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Dresden, Bismarckstraße, Freitag, 28. Juli 1944, 13:45 Uhr

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Als Elisabeth in die Bismarckstraße bog, begann ihr Herz deutlich schneller zu schlagen. Die Luft war schwül und heiß. Sie öffnete den oberen Knopf der Bluse und zog am Stoff. Das Material klebte bereits an vielen Stellen ihrer Haut. Sie fühlte sich in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt und das nahm ihr endgültig den letzten Rest an Sicherheit. Sie atmete schwer und ihre Schritte wurden langsamer, je näher sie dem Eingang zum ehemaligen Hotel Continental, einem stilvollen alten Gebäude, kam. Sie blieb kurz stehen und versuchte, durch gleichmäßige und tiefe Atemzüge, ihre innere Erregung in den Griff zu bekommen.

Nichts war mehr geblieben von der kurzzeitig entschlossenen Haltung, mit der sie gestern Abend Hans davon abgehalten hatte, sie heute zu begleiten. Die Selbstsicherheit, die sie ausgestrahlt hatte, damit er wie geplant die Kinder abholte, war komplett verschwunden. Wie sehr wünschte sie ihn jetzt bei sich, in den Arm genommen und festgehalten zu werden. Und einfach den Termin zu ignorieren und gemeinsam mit ihm zur Schule zu fahren. Zu ihren Kindern, die sie über alles liebte und für die sie alles tun würde. Bei dem Gedanken fasste sie neuen Mut. Sie riss sich zusammen und holte noch einmal tief Luft. Bringe es hinter dich, dachte sie und dann zurück zur Familie. Sie zupfte an der Bluse und strich mit den Händen über ihren knielangen Rock.

Vor dem Eingang standen regungslos zwei SS-Soldaten. Waren die schon immer da gewesen? Vermutlich eine der Vorsichtsmaßnahmen aufgrund des Attentats auf den Führer vor acht Tagen.

Sie öffnete die Tür und betrat den Eingangsbereich. Rechter Hand saß hinter einer Glasscheibe ein älterer, grauhaariger Mann, der sofort aufstand, als er sie sah. Er kam in leicht gebückter Haltung auf sie zu und zog dabei sein linkes Bein deutlich nach.

»Kann ich Ihnen helfen, gnädige Frau?«, fragte er höflich.

»Ich habe einen Termin«, hörte sie sich mit zittriger Stimme sagen. Sie zog das Schreiben aus der Handtasche und reichte es ihm. Er warf einen Blick darauf und kniff die Augen zusammen. Nachdem er festgestellt hatte, dass er den Text nicht lesen konnte, griff er in seine Hemdtasche, zog eine kleine Brille hervor und setzte sie mit einer Hand gekonnt auf die Nase. Er las die Zeilen durch, dann blickte er über den Rand der Gläser zu ihr auf.

»Den Gang entlang, die vorletzte Tür links.« Er zeigte mit dem Arm auf den Flur, der die Eingangshalle nach rechts verließ und gab ihr das Schreiben zurück. Dann hob er den Kopf und sein Blick fiel auf die Uhr, die über einem großen Gemälde hing. »Aber warten Sie vor dem Büro bis zwei. Er hat, glaube ich, noch Besuch.«

»Danke«, sagte Elisabeth, nahm das Papier und ging durch die Eingangshalle. Sie spürte seine Blicke im Rücken, bis sie einige Schritte später das deutliche Schleifgeräusch vernahm, als der Mann zu seinem Stuhl zurückkehrte.

Der Gang war nicht lang. Trotzdem kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie das richtige Zimmer erreicht hatte. Sie sah auf das Türschild. Die Zimmernummer war ordentlich angebracht, darunter Platz für zwei Namen, der aber nicht genutzt war. Sie wusste also immer noch nicht, wer hier auf sie wartete. Sie setzte sich auf die Holzbank gegenüber. Aus den einzelnen Büros drangen kaum Geräusche heraus. Mit einem lauten Knall fiel eine Tür ins Schloss. Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie konnte gerade noch einen Mann erkennen, der über den Flur huschte und in einem der anderen Zimmer verschwand. Er hatte Zivilkleidung getragen, mehr war nicht auszumachen. Wieder ging eine Tür. Erneut erschrak sie und sah die Frau an, die aus dem Büro gekommen war, in das sie gleich hinein musste. Sie hatte dunkle Haare, trug einen grauen Rock und eine weiße Bluse. Unter dem rechten Arm hatte sie zwei Ordner geklemmt. Die Frau musterte sie einen Moment, dann zog sie die Tür hinter sich zu und stolzierte den Gang entlang. Die Absätze sind ein bisschen hoch fürs Büro, ging es ihr durch den Kopf, als sie ihr nachsah.

