Читать книгу Der Nagel - Rainer Homburger - Страница 23

Dresden, Donnerstag, 27. Juli 1944, 22:30 Uhr

Оглавление

»Ist es nicht schön, wie sich die beiden freuen?«

Elisabeth lächelte, als er ins Schlafzimmer kam. Sie war froh, dass nur die kleine Lampe auf seiner Bettseite brannte, und er so ihr Gesicht nur schlecht erkennen konnte. Sie war sich sicher, dass er ansonsten ihr aufgesetztes Lächeln sofort durchschaut hätte.

Zum Glück waren sie den ganzen Nachmittag im Park gewesen. Hans hatte dort lange mit den Kindern gespielt, bevor sie dann im Schatten einer großen alten Eiche gegessen hatten. Die beiden hatten ihren Vater völlig in Beschlag genommen und ihm somit nie die Möglichkeit gegeben, sie zu fragen, was denn los sei.

Jetzt lag sie im Bett und sollte eigentlich froh sein, dass er da war. Aber sie konnte es nicht genießen. Jeder ihrer Muskeln schien unter Spannung zu stehen. Ihr Herz schlug deutlich schneller, während es ihr gleichzeitig die Atemwege verengte. Sie konnte sich nicht entspannen, die Angst war übermächtig. Sie wusste nicht, was sie erwartete. Was man von ihr wollte. Sie hatte schon viele Geschichten und Gerüchte gehört. Es war bekannt, dass die Nazis seit Jahren Menschen, die nicht in ihr Weltbild passten, einfach verschwinden ließen. Egal, ob sie einer fremden Religion angehörten, eine andere Hautfarbe oder politische Gesinnung hatten. Die Menschen wurden gedemütigt, ausgegrenzt, verloren ihre Arbeit, ihr Hab und Gut und viele auch ihr Leben. Und dann die Juden. Von Nachbarn und Freunden hatte sie schon einiges gehört darüber. Über das Schicksal, das ihnen offiziell zuteilwurde, genauso wie das, was in Wirklichkeit geschah. Sie wurden deportiert und nur ein Teil kam tatsächlich zum Arbeitseinsatz. Viele in Konzentrationslager, die sie nie wieder lebend verlassen würden. Einige der verbliebenen Juden aus ihrer Stadt hatten kürzlich einen Brief erhalten, der sie aufforderte, etwas Gepäck für eine kurze Reise herzurichten und sich zu einem bestimmten Termin an einem angegebenen Ort einzufinden. Ein Brief, der endgültig den Anfang vom Ende für sie darstellte.

Sie fing an zu zittern, als sie den Kopf in Hans Richtung drehte und ihm dabei zusah, wie er sich vor dem großen, braunen Schrank auszog, die Kleidungsstücke locker über den Stuhl warf und dann in seinen kurzen Schlafanzug schlüpfte.

Sie hatte heute auch einen Brief bekommen. Dass sie den Erhalt quittieren musste, fand sie schon ungewöhnlich. Sie war so aufgewühlt gewesen, dass sie nicht wusste, was sie tun sollte und hatte ihn einfach in den Küchenschrank gelegt. Ungeöffnet. Sie hatte Angst davor gehabt, etwas zu lesen, was sie nicht lesen wollte. Der Brief war an sie persönlich gerichtet. Der Absender auf der Rückseite hatte ihr das Blut in den Adern stocken lassen.

Gestapozentrale Dresden, Bismarckstr. 16 – 18.

Sie kannte die Bismarckstraße beim Dresdner Hauptbahnhof, das ehemalige Hotel Continental, in dem sich jetzt die Zentrale der Geheimen Staatspolizei befand. Jeder kannte es und sie war froh, das Gebäude noch nie von innen gesehen zu haben.

