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London, Freitag, 2. Juni 1944, 19:11 Uhr

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»Das gibt‘s doch nicht!«

David knallte den Hörer auf die Gabel. Seit zwei Tagen versuchte er nun, Informationen aus Stockholm zu bekommen. Entweder kam er erst gar nicht zur britischen Gesandtschaft durch oder diese hatten immer noch nichts Neues für ihn. Das Einzige, was man ihm bisher mitteilen konnte, war, dass das Flugzeug mit Carl planmäßig in der schwedischen Hauptstadt gelandet war. Mehr auch nicht. Er ließ sich in seinen Stuhl fallen, nahm einen Bleistift in die Hand und klopfte damit auf den Tisch.

Tock, Tock, Tock.

Was kann da passiert sein?

Tock, Tock, Tock.

Er ging noch einmal alles durch. Carl war planmäßig in Stockholm gelandet. Die Deutschen konnten nichts bemerkt haben, sonst hätten sie ihn nicht ausreisen lassen. Irgendetwas musste schiefgelaufen sein. Die Regierung in Stockholm hatte ihm zugesichert, dass er die Papiere umgehend erhalten würde, sobald sie diese im Außenministerium kopiert hatten. Es gab also nur zwei Möglichkeiten. Carl war ohne die Unterlagen gekommen oder die Informationen waren bei den Schweden und die rückten sie nicht raus. Warum auch immer.

Tock, Tock, Tock.

Sein Blick fiel auf das Foto auf dem Schreibtisch und er betrachtete es einige Sekunden lang.

»Meine Kate«, sagte er leise, beugte sich schwerfällig vor und nahm das Bild in die Hand. Eine hübsche Frau in der zweiten Hälfte der Dreißiger mit langen blonden Haaren lächelte ihn an. Sie saß auf einer Bank am Ufer der Themse und hatte ihren Arm um ein Mädchen gelegt. Er fuhr mit dem Zeigefinger langsam über den Kopf von Kate und dann weiter zu seiner Tochter. »Linda.« Eine Träne rann ihm über die Wange. Wie lange ist es jetzt schon her? überlegte er und rechnete nach. Drei Jahre und drei Wochen. Er schloss die Augen und löste damit weitere Tränen aus, die ihm über das Gesicht liefen.

Es war am 10. Mai 1941 gewesen, beim letzten großen Luftangriff der Deutschen auf die britische Hauptstadt vor deren Angriff im Osten. David war auf dem Heimweg, als sie von den Sirenen überrascht wurden. Das Geheule war noch nicht verstummt, als bereits die ersten Bomben fielen. Gerade als sie in ihr Viertel einbogen, erwischte eine Bombenserie die gesamte Straße. Davids Wagen wurde von der Druckwelle in die Luft gehoben und blieb völlig zerstört auf der Seite liegen. Es gelang ihm, sich aus dem Wrack zu befreien. Er hatte neben mehreren Prellungen nur leichte Schnittwunden abbekommen. Sein Fahrer war halb aus dem Fenster geschleudert und von dem auf die Fahrerseite fallenden Wagen zerquetscht worden. Er musste auf der Stelle tot gewesen sein. David starrte entsetzt auf die Reste eines menschlichen Körpers, die unter dem Auto hervorschauten und in einer riesigen Blutlache lagen.

Dann drehte er, noch ganz benommen, den Kopf in Richtung der Straße, in der er bis vorhin mit seiner Familie gewohnt hatte. Soweit er zwischen dem Rauch und den auf beiden Seiten lodernden Flammen erkennen konnte, stand kein Haus mehr.

Den Mund halb offen, die Augen vor Entsetzen weit geöffnet, durchfuhr es ihn wie ein Blitz.

»Kate«, kam es ihm aus der Kehle. »Kaaaate«, schrie er und rannte los. Er stolperte über die Steine, stürzte, rappelte sich mühsam wieder auf und kämpfte sich weiter durch den beißenden Rauch auf ihr Haus zu. Er stürzte erneut und schlug mit dem Gesicht hart auf der Straße auf. Ihm wurde schwarz vor Augen, der Schmerz in seinem Kopf war grauenvoll, dann verlor er das Bewusstsein.

Er wusste nicht, wie lange er dort gelegen hatte, bis ihm ein stechender Schmerz das Bewusstsein zurückbrachte. Er blieb noch einen Moment regungslos liegen, bevor er langsam die Augen öffnete. Neben ihm lag jemand und sah ihn an. Das Weiß um die Pupille war klar und rein. Das Auge fixierte ihn aus einem ansonsten völlig verkohlten Kopf heraus. Die Haut hatte sich vom Fleisch gelöst und hing in Fetzen herab. An manchen Stellen waren noch die gekräuselten Reste der Haare erkennbar und kleine Rauchfahnen stiegen von dem verbrannten Fleisch auf. Ein entsetzlicher Gestank fuhr ihm in die Nase.

