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IV. Sozialrecht und Privatrecht
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Schrifttum: Deinert, Privatrechtsgestaltung durch Sozialrecht, 2007; Eichenhofer, Sozialrecht und Privatrecht – Komplexe und komplizierte Wechselbeziehungen, in: Gedächtnisschrift für Heinze, 2005, S. 145; Fuchs, Zivilrecht und Sozialrecht, 1992; Gitter, Schadensausgleich im Arbeitsunfallrecht, 1969; v. Koppenfels-Spies, Kongruenzen und Inkongruenzen im sozial- und privatrechtlichen Haftungsrecht, SDSRV, Band 62, 2012, S. 87; Nef, Der Einfluss des Sozialversicherungsrechts auf das Privatrecht, Schweizerische Juristenzeitung 1981, 17; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999; Preis, Koordinationskonflikte zwischen Arbeits- und Sozialrecht, NZA 2000, 914; Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001; Ruland, Familiärer Unterhalt und Leistungen der sozialen Sicherheit, 1973; Waltermann, Gegenwärtige Stellung des Privatrechts bei der Gewährleistung sozialer Sicherheit, in: Soziale Sicherheit durch öffentliches und Privatrecht, SDSRV, Band 51, 2004, S. 55; Weitnauer, Der Schutz des Schwächeren im Zivilrecht, 1975.
Fall 3:
Während der Arbeitszeit wird Arbeitnehmer A, auf dem Beifahrersitz eines LKW vom Steinbruch zur Straßenbaustelle unterwegs, verletzt, als sein Arbeitskollege S aus Unaufmerksamkeit auf einen Bus auffährt. Stehen A wegen seiner Körperverletzungen Schadensersatzansprüche gegen S zu? Rn 37
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1. Das Sozialrecht zählt, wie dargelegt, zum öffentlichen Recht. Wegen der öffentlich-rechtlichen Verfasstheit der Sozialleistungsträger sind nach der (modifizierten) Subjektstheorie die meisten sozialrechtlichen Rechtssätze Sätze des öffentlichen Rechts. Vor allem im Sozialversicherungsrecht (aber keineswegs nur dort) hat das Sozialrecht aber einen materiellen Gehalt, wie ihn sonst Rechtssätze des Privatrechts haben. Das Sozialrecht und das Privatrecht leisten auf unterschiedliche Weise ihren Beitrag zu dem für die Gesellschaft zentralen Anliegen der Existenzsicherung des Einzelnen:
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Das Privatrecht gibt den rechtlichen Rahmen für die privatautonome Organisation der Existenzsicherung der Privaten untereinander. Auf der Basis des bürgerlich-rechtlichen Vertragsrechts vollziehen sich die Güterbeschaffung (insbesondere durch Kauf), die Gebrauchsüberlassung (insbesondere die Wohnraummiete) und die Inanspruchnahme von Dienstleistungen (namentlich auf Basis von Dienstverträgen, Werkverträgen, Geschäftsbesorgungsverträgen). Auf der Basis des bürgerlich-rechtlichen Deliktsrechts beruht der Ausgleich von Körper- und Sachschäden (§§ 823 ff BGB, Gefährdungshaftung der bürgerlich-rechtlichen Spezialgesetze). Das Bürgerliche Recht und das Arbeitsrecht organisieren den Austausch von Arbeitsleistung gegen Entgelt, der in unserer auf die Existenzsicherung durch abhängige Beschäftigung ausgerichteten Gesellschaft größte Bedeutung hat. Dabei enthält das Privatrecht eine Vielzahl von Vorschriften, die dem Anliegen der sozialen Gerechtigkeit und Sicherheit verpflichtet sind. Besonders deutlich wird dies im Arbeitsrecht, gleiches gilt aber zB auch für das Recht der Wohnraummiete oder für den Verbraucherschutz.