Zwei Stunden hatte es gedauert. Zwei Stunden, in denen sie nicht wusste, was mit ihr geschah. Dann hatte sie den Umschlag wieder aus dem Schrank geholt und mit zittrigen Fingern geöffnet. Der Brief enthielt nur wenige Zeilen, die sie aufforderten, sich am nächsten Tag, um vierzehn Uhr in der Gestapozentrale zur Klärung einer wichtigen Reichsangelegenheit einzufinden. Unterschrieben war er von Kriminalkommissar Henry Schmidt. Seine krakelige Unterschrift saß rechts unten neben dem Stempel mit dem Reichsadler, dem Hakenkreuz und einem allgegenwärtigen Heil Hitler. Aber die Aufforderung zum Packen fehlte ebenso wie ein Hinweis auf den Grund. Sie war so froh gewesen, als bald darauf die Kinder nach Hause kamen und sie gemeinsam Hans vom Flughafen abholten, sodass sie etwas Ablenkung fand.

Hans nahm einen kleinen Anlauf und sprang leichtfüßig über den hinteren Bettrand auf seine Seite. Im Raum stand noch die schwülwarme Luft des vergangenen Tages, der die Dresdner mit einer strahlenden Sonne unter einem blauen Himmel verwöhnt hatte. Obwohl sie lange Zeit die Fenster geöffnet hatten, krallte sich die Hitze unvermindert im Schlafraum fest. Zum Schlafen war es deutlich zu warm, und da die letzten Wochen allesamt sehr heiß gewesen waren, hatten sie schon vor Tagen ihre Bettdecken gegen einfache Leintücher getauscht. Hans legte sich neben sie und ließ das Tuch locker über sich fallen, sodass es sich in einer geschmeidigen Eleganz um die Rundungen seines Körpers legte. Er lag auf der Seite und sah ihr in die Augen. Es dauerte nicht lange, dann stellte er die Fragen, auf die sie die ganze Zeit schon gewartet hatte und die unausweichlich kommen mussten.

»Was hast du? Was ist los mit dir?«

Sie wusste nicht, wie sie es ihm erzählen sollte. Seit sie den Brief gelesen hatte, überlegte sie, ob sie überhaupt darüber sprechen sollte. Sie wollte nicht, dass er sich auch noch Sorgen machte. Er hatte in Frankreich selbst einiges durchgemacht. Auf der anderen Seite musste sie mit ihm reden. Er war ihr Mann und sie brauchte jemanden, der sie stützte. Der ihr half, den Kopf nicht zu verlieren, Kraft zu schöpfen und gemeinsam zu überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten. Vielleicht verbarg sich hinter der Aufforderung auch nur eine unbedeutende Formalität, deren Erledigung einen kurzen Gang in die Bismarckstraße erforderte und worüber danach kein Mensch mehr sprechen würde? Aber was, wenn nicht? Sie zögerte noch einen Moment, dann antwortete sie: »Ich habe heute Morgen einen Brief bekommen aus der Bismarckstraße.« Sie schluckte. »Ich war so durcheinander, dass ich erst einmal nicht wusste, was ich machen soll. Mir ging so vieles durch den Kopf. Du, die Kinder, deine Verhaftung in Frankreich, unser ganzes Leben hier, der Krieg, die Juden und weiß Gott was sonst noch alles.« Sie stöhnte kurz auf, dann fuhr sie mit zittriger Stimme fort. »Es ist doch so, dass die Juden abtransportiert werden und per Brief aufgefordert werden, sich an einem bestimmten Tag dafür bereitzuhalten. Sie verschwinden dann einfach und man sieht und hört nichts mehr von ihnen. Und jetzt habe ich auch so einen Brief bekommen.« Ihre Augen wanderten über sein Gesicht. Sie suchte Halt.

Er nahm sie in den Arm, drückte sie sanft, aber bestimmt, und hielt sie fest. Er spürte ihre Unruhe, die sich langsam auch auf ihn übertrug. Er verstärkte den Druck und versuchte, ihr Kraft und das Gefühl von Sicherheit zu geben.

»Zeig mir mal den Brief«, forderte er sie schließlich mit leiser, ruhiger Stimme auf. Er bemühte sich, das auch bei ihm aufgekommene, unbehagliche Gefühl zu verbergen.

