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Peenemünde, Freitag, 9. Juni 1944, 20:35 Uhr

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Hans parkte den Wagen vor einem Haus, das sich nicht sonderlich von den anderen unterschied. Sein Blick streifte über die Häuserfronten in unmittelbarer Nachbarschaft.

Die Siedlung Karlshagen war in den dreißiger Jahren in kurzer Zeit von den Nationalsozialisten errichtet worden. Dabei ging es weniger um die Errichtung individueller Wohnhäuser, hierbei stand klar eine Mischung aus Zweckmäßigkeit, Kosten und Zeit im Vordergrund.

Hans stieg aus und zog den Reisverschluss seiner Jacke nach oben. Es war nicht kalt, durch den böigen Wind aber doch etwas ungemütlich. Dunkle Wolken zogen durch den Himmel und die Sonne nutzte jede Lücke zu einem beeindruckenden Schauspiel. Er ging die Stufen hinauf und blickte direkt in Augenhöhe auf die Hausnummer, deren schwarz lackierte Metallbuchstaben sich von dem braunen Holz der Eingangstür abhoben. Die Klingel befand sich rechts auf Höhe der Türklinke. Hans drückte sie, trat zurück und wartete. Die Vorhänge im Erdgeschoss waren zugezogen. Er vernahm Geräusche aus dem Inneren, kurz darauf wurde die Tür geöffnet.

»Schön, dass du da bist. Komm rein«, sagte die Frau in einer angenehm weichen und verführerischen Stimme.

»Hallo Ilse«, erwiderte Hans ihren Gruß.

Sie trat einen Schritt zurück. Im Flur nahm sie ihm die Jacke ab. »Ich hänge sie dir auf. Du kannst schon mal ins Wohnzimmer gehen.«

»Danke«, erwiderte Hans und ging nach rechts in den Wohnraum. Der Tisch war geschmückt mit drei brennenden Kerzen und einem Blumenstrauß, der vermutlich vor einer Stunde noch auf irgendeiner Wiese geblüht hatte, so frisch wirkte er. Die beiden, im rechten Winkel zueinanderstehenden, Sofas waren mit einem braunen Stoff bezogen, der an manchen Stellen schon etwas abgenutzt war. Dazwischen stand ein kleiner Ecktisch mit einer elektrischen Lampe. Hans sah zum Esstisch vor dem Fenster. Er war mit zwei Garnituren gedeckt, deren Teller verrieten, dass es vor dem Hauptgang noch eine Vorspeise geben musste. Die Gläser deuteten auf einen Rotwein hin. Auch hier brannte eine Kerze.

»Wenn du möchtest, kannst du dich schon mal setzen, ich bringe gleich die Suppe«, sagte die Frau, nahm die beiden Suppenteller vom Tisch und verschwand mit einem Lächeln im Gesicht in der Küche. Hans beobachtete, wie sie den Raum verließ. Ihre weiße Bluse kombiniert mit einem braunen Rock gefiel ihm, doch war ihm das vorwiegend in Braun gehaltene Wohnzimmer zu trist. Lediglich die frischen Blumen brachten etwas farbliche Abwechslung, konnten aber gegen die vielen Brauntöne nicht ankommen. Hans setzte sich an die rechte Tischseite. Auf den Platz, an dem er immer saß, wenn er hier war. Sein Blick führte ihn zum Regal an der Wand, das mit Büchern, Bilderrahmen und mehreren dekorativen Gegenständen gefüllt war.

»Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht.« Die Frau stellte die beiden Suppenteller ab und setzte sich. »Ich wünsche dir einen guten Appetit.«

»Ilse«, sagte Hans, nachdem sie eine Weile stillschweigend gegessen hatten. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh und glücklich ich bin, wieder hier zu sein. Raus aus dem stinkenden Loch in Frankreich. Aber du hättest wegen mir doch nicht gleich so ein Essen kochen müssen.«

»Gerade weil du in einem solchen Loch gesteckt hast, muss ich dir doch was Vernünftiges bieten. Damit du wieder zu Kräften kommst. Und jetzt lass es dir erst einmal schmecken.«

Sie löffelten beide ihre Suppe.

»Willst du mir nicht erzählen, wie es dir ergangen ist?«

Hans legte einen Moment seine Hand auf die ihre, dann erzählte er die gleiche Geschichte, die er tags zuvor bereits Dornberger wiedergegeben hatte. Dabei vermied er es aber, auf die französische Familie einzugehen. Er wollte nicht auf die beiden Kinder zu sprechen kommen, die neben einer ungewissen Zukunft auch keinen Vater mehr hatten. Er wollte Ilse damit nicht belasten.

»Deine Suppe war einfach Weltklasse«, lobte er, als sie aufstand, um die leeren Teller abzuräumen.