Ihre Augen fixierten wieder den Türgriff, den sie drücken musste und danach würde sie erfahren, was es mit dem Schreiben auf sich hatte. Eine Stimme ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Die Stimme, die sie gehört hatte, als die Frau aus dem Büro kam und die Tür für einen Moment offen gestanden hatte. Sie war ihr bekannt vorgekommen, doch war sie innerlich viel zu aufgewühlt, um sie mit jemandem in Verbindung zu bringen. Plötzlich zuckte sie zusammen und warf einen Blick auf die Uhr. Eine Minute nach zwei. Hastig stand sie auf. Im Bruchteil einer Sekunde gingen ihr noch einmal eine Vielzahl von Gedanken durch den Kopf, bis sie schließlich die Hand hob und klopfte.

Es dauerte zwei lange Sekunden, bis sie ein deutliches »Ja, bitte?« vernahm und die Türklinke nach unten drückte.

Der Raum war unerwartet geräumig und die linke Wand von einer, fast die ganze Wand überspannenden, Hakenkreuzfahne bedeckt. Davor befand sich ein brusthoher, brauner Schrank, auf dem eine Büste von Hitler stand. Der Eingangstür gegenüber saß ein schlanker, groß gewachsener Mann am Schreibtisch. Er hatte beide Fenster direkt im Rücken, sodass sich seine Umrisse vor dem hellen Hintergrund klar abzeichneten. Elisabeth schloss die Tür und ging auf ihn zu. Sie kniff die Augen zusammen, um nähere Einzelheiten zu erkennen. Der Mann schrieb weiter, bis sie nur noch zwei Schritte entfernt war. Dann sah er auf, schien aber noch einen Moment gedanklich weg zu sein. Er hatte dunkle Haare, eine leicht gebogene Nase und eingefallene Wangen, sodass sein Gesicht einen kantigen Eindruck hinterließ. Durch die verschiedenen Lichtreflexionen im Raum und die Schatten unterhalb der Wangenknochen wirkte er unheimlich. Dann fielen ihr seine strahlenden Augen auf, die überhaupt nicht zu dem restlichen Erscheinungsbild passten. Die Augen, die aus Sicht von Himmlers Rassedefinitionen nicht blauer hätten sein können, strahlten etwas Wärme aus zwischen den ansonsten abstoßenden Gesichtszügen. Dieser krasse Gegensatz irritierte sie. Sollte sie sich an die Zuversicht ausstrahlenden Augen halten oder die Wachsamkeit erhöhen? Ihre Nervosität stieg. Sie überflog den dunkelbraunen Holzschreibtisch. Auf der linken Seite stand ein schwarzes Telefon mit einer schon stark abgenutzten Wählscheibe und zwei weißen Knöpfen darunter. Gegenüber lagen ein Aktenordner, einige Blatt Papier, ein Stempelkissen mit mehreren Stempeln, die sich wahllos in dem aufgeklappten Deckel der Box türmten und ein kleines Kästchen, aus dem einige Stifte ragten. Ganz am Rand stand eine Schreibmaschine, deren Position aber eher darauf hindeutete, dass sie hier nur abgestellt war.

Elisabeth wartete darauf, dass der Mann etwas sagte. Sie zitterte am ganzen Körper und hatte beide Hände ineinander gefaltet. So hoffte sie, ihre Unruhe verbergen zu können. Der Mann schien nach wie vor abwesend zu sein, aber nur kurze Zeit später konnte sie an den Augen erkennen, dass er aus seiner Gedankenwelt zurückkehrte. Sein Blick fiel auf ihre Hände und sie verfluchte sich in Gedanken, dass sie so nervös und angespannt war. Er musste das Zittern bemerken. Langsam richtete der Mann, der ein hellgraues Hemd trug, seinen Blick nach oben und starrte sie an. Er ließ nicht erkennen, ob er ihre Unruhe bemerkt hatte. Obwohl sie darauf gewartet hatte, erschrak sie, als er sie ansprach.