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Das Sozialrecht gibt dieser auf dem Privatrecht beruhenden Ordnung einen besonderen sozialstaatlichen Hintergrund: Es unterstützt zB unter bestimmten Voraussetzungen die Einzelnen bei der Erfüllung der privatrechtlichen Verpflichtung, Miete für den Wohnraum zu zahlen, durch Wohngeld, es leistet dem krankenversicherten Verkehrsunfallopfer Heilbehandlung und nach Erschöpfung der arbeitsrechtlichen Entgeltfortzahlung Entgeltersatz in Gestalt des Krankengeldes. Die Leistungsfähigkeit der privatrechtlich Unterhaltsverpflichteten wird durch Sozialleistungen wie Kindergeld, Elterngeld oder Ausbildungsförderung gestärkt. Bedürftige sind, soweit leistungspflichtige Familienangehörige ihre privatrechtlichen Verpflichtungen nicht erfüllen, durch Leistung von Unterhaltsvorschuss oder Sozialhilfe gesichert.
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2. Einige theoretisch und praktisch wichtige Berührungspunkte von Sozialrecht und Privatrecht seien zur Veranschaulichung hervorgehoben:
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a) Ein erster Berührungspunkt liegt im Haftungsrecht. Wie dargelegt (Rn 5), berühren sich Sozialrecht und privatrechtliches Haftungsrecht, wenn Sozialversicherte einen Körperschaden erleiden, für den ein Dritter bürgerlich-rechtlich schadensersatzpflichtig ist.
Sozialversicherte haben im Grundfall dann Anspruch auf Leistungen (insbesondere auf Krankenbehandlung und auf Zahlung von Krankengeld durch die gesetzliche Krankenversicherung). Erbringt wegen des Schadensereignisses ein Sozialleistungsträger Leistungen, geht der bürgerlich-rechtliche Schadensersatzanspruch im Wege der cessio legis auf ihn über (§ 116 SGB X). Dabei hat das Gesetz in § 116 Abs. 1–10 SGB X zahlreiche Rechtsfragen im Schnittfeld von Sozialrecht und Privatrecht gestalten müssen, damit das Nebeneinander von zivilrechtlicher Individualhaftung und sozialrechtlicher Leistungspflicht funktioniert (Rn 683 ff).
Ob und inwieweit ein Geschädigter nach dem Privatrecht Schadensersatz verlangen kann, hängt somit in alltäglichen Konstellationen davon ab, ob der Geschädigte sozialversichert ist. In Höhe der kongruenten Sozialleistung geht der privatrechtliche Anspruch, wie Fall 1 gezeigt hat, auf den Leistungsträger über. Das hat erhebliche praktische Bedeutung im Haftungsrecht[42]. Die Regressvorschrift des § 116 SGB X steht dabei im Schnittpunkt zweier wesensverschiedener rechtlicher Ausgleichungssysteme, des Systems der zivilrechtlichen Individualhaftung auf der einen und der Systeme der sozialrechtlichen Versicherung und der sozialen Fürsorge auf der anderen Seite. Die ins Auge springenden Unterschiede zwischen den beiden Ausgleichungssystemen sind folgende: Das Sozialrecht ist erstens zu schneller und effektiver Leistungserbringung verpflichtet, und zwar ohne Rücksicht darauf, wie es zu einem Schaden gekommen ist und wer dafür haftet. Die Schadensregulierung nach dem Privatrecht kann dagegen langwierig sein. Die Sozialleistung wird zweitens im Grundsatz unabhängig von einem Mitverschulden des geschädigten Leistungsempfängers in der gesetzlich vorgesehenen Höhe erbracht, nach den Regeln des Privatrechts können sich wegen Mitverschuldens oder wegen der Höchstsummenbegrenzungen der Gefährdungshaftung dagegen Deckungslücken ergeben. Das zivilrechtliche Haftungsrecht strebt drittens nach einer Totalreparation, während das Sozialrecht einen Mindest- oder Standardbedarf abdeckt. Die Rückgriffsvorschrift des § 116 SGB X sorgt dafür, dass über die endgültige Schadenstragung das Privatrecht entscheidet: Während das Sozialrecht de facto die Schadenskompensation erledigt, wird dem nach Sozialrecht verpflichteten Leistungsträger der Rückgriff gegen den privatrechtlich verpflichteten Schädiger eröffnet. In praktisch wichtigen Hinsichten ist deshalb das privatrechtliche Haftungsrecht ein Recht der Regressvoraussetzungen[43].