»Danke«, erwiderte sie mit einem Aufschlag in der Stimme und verschwand für einige Minuten in der Küche. Das Klappern von Töpfen und Geschirr war zu hören, bevor sie mit zwei dekorativ angerichteten Tellern zurückkehrte. Der Braten mit der Soße duftete verführerisch und in kürzester Zeit war der Raum erfüllt von einem unwiderstehlichen Geruch. Hans schluckte erwartungsvoll.

»Sieht besser aus als das, was wir in Frankreich bekommen haben«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, »und riecht auch besser.«

»Das will ich doch hoffen«. Ilse forderte ihn mit einer Handbewegung auf anzufangen und nahm ihr Besteck in die Hand. Der Hauptgang wurde begleitet von einem französischen Rotwein und einem kurzen Gespräch über den aktuellen Stand der Entwicklung und anstehende Aufgaben. Hans vermied es, zu tief in Details abzutauchen. Er wollte nicht wirklich über die Arbeit sprechen. Es gab so viel anderes, was ihm jetzt wichtiger war. Er wollte die schrecklichen Erlebnisse hinter sich lassen und den Abend einfach nur genießen.

Als er den letzten Bissen geschluckt hatte, lehnte er sich zurück und strich sich zufrieden über den Bauch. »Es war wirklich exzellent.«

»Gern geschehen. Noch eine kleine Tasse Kaffee?«

»Nein, danke. Ich will heute wieder einmal richtig gut schlafen.«

»Das glaube ich dir. Ich bin gleich zurück«, sagte Ilse, stapelte die leeren Teller übereinander und ging damit in die Küche. »Du kannst Dich ja schon mal aufs Sofa setzen«, hörte er sie rufen, dann klapperte wieder Geschirr.

Hans stand auf und ging auf das Regal zu. Er nahm einen Bilderrahmen in die Hand und betrachtete das Foto schweigend.

»Ich vermisse ihn nach wie vor sehr und ich habe immer wieder Nächte, in denen ich Tränen vergieße, wenn ich an ihn denke«, sagte plötzlich Ilse neben ihm.

Hans zuckte zusammen. Er hatte nicht gehört, wie sie aus der Küche zurückgekommen war.

Sie nahm ihm den Rahmen aus der Hand und hielt ihn mit beiden Händen fest. »Es ist jetzt schon bald ein Jahr her seit dem großen Luftangriff. Hätte er nicht helfen wollen und wäre hiergeblieben, wäre er heute noch am Leben. Dieser verdammte Krieg.« Ihre Stimme wurde zittriger.

Er konnte ihren Schmerz nachvollziehen. Er hatte viele Jahre mit Werner zusammengearbeitet und zwischen den Männern hatte sich eine starke Freundschaft entwickelt. Es hatte auch ihn schwer getroffen, als er am Tag nach dem ersten großen Angriff auf Peenemünde im August 1943 vom Tod seines Freundes erfahren hatte. Zu Ilse hatte schon immer eine freundschaftliche Beziehung bestanden und nach Werners Tod war er ein starker und wichtiger Rückhalt für sie gewesen. Er hatte sie überredet, schon bald wieder die Arbeit aufzunehmen. Das würde sie ablenken und ihr besser über die schwere Zeit hinweghelfen, hatte er ihr geraten. Sie war an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, doch war sie seitdem einigen Dingen gegenüber kritischer eingestellt. Bisher hatte man darüber hinweggesehen, da man dies auf den schlimmen Verlust zurückführte, den sie erlitten hatte.

Hans nahm ihr das Bild ab und stellte es in das Regal zurück. Damit holte er sie aus ihrer Gedankenwelt zurück, in die sie kurzzeitig versunken war.

Sie fing sich überraschend schnell wieder. »Möchtest du noch ein Glas Wein?« Sie drehte sich um und ging an den Tisch, um die halb volle Flasche zu holen.

Hans Blick fiel auf eine freie Fläche im Regal, auf der sich bereits eine feine Staubschicht gebildet hatte. »Was hat hier eigentlich gestanden?«

»Ach, da stand doch immer das Funkgerät von Werner.« Und nach einer kurzen Pause ergänzte sie in Gedanken versunken. »Das war seine große Leidenschaft vor dem Krieg, als er noch ein bisschen Zeit dafür hatte.«

»Und wo ist das Gerät jetzt?«

»Das habe ich Dieter geliehen.«

»Was will denn Dieter damit?« Hans sah sie erstaunt an.

»Das musst du ihn schon selbst fragen. Hier ist dein Wein.« Ilse saß bereits auf dem Sofa und sah Hans auffordernd an. »Kommst du noch ein bisschen zu mir? Lass uns noch einmal anstoßen auf deine gesunde Rückkehr aus Frankreich.« Ilse trank einen Schluck, dann lehnte sie ihren Kopf an Hans Schulter. »Wie geht es Elisabeth und den Kindern?«

Hans erzählte von daheim und wie es Elisabeth ergangen war, während er in Frankreich eingesperrt war. Dann wurde auch er müde. Das viele gute Essen und der schwere Wein taten ihre Wirkung.

Der Nagel

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