»Ja, bitte?«

»Mein Name ist Friedel. Elisabeth Friedel«, begann sie zögerlich. »Ich habe einen Brief bekommen, dass ich mich heute um vierzehn Uhr hier melden soll.« Sie öffnete ihre Handtasche, suchte nach dem Papier und reichte es über den Tisch. »Der Herr am Eingang hat mich zu Ihnen geschickt, Herr ...?« Sie hob leicht die Stimme und wartete auf eine Antwort.

»Hoffmann«, antwortete er schließlich kurz. »Setzen Sie sich!«

Ihr Blick fiel auf einen einfachen Stuhl. Sie zog ihn heran und setzte sich. Die Handtasche stellte sie auf ihre Oberschenkel und hielt sich mit beiden Händen daran fest.

Hoffmann las den Brief. Er ließ sich dafür ungewöhnlich viel Zeit. Dann legte er ihn auf seinen Schreibtisch und nahm den Aktenordner in die Hand. Er öffnete den schwarzen Deckel, löste die Klammer und nahm das oberste Blatt heraus. Auch das betrachtete er noch einmal ausgiebig, legte es dann vor sich ab und sah zu ihr auf.

»Seit über viereinhalb Jahren kämpft nun das deutsche Volk in ganz Europa um einen angemessenen und den ihm zustehenden Platz in dieser Welt. Das internationale Judentum hat es wieder einmal geschafft, dass wir in einen Weltkrieg gezogen wurden, der eine Unmenge besten und jungen Blutes kostet und für den schon viele deutsche Männer ihr Leben gelassen haben. Damit dies endgültig nie wieder vorkommen wird, hat die nationalsozialistische Partei sich zum Ziel gesetzt, den Juden und anderen Feinden des Landes ...« Er stockte für einen Moment, dann fuhr er fort: »... sagen wir mal so, die Möglichkeit zu nehmen, jemals wieder ihr zerstörerisches Werk zuungunsten Deutschlands durchführen zu können. Die Juden werden umgesiedelt und ihre Zahl wird unter Kontrolle gehalten.« Er schmunzelte um die Mundwinkel, als er die letzten Worte mit einer besonderen Betonung aussprach. »Und wissen Sie was, Frau Friedel?«

Elisabeth schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Und wieder hatte sie das Gefühl, dass man ihr die Luft abdrückte.

Hoffmann ließ sie noch etwas in ihrer Beklemmung schmoren. Offensichtlich genoss er es, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und fuhr in absoluter Ruhe fort. »Wir sind hier in Deutschland eigentlich schon fast fertig mit unserer Aufgabe. Die letzten Juden aus dem Reich werden in den nächsten Monaten aufgefordert, sich für die Umsiedlung bereitzuhalten. Dann haben wir unser Land gereinigt und damit eine lebenswerte Basis für das Volk und seine Zukunft geschaffen. Und dann haben wir auch die Zeit, uns um diejenigen Fälle zu kümmern, die nicht ganz die Reinheit in sich tragen, die der Führer als das Minimum für das Wohl des deutschen Volkes festgelegt hat.«

Er richtete sich in seinem Sessel auf, lehnte sich mit beiden Unterarmen auf den Tisch und nahm das Papier in die Hand, das er zuvor aus dem Ordner geholt hatte. Er starrte sie an und wartete.

»Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen«, brachte Elisabeth nach einiger Zeit mit zitternder Stimme hervor. Sie war völlig durcheinander und kaum in der Lage, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen. In ihrem Kopf schwirrten Erzählungen umher, die sie über das Schicksal der Juden gehört hatte. Grausame Geschichten, die sie kaum in Worte fassen konnte. Und damit wollte man sie nun in Zusammenhang bringen?

»Warum erzählen Sie mir das alles? Warum haben Sie mich her befohlen?«, stammelte sie undeutlich.

»Es gibt viele Feinde Deutschlands, Juden und andere, die sich durch Falschaussagen dem Zugriff entziehen und das mit dem Ziel, zu einem späteren Zeitpunkt unsere Macht im Reich durch ihre verbrecherischen Tätigkeiten zu schwächen. Und das wollen wir natürlich verhindern, Sie verstehen?«, fragte er arrogant und zog dabei erneut die Mundwinkel nach oben. Seine blauen Augen funkelten in den kalten und markanten Umrissen seines Gesichts und jede Freundlichkeit und Wärme war jetzt verschwunden. Er zögerte bewusst noch einige Sekunden, bevor er fortfuhr.