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Erleidet ein Unfallversicherter einen Arbeitsunfall (§ 8 SGB VII), der auf ein schuldhaftes Verhalten des Arbeitgebers oder eines Arbeitskollegen zurückgeht, ist der Einfluss des Sozialrechts auf das privatrechtliche Haftungsrecht noch stärker (Rn 343 ff). Der an sich bestehende bürgerlich-rechtliche Schadensersatzanspruch ist dann nach Maßgabe der §§ 104 ff SGB VII sogar ausgeschlossen, der Geschädigte erhält statt dessen Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung. Der Regress des Unfallversicherungsträgers ist gemäß § 110 SGB VII nur ausnahmsweise vorgesehen.
Im Ausgangsfall 3 kann A seinen Arbeitskollegen S nicht auf Schadensersatz wegen seiner Körperverletzungen in Anspruch nehmen. A wurde bei einer gemäß § 2 Abs. 1 Nr 1 SGB VII unfallversicherten Tätigkeit verletzt, er hat somit einen Arbeitsunfall (§ 8 Abs. 1 SGB VII) erlitten. Gemäß § 105 Abs. 1 SGB VII sind ua Arbeitskollegen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Arbeitsunfall von Arbeitnehmern desselben Betriebs verursachen, grundsätzlich nicht zum Ersatz des Personenschadens verpflichtet.
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b) Ein wichtiger Berührungspunkt zwischen dem Sozialrecht und dem Arbeitsrecht ergibt sich daraus, dass sozialrechtliche Leistungen vielfach den Ausfall des Arbeitsentgelts ausgleichen, das Sozialrecht hat insofern eine Entgeltersatzfunktion. Es ist ein spezifisches Risiko der Industrie- und Arbeitsgesellschaft, dass die Einkommensquelle der in unselbstständiger Arbeit Beschäftigten (zeitweise) versiegt. Das Sozialrecht gleicht diese Einkommensverluste unter bestimmten Voraussetzungen, etwa durch Arbeitslosengeld nach dem Arbeitsförderungsrecht, durch Krankengeld der gesetzlichen Krankenversicherung, durch Verletztengeld der gesetzlichen Unfallversicherung und durch verschiedene Renten aus Unfallversicherung und Rentenversicherung aus.
Im Schnittfeld von Privatrecht und Sozialrecht werden die ökonomischen Wirkungen des Sozialrechts wenig beachtet. Gestaltungen des Rechts bilden, gerade auch im Sozialrecht, bewusst oder ungewollt Anreize, und sie bilden nicht selten Fehlanreize mit beachtlicher Wirkung. Konzeptionell gesehen ist es im Zusammenspiel von Sozialrecht und Arbeitsrecht in diesem Sinn nicht ohne Auswirkung, wenn der Gesetzgeber aus beschäftigungspolitischen Gründen sozialrechtlich Abgaben (bei der abgabenprivilegierten geringfügigen Beschäftigung, vgl § 8 SGB IV, § 249b S. 1 SGB V, § 172 Abs. 3 S. 1 SGB VI) reduziert oder nicht existenzsicherndes niedriges Arbeitsentgelt aus Steuermitteln aufstocken muss (vgl § 19, §§ 7, 9 SGB II). Hier sind die Wirkungen auf den Arbeitsmarkt zu bedenken. Abgabenprivilegierung und Aufstockung haben „Kombilohnwirkung“ und werden bei der Stellenplanung und bei der Vereinbarung der Löhne einkalkuliert, sodass sich die Verhältnisse nicht marktkonform entwickeln. Den Preis zahlen die Steuerzahler, insbesondere die Steuerzahler der nächsten Generation (Rn 141). Der 2015 eingeführte gesetzliche Mindestlohn (§§ 1, 3 MiLoG) wirkt dem entgegen.
