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1. Soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit
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Die soeben unternommene Annäherung an den (letztlich nicht eindeutig definierbaren) materiellen Begriff des Sozialrechts erfolgte von der Aufgabe her. Der Gesetzgeber hat vor dem Hintergrund der Verfassung in § 1 SGB I die Aufgaben des Sozialgesetzbuchs beschrieben. Im Mittelpunkt stehen dabei die das Sozialstaatsprinzip konkretisierenden (unbestimmten) Rechtsbegriffe der „sozialen Gerechtigkeit“ und „sozialen Sicherheit“. Die Aufgaben des Sozialrechts lassen sich allerdings letztlich genauso wenig exakt umreißen wie der materielle Begriff des Sozialrechts.
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a) Soziale Gerechtigkeit im Sinn von § 1 Abs. 1 S. 1 SGB I ist erreicht, wenn jeder Mensch die Chance hat, die seinen individuellen Kräften und Fähigkeiten entsprechende soziale Stellung in der Gesellschaft zu erlangen[3]. Es geht um Verwirklichungschancen.
Die Grundlage für eine mögliche Wahrnehmung der Chance, eine den individuellen Kräften und Fähigkeiten entsprechende soziale Stellung zu erlangen, liegt in einer guten schulischen und beruflichen Aus- und Fortbildung sowohl der jungen Menschen als auch (das hat zunehmende Bedeutung) der bereits im Berufsleben Stehenden. Deshalb ist die Ausbildungs- und Arbeitsförderung (§ 3 SGB I; BAföG und SGB III) eine der Aufgaben des Sozialrechts. Soziale Gerechtigkeit fördert das Sozialrecht aber auch in der Weise, dass es den Zugang zu beitragsfinanzierten Sozialversicherungssystemen eröffnet (§ 4 SGB I) und in den Sozialversicherungssystemen die Beitragshöhe an das Einkommen und nicht an das zu versichernde Risiko knüpft. Der Gedanke sozialer Gerechtigkeit liegt auch der Entschädigung zu Grunde, wenn jemand einen Gesundheitsschaden erleidet, für dessen Folgen die staatliche Gemeinschaft einsteht, weil die Allgemeinheit für den Gesundheitsschaden eine gesteigerte Verantwortung trägt (§ 5 SGB I); dies betrifft Opfer von Kriegs- und Wehrdienst, von Straftaten oder von behördlich angeordneten oder empfohlenen Impfungen (Rechtsgrundlagen sind das BVG, das OEG, §§ 56 ff IfSG). Der sozialen Gerechtigkeit als Chancengleichheit dienen ferner Leistungen zur Minderung des Familienaufwands (§ 6 SGB I; BKGG, BEEG), Zuschüsse für angemessenes Wohnen (§ 7 SGB I; WoGG) und Leistungen der öffentlichen Jugendhilfe, die die Entwicklung junger Menschen fördern und die Erziehung in der Familie unterstützen und ergänzen sollen (§ 8 SGB I; SGB VIII). Zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit kennt das Sozialrecht schließlich die Sozialhilfe, die das Existenzminimum in Notsituationen sichert, namentlich in den Fällen, in denen die anderen Hilfs- und Förderungssysteme versagen (§ 9 SGB I; SGB XII). Verstärkte Anstrengungen fordert das Sozialrecht in Bezug auf die Teilhabe behinderter Menschen (§ 10 SGB I; SGB IX). Wenn dann, wie bei der gesetzlichen Krankenversicherung, bei einkommensabhängig verschiedener Beitragshöhe allen Versicherten dieselben Leistungen erbracht werden, ergibt sich dadurch eine Umverteilung, welcher der Gedanke sozialer Gerechtigkeit zu Grunde liegt[4].
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b) Soziale Sicherheit ist im Sinn der Aufgabe des Sozialrechts gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 SGB I erreicht, wenn der Einzelne in die Lage versetzt ist, auf (vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht) verlässlicher Basis sein Leben zu gestalten[5]. Dieser Aspekt betont nicht die Chancengleichheit des Einzelnen bei der Verwirklichung seiner Persönlichkeit, sondern die vor allem materielle Existenzsicherung. Im Vordergrund steht hier die Sozialversicherung (§ 4 SGB I) in der gesetzlichen Kranken-, Pflege-, Unfall- und Rentenversicherung. Die Aufgabe des Sozialrechts liegt insoweit darin, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz, zur Erhaltung, zur Besserung und zur Wiederherstellung der Gesundheit und der Leistungsfähigkeit zu gewährleisten und für die wirtschaftliche Sicherung bei Krankheit, Mutterschaft, Minderung der Erwerbsfähigkeit und Alter zu sorgen.
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c) Es zeigt sich, dass alle Sozialrechtsbereiche, mehr oder weniger, beiden Vorgaben zugeordnet werden können. Nur die Akzente sind verschieden gesetzt. Mit einer gewissen Ungenauigkeit kurz zusammengefasst ist es die Aufgabe des Sozialrechts, die Wertvorstellungen des Grundgesetzes über die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) und über den sozialen Rechtsstaat (Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) zu verwirklichen. Dazu genügt es nicht, wenn das Sozialrecht Bedürftigkeit oder Not abwendet. Es soll zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit in dem dargelegten Sinn beitragen. Dazu stellt es die in §§ 3–10 SGB I formulierten und in den einzelnen Teilen des Sozialgesetzbuchs dann konkretisierten Leistungen und Hilfen bereit.