»Frau Friedel. Es gibt hier ein paar Ungereimtheiten, die wir dringend klären müssen.«

»Was denn für Ungereimtheiten?«, stotterte sie unsicher und ihr Blick fischte dabei nach dem Papier, das er in der Hand hielt, in der Hoffnung, dort die ersehnte Antwort zu finden. Doch aus ihrer Position heraus war das nicht möglich.

»Bei der Untersuchung der Abstammung ihrer Familie sind wir auf ein Papier gestoßen, das uns dazu veranlasst hat, Sie herzubitten.«

»Was denn für ein Papier?«

Er ging auf ihre Frage nicht ein.

»Ihre Mutter hieß doch Wilhelmine Bernhard?«

Sie nickte.

»Bis zu ihrem Tod wohnhaft in der Nürnberger Str. 17?«

Sie nickte erneut.

»Gestorben am 14. Januar 1938 in Dresden?« Er sah zu ihr auf, aber sie antwortete nicht.

»Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte sie im Gegensatz, doch auch er ignorierte ihre Frage. »Was ist ...«, sie verbesserte sich, »... war mit meiner Mutter?«

»Wie ich vorhin schon sagte, gibt es Menschen, die sich durch Falschaussagen und mit falschen Dokumenten einen arischen Nachweis besorgen, um sich so unserem Zugriff zu entziehen. Und um es kurz zu machen. Bei den Untersuchungen zu ihrer Mutter haben wir festgestellt, dass sie jüdische Vorfahren hatte. Was wiederum bedeutet, dass auch Sie jüdisches Blut in sich tragen.«

Elisabeth sah ihn fassungslos an. Mit weit geöffnetem Mund saß sie auf ihrem Stuhl. Beide Hände umklammerten die Tasche und die Finger bohrten sich in das braune Leder. Sie brachte keinen Ton heraus und starrte den Mann einfach nur an. Es dauerte eine ganze Weile, dann stammelte sie: »Das ist nicht möglich!« Ihr Hals war trocken und die Worte kamen nur undeutlich über ihre Lippen. Sie schluckte schwer. »Das kann nicht sein. Wir haben umfangreiche Untersuchungen über uns ergehen lassen müssen, als es darum ging, ob mein Mann nach Peenemünde kann. Und damals war alles in Ordnung. Wo soll jetzt plötzlich das Dokument herkommen?«

»Die genauen Details werden gerade noch geklärt, die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen.«

»Das kann nicht sein«, wiederholte sie. »Ich glaube das nicht.« Elisabeth zögerte. Unerwartet spürte sie eine innere Energie aufkommen. Dann warf sie ihrem Gegenüber vor: »Sie lügen mich an, es kann gar nicht anders sein.«

Hoffmann hatte während des bisherigen Gesprächs eine überhebliche Lässigkeit an den Tag gelegt. Besonders in der Art, wie er auf seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch saß und der speziellen Tonlage, die er in seine Sätze legte. Dagegen veränderte sich nun sein Ton schlagartig. Erbost richtete er seinen Oberkörper auf und mit kräftiger Stimme erwiderte er: »Ich verbitte mir solche Anschuldigungen. Wir haben hier ein offizielles Dokument zur Abstammung ihrer Mutter und die Quelle ist absolut zuverlässig. Sie haben versucht, uns ihre wirkliche Herkunft zu verheimlichen. Darum geht es hier. Und wir sind Ihnen auf die Schliche gekommen.«

»Dann wissen Sie also doch schon mehr über die Details, als Sie vorhin zugegeben haben«, fiel ihm Elisabeth nun fast ebenso deutlich ins Wort. »Ich will sofort wissen, woher Sie dieses Dokument haben und wer so etwas behauptet?«

Ganz überraschend hatte sich Elisabeth gefangen und trat nun mit einem vor wenigen Sekunden noch völlig unvorstellbarem Selbstbewusstsein auf.

Hoffmann war von ihrem plötzlichen Wandel sichtlich überrascht.

»Frau Friedel«, begann er beschwichtigend und versuchte zu seiner ursprünglichen Lässigkeit zurückzukehren, was ihm aber nicht ganz gelang. »Beruhigen Sie sich wieder. Schauen Sie. Es ist nun mal unsere Aufgabe, die Abstammung der deutschen Volksgenossen zu prüfen. Und wenn wir auf so ein Dokument stoßen«, und dabei wies er auf das Papier, das er noch immer in Händen hielt, »dann müssen wir der Sache nachgehen.«

Seine Stimme wurde ruhiger und verfehlte ihre Wirkung auf Elisabeth nicht. Ihre Erregung ließ nach und die Spannung wich aus ihrem Körper. Langsam sanken ihre Schultern nach unten.