Ein grundsätzlicher Berührungspunkt zwischen dem Sozialrecht und dem Arbeitsrecht liegt darin, dass die Versicherungspflicht in der Sozialversicherung (einschließlich der Arbeitslosenversicherung) in erster Linie an die Beschäftigung in abhängiger Arbeit anknüpft (siehe § 5 Abs. 1 Nr 1 SGB V, § 1 Nr 1 SGB VI, § 2 Abs. 1 Nr 1 SGB VII, § 20 Abs. 1 Nr 1 SGB XI, § 25 Abs. 1 SGB III). Arbeitsrechtliches Arbeitsverhältnis und sozialversicherungsrechtliche Beschäftigung sind im Wesentlichen deckungsgleich[44].
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c) Zahlreiche Sozialleistungen sind von familienrechtlichen Beziehungen abhängig. So haben die Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung und des Rechts der sozialen Entschädigung zur Voraussetzung, dass den Hinterbliebenen ein familienrechtlicher Unterhaltsanspruch gegen den verstorbenen Versicherten zustand. An anderer Stelle wird der Unterhaltsverband der Familie durch Sozialleistungen wie Kindergeld, Elterngeld und Ausbildungsförderung gestärkt oder es wird seine materielle Existenz bei Bedarf durch Unterhaltsvorschuss oder Sozialhilfe gesichert. Im Krankenversicherungsrecht sind gemäß § 10 SGB V Familienangehörige beitragsfrei mitversichert.
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3. Für das Verhältnis von Privatrecht und Sozialrecht sind grundsätzlich zwei Konstellationen typisch[45]. Die Konstellation der Bedingtheit liegt vor, wenn in dem einen Bereich eine Rechtsfolge ausgelöst wird, soweit bestimmte tatbestandliche Voraussetzungen in dem anderen Rechtsbereich gegeben sind. In dieser Weise hängt das Sozialversicherungsverhältnis von der Beschäftigung in nicht selbstständiger Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis, ab. Die andere Konstellation ist die der Überschneidung von Privatrecht und Sozialrecht. Überschneiden sich Privatrecht und Sozialrecht, kommt zum einen in Betracht, dass ihre Rechtsvorschriften kumulativ gelten. Zum Beispiel zahlt die Krankenkasse Mutterschaftsgeld (§ 24i SGB V) und der Arbeitgeber dazu einen Zuschuss (§ 20 Abs. 1 MuSchG)[46]. Die andere Möglichkeit ist, dass entweder das Privatrecht oder das Sozialrecht allein zur Lösung des Problems berufen ist. So liegt es bei der bereits zur Sprache gebrachten Haftungsfreistellung im Unfallversicherungsrecht. Gemäß § 104 SGB VII ist der Unternehmer von der privatrechtlichen Schadensersatzhaftung freigestellt, weil er die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung allein zu zahlen hat und der Geschädigte die Versicherungsleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung erhält. Das Sozialrecht nimmt hier also dem Privatrecht einen Teil des Deliktsrechts weg. In den Fällen der Überschneidung muss aber der eine Bereich den anderen nicht unbedingt verdrängen, wenn letztlich nur einer zur Lösung des Problems berufen ist. So liegt es, wenn die Rechtsordnung den Regress eröffnet. Unter den Voraussetzungen des praktisch bedeutsamen § 116 SGB X wird die privatrechtliche Schadensersatzforderung auf den Sozialleistungsträger kraft Gesetzes übergeleitet.