Читать книгу Sozialrecht - Raimund Waltermann - Страница 41
1. Hintergrund
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Man wird das heutige Sozialrecht, vor allem das Sozialversicherungsrecht, nicht verstehen, wenn man nicht die mit der Industrialisierung verbundenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialpolitischen Wandlungen berücksichtigt. Mit dem Beginn des Industriezeitalters veränderten sich zunehmend rascher die Verhältnisse in den Gesellschaften völlig. Große Betriebe entstanden, die Bevölkerung in den Städten nahm sprunghaft zu, die Familienbande lösten sich, das Zunft- und Gildenwesen verfiel. Wenn im Bereich der Gesellschaft die mittelalterlichen Familien-, Zunft- und Gildenbindungen und die Bindung an Eigentum endeten, mussten auf Seiten des Staates die Probleme mit der Armut gänzlich unlösbar werden.
Mit der aufkommenden Industrialisierung als Folge der technischen Entwicklung gingen fundamentale rechtliche Veränderungen Hand in Hand: Die Aufhebung der ständischen Unterschiede und ihrer Abhängigkeitsverhältnisse (Bauernbefreiung)[1] und die Einführung der Gewerbefreiheit[2] und der Freizügigkeit[3]. Preußen war der Schrittmacher in Deutschland, in Preußen wurde die staatlich gelenkte Wirtschaft des Merkantilismus mit ihren reglementierenden Gesetzen und Verordnungen und ihren ständischen Bindungen zuerst abgeschafft. Mit der daraus resultierenden rechtlichen Freiheit und Gleichheit war jedoch nichts gewonnen, die verliehenen rechtlichen Freiheiten waren für die meisten nichts wert, die wirtschaftliche und soziale Lage der Freigelassenen verschlechterte sich noch gegenüber den früheren Zuständen. In den Industriestädten bildete sich eine besitzlose Lohnarbeiterschicht, deren Einkommensniveau angesichts des großen Angebots an Arbeitskräften die Existenz nicht sicherte. Daran änderte es nichts, dass auch die Frauen und sogar die Kinder mitarbeiteten, am Tag 14 bis 16 Stunden; dies hat das Angebot an Arbeitskräften – und zumal an Billigkräften – nur weiter erhöht und den Ertrag der Arbeit weiter verringert. Katastrophale soziale Verhältnisse, Hungerlöhne, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, Kinderarbeit, Wohnungsnot und ein niedriges Bildungsniveau (auch als Folge der weit verbreiteten Kinderarbeit) kennzeichneten die Situation[4].
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Nur allmählich setzte sich die Einsicht durch, dass die Bedürfnisse der Lohnarbeiter andere waren als die der zuvor armutsgefährdeten Bevölkerungsschichten. Dafür war auch entscheidend, dass durch Industrialisierung und Bauernbefreiung die Armut zunehmend ein Massenphänomen wurde, dem man mit Armenfürsorge im bisherigen Stil nicht beikommen konnte (Pauperismus des Lohnarbeiters). Dabei stieg die Zahl der Industriearbeiter in Deutschland zunächst vergleichsweise langsam an, die Industriearbeiter machten 1846 im Deutschen Zollverein nur etwa 4,5% der Bevölkerung aus, ihre Zahl wuchs dann aber rasch. Die viel zahlreicheren Landarbeiter waren meist noch ärmer als die Industriearbeiter. Die vielen, die auf dem Land kein Auskommen mehr fanden, zog es in die Städte. Sie konkurrierten dort zunächst um Arbeitsplätze als Lohnhandwerker (Proletarisierung des Handwerks), später um Lohnarbeit in Industrie und Bergbau, namentlich im Ruhrgebiet[5]. In den Jahren nach der Reichsgründung 1871 wurde der maschinelle Industriebetrieb, die Fabrik, schließlich zur charakteristischen Betriebsform. Es entstand eine neue soziale Schicht, die (Fabrik-)Arbeiterschaft.
Das besondere Kennzeichen dieser schnell wachsenden neuen sozialen Schicht war, dass sie im Unterschied zu den Kleinbauern, kleinen Gewerbetreibenden und Handwerkern der vorindustriellen Zeit ohne Grundbesitz und sonstiges Vermögen darauf angewiesen war, Lohnarbeit zu verrichten, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Den kleinen Bauern, Gewerbetreibenden und Handwerkern der vorindustriellen Zeit ging es nicht gut, sie sorgten aber für sich und ihre Familien selbst. Alter, Krankheit und Ausbildung wurden aus angesparten Rücklagen finanziert. Der Grundbesitz bildete die materielle Existenzgrundlage, er wurde, oft zugleich mit dem Beruf, auf die Nachkommen vererbt. Als ein immer größer werdender Teil der seit Mitte des 18. Jahrhunderts stark angewachsenen Bevölkerung auf dem Land kein Auskommen in den traditionellen Berufen mehr fand, wandelten sich die Bedingungen der Existenzsicherung. Es war die Beschäftigung in abhängiger Arbeit, die vor dem Hintergrund der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schnell fortschreitenden Industrialisierung die Zukunft beherrschen sollte. Es hat nicht lange gedauert, bis man die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts vor allem als Industrie- und Arbeitsgesellschaft bezeichnet hat.
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Die Arbeiter waren in der Fabrik bloße Arbeitskräfte, die einen Barlohn erhielten, mit dem sie ihren und ihrer Familie Lebensunterhalt bestreiten mussten. Die Arbeitskraft wurde für den Unternehmer zu einem reinen Kostenfaktor. Arbeitsverhältnisse waren jederzeit auflösbar, Kündigungsschutz, eine Absicherung gegen Krankheit, Unfall, Invalidität, Alter und Tod gab es nicht. Der Marktpreis der Arbeitskraft war wegen des Überangebots von Arbeitskräften äußerst niedrig. Also schlossen die Arbeiter die Arbeitsverträge zu ungünstigsten Bedingungen hinsichtlich des Lohns und der Arbeitszeit. Die Arbeiter waren zwar rechtlich frei, sie konnten rechtlich gesehen wählen, ob sie überhaupt einen Arbeitsvertrag eingehen wollten und mit wem sie ihn schließen wollten. Tatsächlich waren sie aber gezwungen, sich dem wirtschaftlich unvergleichbar stärkeren Arbeitgeber zu dessen Bedingungen zu unterwerfen. Die Wirklichkeit geriet mit der Rechtsform immer mehr in Widerspruch.