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2. Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung
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a) Die Wende zu einem modernen Sozialrecht brachten die Bismarckschen Sozialversicherungsgesetze der Achtzigerjahre. Auf die publikumswirksame Kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 folgten 1883 das Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, ein Jahr später 1884 das Unfallversicherungsgesetz und schließlich 1889 das Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung. Bismarck war sich der Vorteile bewusst, die sich aus einem Sozialversicherungsprogramm für seinen Kampf gegen den Sozialismus gewinnen ließen, es war sein Wunsch, zu zeigen, dass der monarchisch-obrigkeitliche Staat der Arbeiterklasse mehr zu bieten habe als Sozialismus und Sozialdemokratie[6].
Die Kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 lautete: „Schon im Februar d.J. haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. Wir halten es für Unsere Kaiserliche Pflicht, dem Reichstage diese Aufgabe von Neuem ans Herz zu legen, und würden Wir mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hülfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen. (…) In diesem Sinne wird zunächst der von den verbündeten Regierungen in der vorigen Session vorgelegte Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle mit Rücksicht auf die im Reichstage stattgehabten Verhandlungen über denselben einer Umarbeitung unterzogen, um die erneute Beratung desselben vorzubereiten. Ergänzend wird ihm eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zu Theil werden können …“
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b) Die soziale Absicherung der Risiken Krankheit, Arbeitsunfall, Alter und Invalidität durch die Bismarckschen Sozialgesetze trug folgende Kennzeichen: Sie erfolgte in der Form der Versicherung, die dem Grundsatz nach eine Pflichtversicherung war. Diese Versicherung war öffentlich-rechtlich organisiert und stand auf der Grundlage einer Selbstverwaltung mit staatlicher Aufsicht. Die Finanzierung beruhte auf Beiträgen, die von den Arbeitern und den Arbeitgebern aufgebracht wurden, in der Rentenversicherung war zudem ein Staatszuschuss vorgesehen. Verwirklichte sich ein versichertes Risiko, hatte der Berechtigte einen öffentlich-rechtlichen Leistungsanspruch, der in einem bestimmten Verfahren durchgesetzt werden konnte. Alle diese Kriterien prägen die Sozialversicherung noch heute. Die Dreiteilung der Sozialversicherungsgesetze in Krankenversicherung, Unfallversicherung und Alters- sowie Invaliditätsversicherung hatte geschichtliche Gründe, sie ist vor allem durch die Vorgeschichte der Krankenversicherung und der Unfallversicherung bedingt.
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c) Das zuerst verabschiedete Krankenversicherungsgesetz vom 15. Juni 1883[7] begründete (bis zu einem bestimmten Jahresarbeitsverdienst) die Versicherungspflicht. Es knüpfte, vor allem in organisatorischer Hinsicht, an die zuvor bestehenden Gemeindeversicherungen und an das Hilfskassenwesen an[8]. Die bis dahin privaten Hilfskassen wurden zu öffentlich-rechtlichen Körperschaften, aus den örtlichen Hilfskassen für die jeweiligen Berufszweige wurden die Ortskrankenkassen, die durch Gemeindebeschluss für deren Bezirk errichtet wurden. Die Beiträge (zwischen 3% und 6% des Arbeitslohns) wurden zu zwei Dritteln von den Arbeitnehmern und zu einem Drittel von den Arbeitgebern getragen. Auf der Leistungsseite hatten die Einkommensersatzleistungen mit etwa 90% die größte Bedeutung, etwa 10% entfielen auf Heilbehandlung und Arzneimittel. Einkommensersatz in Gestalt von Krankengeld wurde vom 3. Tag der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit an bis zu maximal 13 Wochen in Höhe von 50% des Arbeitslohns gezahlt. Dem Anteil der Beitragspflicht entsprechend waren in den Selbstverwaltungsorganen zwei Drittel Vertreter der Arbeitnehmer und ein Drittel Vertreter der Arbeitgeber.
Die Grundstruktur der gesetzlichen Krankenversicherung entspricht auch heute noch diesem Modell. Zugleich wird die Grundstruktur der Sozialversicherung allgemein erkennbar. Wannagat[9] hat sie folgendermaßen definiert: Sozialversicherung ist „eine staatlich organisierte, nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung aufgebaute öffentlich-rechtliche, vorwiegend auf Zwang beruhende Versicherung großer Teile der arbeitenden Bevölkerung für den Fall der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit und des Todes sowie des Eintritts der Arbeitslosigkeit.“ Diese Merkmale bestimmen alle Sozialversicherungszweige.
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d) Das Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884[10] führte in Bezug auf das Arbeitsunfallrisiko die Versicherungspflicht zunächst der Arbeiter und der schlechter bezahlten Betriebsbeamten besonders gefahrenträchtiger Betriebe bei den Berufsgenossenschaften ein, die als öffentlich-rechtliche Körperschaften organisiert wurden.