Entsetzt rappelte er sich auf und stolperte hinkend auf den Block zu, indem sie ihre Wohnung hatten. Das Haus stand in Flammen, die obere Hälfte war eingestürzt. Davor entdeckte er zwei Leichen. Er sah sich suchend um, sein Blick glitt über die beiden toten Körper, suchten etwas Vertrautes, etwas, das er kannte und er war erleichtert, als er nichts dergleichen finden konnte. Dunkler Rauch blies ihm ins Gesicht. Seine Augen brannten wie Feuer. Er kniff sie zusammen und fuhr sich mit beiden Händen über sein rußverschmiertes Gesicht, in der Hoffnung, dadurch die Schmerzen etwas zu lindern. Er ging ein paar Schritte weiter, dann sah er zwischen den Rauchschwaden einen alten Mann, der auf dem Boden saß. Der Mann hatte einen großen Sack vor sich liegen. Vermutlich waren darin einige persönliche Dinge, die er retten konnte. David ging auf ihn zu. Beide Augen tränten und er versuchte zu erkennen, ob es der Mann war, der neben ihnen gewohnt hatte. Einer, der immer nett und hilfsbereit gewesen und Kate geholfen hatte, wann immer es notwendig war.

Das Stechen in seinem Oberschenkel wurde stärker. Er zog das Bein nach, als er schlurfend auf den Mann zuging.

Der Alte sah ihn aus einem geschwärzten Gesicht an. Dann ließ er seinen Kopf langsam wieder sinken.

David hatte ihn erkannt, es war William. Sein Blick glitt an ihm herunter, dann blieben seine Augen an einem Armband haften. Das Band kam ihm bekannt vor. Es sah genauso aus wie das, das er seiner Frau zum letzten Hochzeitstag geschenkt hatte. Aber warum trug der Mann das Armband von Kate? Seine Augen folgten den Arm, an dem es befestigt war. Doch der Arm entfernte sich von dem alten Mann und verschwand in dem Sack, der vor ihm lag. Eine düstere Ahnung erschlich David und schnürte ihm die Kehle zu. Ein erstickter Laut verließ seinen Mund, als er sich langsam auf die Knie fallen ließ. William hob erneut den Kopf. Diesmal lief eine Träne über sein rußgeschwärztes Gesicht und zog eine verschmierte, hellgraue Spur nach sich. David streckte die Hand aus. Der Arm, der das Armband trug, war noch warm. Seine Finger glitten über die Haut auf den Sack zu. Doch das war kein Sack, es war nur eine Plane. Seine Finger krallten sich um den Rand des Plastiks und bohrten sich in seinen Handballen. Langsam zog er die Folie zurück und erkannte die blonden Locken, die er so geliebt hatte.

»Kate«, winselte er kaum hörbar. Er zog die Plane zur Seite, bis er den Oberkörper aufgedeckt hatte.

»Neeeeiiiiin!« Der Schrei ging im Fauchen der Flammen unter. Sein Kopf fiel auf Kates Schulter und seine gurgelnden Laute erstickten in den verbrannten Kleidern, die sie am Körper trug.

Nur eine Sekunde später schreckte er hoch und mit dem Namen seiner Tochter auf den Lippen wollte er sich gerade zu William umdrehen, als er spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte und die Finger nach Aufmerksamkeit riefen. Er drehte den Kopf und blickte William mit tränenunterlaufenen Augen an. William deutete mit einem Nicken zur Straße. David richtete den Oberkörper auf und wandte sich um. Auf der Straße stand ein Mädchen. Die langen blonden Haare hingen wild um ihren Kopf, die Kleidung war völlig verstaubt.

»Papa?«

Tock, Tock, Tock.

In weiter Ferne vernahm er ein Klopfen, das kräftige Knarren der Holztür seines Büros klang schon deutlich näher und das darauffolgende laute Schließen der Tür holte ihn endgültig aus seinen Gedanken zurück.

»David?«

Frank ging direkt auf den Schreibtisch zu, hinter dem David saß. In der Hand hielt er ein Papier.

»Neue Informationen aus Stockholm.«

»Und?«, fragte David, der noch nicht ganz aus seiner schrecklichen Vergangenheit zurück war, teilnahmslos. Doch nur den Bruchteil einer Sekunde später hatte er begriffen, dass dieses Blatt Papier das war, worauf er seit zwei Tagen wartete und sprang überraschend flink auf.

»Zeig her«, sagte er und strecke Frank fordernd die Hand entgegen.

»Keine guten Neuigkeiten«, sagte Frank, und während David den Inhalt las, sprach er weiter. »Carl hatte einen schweren Unfall. Sie konnten ihn zwar noch aus dem brennenden Fahrzeug ziehen, aber es sieht nicht gut aus. Sein Fahrer konnte nicht mehr gerettet werden und der Wagen brannte völlig aus. Carl hatte zwei Koffer dabei, die beide stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Einen Teil der Unterlagen konnten die Schweden aber vor der endgültigen Vernichtung bewahren.«

»Ist noch irgendwas verwertbar?« David beschlich ein ungutes Gefühl.

