des Verwaltungsakts nicht vollständig erfasst werden kann[33]. Die Affinität des Sozialrechtsverhältnisses zum privatrechtlichen Schuldverhältnis ist offenkundig. Es kann nicht verwundern, dass vor diesem Hintergrund zahlreiche der in §§ 38–59 SGB I geregelten Grundsätze des Leistungsrechts aus dem Privatrecht bekannt sind. Erfüllen Sozialleistungsträger ihre öffentlich-rechtlichen Pflichten nicht, besteht nach Grundsätzen der Rechtsprechung und Lehre auf der Basis des öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnisses zwischen den Bürgern und dem Sozialleistungsträger ein im Weg richterlicher Rechtsfortbildung entwickelter verschuldensunabhängiger Herstellungsanspruch[34].

Dieser vom BSG richterrechtlich entwickelte verschuldensunabhängige sozialrechtliche Herstellungsanspruch knüpft an die Verletzung behördlicher Auskunfts-, Beratungs- und Betreuungspflichten (als Nebenpflichten im Sozialrechtsverhältnis) einen Anspruch auf Naturalrestitution[35]. Voraussetzung des Herstellungsanspruchs ist, dass eine Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers vorliegt, die kausal zu einem Nachteil des Anspruchstellers geführt hat. Er ist gerichtet auf die „Vornahme einer Rechtshandlung zur Herstellung desjenigen Zustandes (…), der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger die ihm aus dem Sozialleistungsverhältnis erwachsenen Nebenpflichten ordnungsgemäß wahrgenommen hätte“[36]. Im Einzelnen darf der sozialrechtliche Herstellungsanspruch nicht dazu führen, dass eine Amtshandlung vorgenommen wird, die auf ein gesetzwidriges Verhalten des Sozialleistungsträgers hinausliefe[37]. In diesen Fällen scheidet der Herstellungsanspruch, trotz Vorliegens seiner Voraussetzungen, nach dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) aus. Mit dem Herstellungsanspruch kann also nur eine Amtshandlung begehrt werden, die mit dem jeweiligen Gesetzeszweck in Einklang steht, die also nicht nur ihrer Bezeichnung, sondern auch ihrer wesentlichen Struktur nach im Gesetz vorgesehen ist[38]. Ferner darf durch den Herstellungsanspruch keine Tatbestandsvoraussetzung umgangen werden, deren Nichtvorliegen nicht auf dem fehlerhaften Verhalten des Sozialleistungsträgers beruht, oder von der der Antragsteller nicht befreit werden kann[39]. Zugleich ist stets im Auge zu behalten, welche Regelungslücke der auf richterlicher Rechtsfortbildung beruhende sozialrechtliche Herstellungsanspruch schließt: Er soll, wie das BSG formuliert[40], eine Lücke im Schadensersatzrecht schließen, die dadurch entsteht, dass im Weg der Amtshaftung keine Naturalrestitution begehrt werden kann. Ein Herstellungsanspruch scheidet mithin aus, wenn die Folgen einer Pflichtverletzung abschließend geregelt wurden (zB bei fehlender Arbeitslosmeldung gemäß § 141 Abs. 3 SGB III). Es muss somit eine Regelungslücke bestehen; das Begehren des Bürgers darf nicht schon mittels vorhandener Normen lösbar sein. Von einem Schadensersatzanspruch im Weg der Amtshaftung unterscheidet sich der Herstellungsanspruch gerade durch die Möglichkeit, eine Amtshandlung zu erzwingen. Begehrt der Anspruchsteller dagegen eine Entschädigungszahlung, lässt sich dies nur mit dem Amtshaftungsanspruch (§ 839 BGB iVm Art. 34 GG) erreichen. Gleichwohl kann Anspruchsinhalt des Herstellungsanspruchs aber auch eine Geldzahlung sein, wenn die begehrte und aufgrund einer Pflichtverletzung nicht gewährte Sozialleistung eine Geldleistung ist (zB eine Rente).

Im Ausgangsfall 2 stand A materiell-rechtlich – nach dem bis Ende 1999 geltenden Recht – gemäß § 39 S. 1 SGB VI aF mit 60 Jahren Rente zu, allerdings nur unter der Voraussetzung eines unter Beachtung von § 99 Abs. 1 S. 2 SGB VI gestellten Antrags (vgl dazu unten Rn 396). Dieses Gestaltungsrecht hat A jedoch nicht rechtzeitig ausgeübt. Der richterrechtlich entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch bewirkt aber, dass A so zu behandeln ist, als ob sie den Antrag schon 1996 gestellt hätte. Denn der Antrag unterblieb aufgrund einer fehlerhaften Beratung, sodass eine Pflichtverletzung vorliegt, die kausal für die nachteilige Disposition der A war. Damit steht A ein Anspruch auf Altersrente rückwirkend vom 1. Juni 1996 an zu. Diese Rechtsfolge führt auch nicht zu einem gesetzwidrigen Zustand und kann daher im Weg des Herstellungsanspruchs verlangt werden[41].

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4. Der öffentlich-rechtlichen Konzeption des Sozialrechts folgt naturgemäß der Rechtsschutz. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in sozialrechtlichen Angelegenheiten gehen zum Teil vor die allgemeinen Verwaltungsgerichte und zum Teil vor die Sozialgerichte als besondere Verwaltungsgerichte (Rn 691).

1. Teil Einführung in das Sozialrecht§ 1 Sozialrecht in der Rechtsordnung › IV. Sozialrecht und Privatrecht

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