Auch das Unfallversicherungsgesetz hat eine Vorgeschichte: Das damals allein dem Verschuldensprinzip folgende bürgerlich-rechtliche Haftungsrecht erwies sich als untauglich, Arbeitsunfälle angemessen zu erfassen. Mit dem Aufkommen des technischen Zeitalters ergaben sich nämlich Schadensformen und Gefahren, zu denen das aus einer anderen Zeit stammende und in vorindustrieller Zeit auch bewährte Prinzip der Verschuldenshaftung, dem das BGB noch gefolgt ist, nicht passen wollte[11]. Das zeigte sich an den Arbeitsunfällen besonders deutlich. Die Industrialisierung hatte zu einem enormen Ansteigen der Arbeitsunfälle geführt, der Unfall war tägliche Wirklichkeit der Arbeitswelt. Ersatz des Unfallschadens, namentlich des Erwerbsausfallschadens, war auf der Grundlage eines dem Verschuldensprinzip folgenden Haftungsrechts aus rechtlichen und aus tatsächlichen Gründen so gut wie nicht zu bekommen. Arbeitsunfälle gehen zudem häufig auf ein „Selbstverschulden“ des Verletzten zurück, sodass es keinen zivilrechtlich Haftenden gibt. Das Reichshaftpflichtgesetz (RHG) von 1871 hatte auf der Grundlage des bürgerlich-rechtlichen Haftungsrechts (wie es später in §§ 823 ff BGB kodifiziert worden ist) zwar in einigen mit besonderen Gefahren verbundenen Gewerben die privatrechtliche Unternehmerhaftung (geringfügig) ausgeweitet und dies mit einer versicherungsrechtlichen Komponente verbunden (§§ 2, 4 RHG). Dies hat jedoch nicht zu einer tragfähigen Lösung geführt, zumal die Beweislast weiterhin bei den Arbeitern lag.
Die 1884 eingeführte gesetzliche Unfallversicherung begründete zum einen die Versicherung des Arbeitsunfallrisikos auf öffentlich-rechtlicher Basis. Sie legt dabei seit ihren Anfängen großen Wert auf die Prävention. Mit der gesetzlichen Unfallversicherung war zum anderen die Ablösung der privatrechtlichen Schadensersatzhaftung verbunden: In den vom Unfallversicherungsrecht erfassten Bereichen ist seither das bürgerlich-rechtliche Haftungsrecht für die Personenschäden einschließlich des Schmerzensgeldanspruchs außer Kraft gesetzt. Für die Unternehmerhaftung ist dies jetzt in § 104 Abs. 1 S. 1 SGB VII wie folgt formuliert: „Unternehmer sind den Versicherten, die für ihre Unternehmen tätig sind oder zu ihren Unternehmen in einer sonstigen die Versicherung begründenden Beziehung stehen, sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens, den ein Versicherungsfall verursacht hat, nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr 1–4 versicherten Weg herbeigeführt haben“. Da das maßgebliche Anliegen der gesetzlichen Unfallversicherung neben der Versicherung des Arbeitsunfallrisikos die Ablösung der privatrechtlichen Schadensersatzhaftung der Unternehmer war, waren die Beiträge von den Unternehmern allein zu tragen. Die Leistungen umfassten im Wesentlichen die Kosten des Heilverfahrens vom Beginn der 14. Woche nach Eintritt des Arbeitsunfalls an (vorher hatten die zu zwei Dritteln von den Arbeitern finanzierten Krankenkassen einzutreten) und Renten für die Verletzten oder im Todesfall für deren Hinterbliebene (in Höhe von maximal zwei Dritteln des Arbeitslohns, nach privatrechtlichem Haftungsrecht waren es – theoretisch – 100% gewesen). Die Berufsgenossenschaften wurden ermächtigt, Unfallverhütungsvorschriften zu erlassen.
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e) Das Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung vom 22. Juni 1889[12] führte die Versicherungspflicht für alle Arbeiter und für Angestellte bis zu einem bestimmten Jahresverdienst ein. Es handelte sich dabei nicht um eine eigentliche Rentenversicherung für das Alter, wie wir sie heute kennen, ein prinzipiell arbeitsfreies Alter gab es damals nicht. Wer in den unteren Klassen alt wurde, war meist Invalide. In jedem Fall wurde er arm und war auf die von den Kommunen getragene Armenfürsorge verwiesen. Der mit der Invaliditäts- und Altersversicherung verbundene Übergang von der Armenfürsorge zur Altersversicherung war strukturell ein höchst moderner Schritt, an die Stelle bedürftigkeitsabhängiger Wohltätigkeit der Fürsorge trat ein durch Beiträge an die Versicherung erworbener Rechtsanspruch.
Träger der Versicherung waren die Landesversicherungsanstalten als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Die Beiträge (1,7% des Arbeitsverdienstes) waren je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu tragen, daneben wurde ein Jahreszuschuss von 50 Mark je Rente aus Steuermitteln gezahlt. Die Leistung der Invalidenrente wurde gewährt, wenn Versicherte auf Grund der Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit dauernd nicht mehr wenigstens ein Sechstel ihres früheren bzw des ortsüblichen Verdienstes erzielen konnten. Mit der Vollendung des 70. Lebensjahres wurde Altersrente gezahlt, wobei das Gesetz davon ausgehen konnte, dass spätestens von diesem Alter an im Regelfall Erwerbsunfähigkeit gegeben war (Altersinvalidität). Leistungen an Witwen und Waisen gab es nicht, eine gesetzliche Regelung war für später vorgesehen. In der Höhe bestand die Rente in einem Unterhaltszuschuss, eine annähernde Sicherung des Lebensstandards wurde damit nicht erreicht.
Bismarck hat sein kurzfristiges Ziel, die Arbeiter mit dem Staat und der Gesellschaft zu versöhnen, nicht erreicht. Auf lange Sicht gesehen stehen die Bismarckschen Sozialversicherungsgesetze aber am Anfang des Weges zu einem modernen Sozialstaat.