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I. Vom liberalen Staat zum sozialen Rechtsstaat

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Schrifttum: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1, 2001; von Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889; Kaufmann, Sozialpolitisches Denken im Horizont der Differenz von Staat und Gesellschaft – Die deutsche Tradition, in: Masuch et al. (Hrsg.), Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht, Bd. 1, 2014, S. 21; Leibfried, Der Wohlfahrtsstaat: Ursprünge, Entwicklungen, Herausforderungen, in: Masuch et al. (Hrsg.), Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht, Bd. 1, 2014, S. 3; Schwab/Löhnig, Einführung in das Zivilrecht, 20. Aufl., 2016, Rn 69 ff.

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1. Die Staatstheorie des 19. Jahrhunderts ging von der Annahme aus, der Einzelne sei als Glied der bürgerlichen Gesellschaft autonom und in der Lage, seine Lebensverhältnisse selbstverantwortlich zu gestalten. Die Freiheit des Einzelnen war in dieser Vorstellung eine Freiheit vom Staat, wobei man sich das Verhältnis von Gesellschaft und Staat, nachdem Feudalismus, Absolutismus und Polizeistaat überwunden waren, so vorstellen muss, dass beide auf entgegengesetzten Seiten standen. Die Gesellschaft auf der einen Seite sorgte für ihre wirtschaftlichen und kulturellen Belange selbst. Aufgabe des Staates auf der anderen Seite war der Schutz der Rechte und der äußeren und inneren Sicherheit der Bürger durch Justiz, Armee und Polizei. Unter diesen staatstheoretischen Vorzeichen legte vor allem das Privatrecht die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens fest, es enthielt die für den Einzelnen und für die Gesellschaft maßgebenden Rechtsquellen. Und das Privatrecht war, wie die Staatstheorie, von der Idee geprägt, dass jeder für die Wahrung seiner Interessen selbst sorgen könne und solle. Die Idee liberaler Freiheit äußert sich auf den Bereich des Wirtschaftens bezogen in der Freiheit des Eigentums und in der Freiheit wirtschaftlicher Betätigung allgemein. Dabei entspricht es der Vorstellung des klassischen Liberalismus des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts, dass die Gesellschaft auf der Basis der privaten Autonomie und der Vertragsfreiheit im sozusagen „freien Spiel der Kräfte“ wie von unsichtbarer Hand gelenkt das allgemeine Beste erreichen werde. Das BGB als Grundlage des Privatrechts ist im Geist des Liberalismus entstanden.

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2. Die Wirklichkeit hat dieses Modell des Liberalismus widerlegt. Schon während der Entstehung des BGB hatte sich gezeigt, dass das freie Spiel der gesellschaftlichen Kräfte keineswegs zu hinnehmbaren gesellschaftlichen Daseinsbedingungen führt, dass die Verwirklichung von Handlungs- und Eigentumsfreiheit die (neuen) gesellschaftlichen Probleme vielmehr zum Teil erst schuf. Es bildete sich ein Gegensatz zwischen den wenigen sozial Gesicherten und den vielen in materieller Existenznot oder an ihrem Rand lebenden kleinen Bauern, Handwerkern und Land- oder (zunehmend) Fabrikarbeitern. Wie wirklichkeitsfremd das Modell des Liberalismus war, zeigte sich vor allem im Arbeitsrecht. Das Leitbild des unabhängigen, unter den Bedingungen freier Selbstbestimmung handelnden Individuums hat gerade hier zu den tatsächlichen Verhältnissen nicht gepasst. Schon vor dem Inkrafttreten des BGB hat sich das Arbeitsrecht deshalb, zuerst mit Vorschriften des öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutzrechts, dann durch allmähliche Ausbildung des kollektiven Arbeitsrechts und durch Sonderregeln des Arbeitsverhältnisrechts als Sonderprivatrecht entwickelt und vom ganz im Zeichen des Prinzips der Privatautonomie erlassenen Bürgerlichen Recht insoweit abgesondert[1]. Auch das Bürgerliche Recht hat bis heute, insbesondere unter der Geltung des Grundgesetzes, eine erhebliche Fortbildung erfahren, durch die Schutzmechanismen, namentlich im Interesse des Verbraucherschutzes und des Mieterschutzes, geschaffen worden sind.

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3. Der Staat hat nicht nur im Privatrecht seine Distanz zur „freien Gesellschaft“ aufgegeben. Neben den Veränderungen des Privatrechts steht die Verwirklichung des Sozialstaates durch öffentlich-rechtliche Regelungen. Die Vorstellung, der Staat solle als liberaler Staat in die Freiheit des Individuums möglichst wenig eingreifen, wurde durch die Vorstellung ersetzt, der Staat müsse als sozialer Rechtsstaat vor dem Hintergrund der rechtlichen Freiheit die tatsächlichen Bedingungen der Freiheit überhaupt erst schaffen und sichern. Dass der Staat die Freiheit nicht nur zu respektieren hat, sondern sie auch schützen und durch Vorkehrungen die tatsächlichen Bedingungen der Freiheit schaffen und sichern muss, ist die Triebfeder gerade auch des Sozialrechts. Dabei hat das Sozialrecht mit den Bismarckschen Sozialgesetzen am Anfang einer Entwicklung gestanden, in deren Verlauf das öffentliche Recht im Verhältnis zum Privatrecht beständig vorgedrungen ist. Der Begriff des Sozialstaats verkörpert dabei eine Verbindung von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität vor dem Hintergrund entwickelter Institutionen.

2. Teil Bedeutung, System und internationale Dimension des Sozialrechts§ 4 Sozialrecht und Sozialpolitik › II. Ökonomische Grundlagen des Sozialrechts

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