Elisabeth wandte sich aus seinen Armen, zog die Schublade ihres Nachttisches auf und nahm den Brief heraus.

Hans öffnete den Umschlag und hielt das Schreiben eine halbe Armlänge vor sich, sodass er es im Schein der Lampe gut lesen konnte. Elisabeth rutschte von der Seite an ihn heran und legte den Arm um seinen Oberkörper.

In gespannter Erwartung überflog Hans die Zeilen.

»Hier steht nichts von einem Termin, an dem du dich bereithalten sollst. Wie kommst du darauf?«

»Ich konnte die ganze Zeit an nichts anderes denken. Wenn sie mich doch wegbringen wollen?« Ihre Unruhe war deutlich zu spüren. Sie zitterte. »Was soll dann mit den Kindern geschehen und mit dir?«

»Jetzt beruhige dich erst mal wieder. Dafür gibt es überhaupt keinen Grund. Wir sind keine Juden. Nach dem Gesetz sind wir deutsche Arier, das haben wir ausreichend nachgewiesen und das wurde noch einmal vor meiner Einstellung in Peenemünde umfangreich geprüft. Unsere Abstammungsurkunden belegen das eindeutig. Es kann also nichts von Bedeutung sein, was die Gestapo von dir will.«

»In dem Brief steht aber etwas von einer wichtigen Reichsangelegenheit«, erwiderte sie und nahm ihm zur Bekräftigung ihrer Worte den Brief aus der Hand. »Hier steht es«, sagte sie, »... wichtige Reichsangelegenheit ...«, zeigte mit dem Finger auf den Text und hielt ihm das Schreiben wieder vors Gesicht.

»Ja, das steht hier«, versuchte er das Ganze herunterzuspielen. »Meinst du nicht auch, dass wir in Deutschland momentan sehr viele«, und auch er zitierte jetzt, »wichtige Reichsangelegenheiten haben, die es zu klären gibt?«

»Schon, aber was kann ich damit zu tun haben? Um diesen Krieg zu einem Ende zu bringen, kann ich doch sicherlich nichts beitragen, was eine wichtige Reichsangelegenheit sein könnte.«

»Mein Schatz«, sagte Hans. »Das klärt sich morgen ganz bestimmt auf und du wirst feststellen, dass du dir völlig umsonst Gedanken gemacht hast. Lass uns zu dem Termin gehen und dann erledigen wir das.«

»Wenn, dann gehe ich!«, erwiderte sie plötzlich überraschend selbstsicher und der Teil, der Hans nicht weiter mit ihren Problemen belasten wollte, sprach jetzt aus ihr. »Du hast den Kindern versprochen, dass du sie morgen von der Schule abholst. Das war so vereinbart und ich kann auf die Schnelle keinen Ersatz finden. All unsere Freunde und Nachbarn arbeiten in Fabriken und können da nicht so einfach frei bekommen oder zwischendurch verschwinden. Wenn wir dafür jemanden brauchen, müssen wir uns früher darum kümmern. Zudem freuen sich die beiden so sehr darauf, dass du sie auch mal wieder abholst. Übermorgen bist du wieder in Berlin und danach fliegst du zurück nach Peenemünde und wir wissen nicht, wann wir uns wiedersehen.«

»Wenn du meinst.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Er wusste, dass sie innerlich in einem gewaltigen Gefühlschaos gefangen war und sie hin- und hergerissen wurde. Aber er war froh, dass sie dem Ganzen jetzt wieder mit mehr Selbstbewusstsein und einem besseren Gefühl gegenüberstand.

Elisabeth lag in Hans Armen und keiner sprach mehr über den Brief und den morgigen Tag. Es gelang Hans nicht, die Gedanken zu vertreiben, die sich jetzt in seinem Kopf festsetzten und so dauerte es lange, bis er in einen unruhigen Schlaf fiel.

Der Nagel

Подняться наверх