»Wir müssen einfach der Sache nachgehen«, fuhr er in einer, gegenüber vorhin, jetzt schon fast extrem leisen Tonlage fort. »Von so einem Dokument ist ja nicht nur die Person betroffen, die darauf aufgeführt ist. Im Endeffekt geht es dabei auch um die Nachkommen. Wenn ihre Mutter Jüdin war, dann sind Sie es und ihre Kinder auch.«

Der Hinweis auf ihre Kinder löste erneut eine unerwartete Reaktion in Elisabeth aus. Wie ein Muttertier, das sich vor ihre Jungen stellt, um diese vor einer Hyäne zu schützen, spürte sie plötzlich in ihrem ganzen Körper eine Mischung aus Angst, Verzweiflung und Entschlossenheit. Sie wusste nicht, was in ihr vorging, aber diese Gefühle setzten in ihr einen unabdingbaren Überlebenswillen frei.

»Ich möchte wissen, woher Sie dieses Dokument haben«, wiederholte sie langsam und deutlich ihre Forderung. Dann erhob sie sich, lehnte sich über den Tisch und entriss ihm das Papier. Sie setzte sich wieder auf den Stuhl und begann, das Dokument zu studieren. Hoffmann ließ sie gewähren.

Sie las die einzelnen Zeilen immer und immer wieder und hoffte, etwas zu finden, was ihr die Hoffnung gab, dem Schicksal, das den Juden widerfuhr, zu entgehen.

Mutter: Wilhelmine Bernhard.

Wohnhaft: Nürnberger Str. 17 in Dresden.

Verstorben: 14. Januar 1938.

Mehrfach las sie die Einträge. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte sie im Unterbewusstsein. Ein Gefühl sagte ihr, dass auf dem Papier etwas nicht passte. Aber was war es? Das Adrenalin, das es ihr in die Adern getrieben hatte, ließ langsam nach und sie spürte, wie die Angst zurückkehrte. Immer hastiger überflog sie das Dokument. Wieder und wieder und suchte nach der Stelle, nach dem Strohhalm, der ihr und ihren Kindern ein grausames Schicksal ersparen würde. Panik stieg in ihr auf.

Da. Da war er. Da war der Strohhalm.

Mutter: Wilhelmine Bernhard.

Bernhard war ohne t geschrieben. Ihre Mutter hieß Bernhardt. Das t am Ende war der Strohhalm, den sie suchte und den sie nun mit beiden Händen ergriff. Sie spürte die Energie zurückkommen, von der sie zuvor gepackt worden war. Nicht so stark, aber sie war wieder da. Sie stand auf und warf Hoffmann das Blatt auf den Schreibtisch.

»Was wollen Sie überhaupt von mir. Es geht hier nicht um meine Mutter. Sie legen mir ein Dokument vor von einer Frau Bernhard und behaupten, sie wäre meine Mutter. Meine Eltern schrieben sich mit dt am Ende und beide waren arischen Blutes. Und zwar mindestens bis in das 17. Jahrhundert zurück. Bevor Sie anfangen, deutschen Frauen und Familien, die sich für das Vaterland aufopfern als Juden zu bezichtigen und Ihnen das gleiche Schicksal androhen, sollten Sie erst einmal Ihre Arbeit sauber erledigen. Ich werde mir überlegen, ob ich nicht Beschwerde gegen Sie einreiche. Und jetzt lassen Sie mich und meine Familie in Ruhe.«

Damit stand sie auf und verließ eiligen Schrittes das Büro. Die Tür schloss sie mit einem lauten Knall, der durch den ganzen Gang hallte, dann stolzierte sie aufrecht zurück in Richtung der großen Eingangshalle.

Hoffmann hatte Elisabeth nachgesehen. Er war von ihrer Reaktion völlig überrascht worden und reagierte überhaupt nicht, bis der laute Knall der Tür ihn aus der Fassungslosigkeit riss. Sein Blick fiel auf das Papier. Er nahm es in die Hand und schaute auf den Namen Bernhard, dessen fehlendes t ihn bloßgestellt hatte.

»Verdammte Scheiße«, stieß er hervor, dann warf er das Blatt auf den Schreibtisch. Er nahm den Hörer vom Telefon und drückte den rechten, weißen Knopf.

Der Nagel

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