»Keine Ahnung«, antwortete Frank. »Mehr wissen wir noch nicht.«

»Ich muss unbedingt mit der britischen Gesandtschaft sprechen.« David ging um den Tisch herum. »Ich muss wissen, wie viel von den Unterlagen noch brauchbar ist. Das ist wichtig. Davon hängt so viel ab.«

»Ich habe schon nachgefragt und die Antwort kam diesmal umgehend. Sie sagten, sie hätten bisher keine weiteren Informationen erhalten und die Schweden wüssten scheinbar auch nicht mehr.«

»Das kann nicht sein«, erwiderte David aufgebracht und mit einer deutlichen Handbewegung gab er Frank zu verstehen, dass er sich damit nicht zufriedengab. »Wenn ein Teil der Papiere gerettet werden konnte, dann kann man daraus auch noch irgendetwas verwerten. Ich will wissen, was da drinsteht.«

David ging wütend in seinem Büro auf und ab. Er dachte nach. Dann blieb er unvermittelt stehen, wandte sich Richtung Frank und ging fingerzeigend auf ihn zu.

»Wir müssen die Papiere haben.« Er sah Frank an. »Ich bin sicher, unsere Spezialisten können da noch was rausholen. Ich brauche diese Unterlagen und ...«. Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »... und du wirst sie mir holen.«

Während er dies sagte, streckte er den Arm vor und drückte Frank seinen Finger auf die Brust. Seine Augen leuchteten und sein Blick wirkte entschlossen.

Frank stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als er verstand, worauf David hinauswollte. Sein Mund stand offen, er brachte keinen Ton heraus und starrte David nur an. Es dauerte einige Sekunden, bis er ein krächzendes, lang gezogenes »Ich?« hervorbrachte.

»Na, wer denn sonst?« Mit entschlossenen Schritten und voller Tatendrang ging David um seinen Schreibtisch und setzte sich. Er würde nicht aufgeben. Er sah eine Möglichkeit, seinen Kampf gegen Deutschland weiterführen zu können und wenn auch nur noch ein Teil der Dokumente verwertbar war, so musste man das Maximale daraus machen.

Nach Kates Tod hatte er geschworen, alles daran zu setzen, dass die verfluchten Nazis diesen Krieg verlieren. Dieser Schwur verlieh ihm nun seit über drei Jahren Kraft und Energie, Tag und Nacht dafür zu kämpfen. Nach Kates Tod hatte er seine Tochter zu den Schwiegereltern aufs Land geschickt. Dort war sie sicher und er konnte sich auf seine Arbeit konzentrieren.

Er wusste, dass Frank froh war, als sein Assistent zu arbeiten. Frank war ein überzeugter Brite, war aber niemand, der sich für eine Kampftruppe geeignet hätte. Dafür war er körperlich zu schwach und hatte zudem viel zu viel Angst um sein Leben. Er hatte bereits mehrfach durchklingen lassen, dass er David dankbar war, dass er ihn für sich arbeiten ließ und ihn nicht einer Einsatztruppe überstellte. Auch dass Frank Panik davor hatte, über von Deutschen besetztem Gebiet nach Stockholm zu fliegen, war ihm klar. Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er brauchte diese Dokumente und musste sie haben. Hier in London.

»Wir müssen sicher sein, dass uns die Schweden nichts verheimlichen. Wir haben ihre Zusage und die müssen sie einhalten. Ich brauche jemanden, der sich vor Ort um alles kümmert und auf den ich mich verlassen kann. Lass dich nicht abwiegeln. Ich will die Dokumente haben. Und zwar alle. Von mir aus können sich die Schweden Kopien machen so viel sie wollen, aber die Originale will ich. Und das so schnell wie möglich.«

Frank hatte seine Fassung noch nicht ganz wiedergefunden, zumindest aber seinen Mund wieder geschlossen.

»Du fliegst gleich morgen früh«, ergänzte David und Franks Unterkiefer klappte erneut nach unten.

»Morgen schon?«, stammelte er und wurde noch blasser im Gesicht.

»Ich werde alles veranlassen. Pack ein paar Sachen ein, für den Fall, dass du doch einige Tage länger unterwegs bist. Du wirst, soweit möglich, einen Jagdschutz bekommen. Einen Teil der Strecke müsst ihr aber ohne auskommen. So groß ist die Reichweite unserer Jäger nicht.«

»Und wenn uns die Deutschen abschießen, dann haben wir nichts von den Dokumenten«, witterte Frank eine kleine Chance, doch noch um den Flug herumzukommen.

»Das Risiko müssen wir eingehen«, erwiderte David. »Die Deutschen haben genug zu tun an ihrer Ostfront. Viele Jäger sind an den Ärmelkanal abgezogen worden. Es bleiben also nicht mehr allzu viele in Dänemark und Norwegen stationiert«, versuchte ihm David Mut zu machen. »Gut. Wir sehen uns dann morgen um acht Uhr wieder hier. Bis dahin habe ich deinen Marschbefehl fertig. Den Flug werde ich gleich noch im schwedischen Konsulat anmelden. Ich versuche, ihn als diplomatische Reise auszuweisen, dass macht das Ganze dann vielleicht etwas sicherer für dich. Den Rest sprechen wir morgen durch.«

David hob den Telefonhörer ab. »Verbinden Sie mich bitte mit dem schwedischen Konsulat.«

Der Nagel

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