Читать книгу Der Nagel - Rainer Homburger - Страница 22
London, Mittwoch, 14. Juni 1944, 11:30 Uhr
ОглавлениеDavid saß an seinem Schreibtisch und hielt das Fernschreiben in der Hand. Er hatte den kurzen, knappen Text sicher schon fünf Mal gelesen und sein Blick war jetzt auf die Bürotür gerichtet, die seine Sekretärin nicht richtig geschlossen hatte. Er war gedanklich weit weg in Schweden und so nahm er auch die Schritte nicht wahr, deren Laute sich langsam aus dem Wirrwarr der Arbeitsgeräusche auf dem Gang herausschälten und immer deutlicher ihren zielstrebigen Weg zu erkennen gaben. Einen Moment später trat Frank ein. Er schloss die Tür und mit einem Schlag kehrte Ruhe ein. Die Änderung des Geräuschpegels holte David aus Schweden zurück. Er nickte Frank zu, der sich auf einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch setzte. Das Holz der Sitzfläche knarrte unter seinem Gewicht. Frank lehnte sich zurück, was der Stuhl mit einem weiteren Ächzen quittierte. David streckte ihm das Fernschreiben entgegen. Frank überflog die wenigen Zeilen zweimal, dann sah er zu ihm auf.
David sah ihn an, ließ aber noch einige Sekunden verstreichen. »Was meinst du, könnte das unsere Rakete sein?«
Frank sah erneut auf das Papier und las die Zeilen ein drittes Mal.
»Ein Einschlag in Südschweden, eine starke Explosion«, sagte Frank. »Weit verstreute Trümmerteile, aber kein Hinweis auf den Einflug eines Flugzeugs«, wiederholte er den Inhalt des Fernschreibens mit eigenen Worten. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Schwer zu sagen.«
»Wenn das wirklich unsere Rakete ist, dann könnten wir jetzt vielleicht ihre Existenz nachweisen. Man müsste die Trümmerteile mit denen der bei uns runtergegangenen Fluggeräte vergleichen. So können wir feststellen, ob es sich hier um etwas anderes handelt.«
Frank spürte sofort, wie es ihm die Kehle zuschnürte. »Man müsste die Trümmerteile mit denen der bei uns runtergegangenen Fluggeräte vergleichen«, gingen ihm Davids Worte noch einmal durch den Kopf. Ihm schwante Fürchterliches. David wird ihn doch nicht schon wieder nach Schweden schicken wollen. Er war gerade erst zurückgekommen und hatte niemandem anvertraut, mit wie viel Angst er diese beiden Flüge überstanden hatte. Wie viel Schweiß hatte ihn das alles gekostet, als er stundenlang in dem eiskalten Flugzeug gesessen hatte, nachdem der Pilot zum ersten Mal deutsche Flugzeuge am Himmel ausgemacht und dies durchgegeben hatte. Sie hatten Glück gehabt, dass sie in der tief hängenden Wolkendecke verschwinden konnten, bevor sie entdeckt wurden. Stockholm ist eine schöne Stadt, aber mit Sicherheit wäre ihm jede Stadt schön vorgekommen, die nicht durch die vielen Zerstörungen, Vorsichtsmaßnahmen und kriegsbedingten Einschränkungen ihren Reiz verloren hatte. Natürlich spürte man auch in Stockholm, dass sich fast die ganze Welt im Krieg befand. Aber hier konnte man abends in beleuchteten Gassen zu den überall geöffneten Kneipen und Restaurants gehen und wer wollte, konnte noch ein richtiges Nachtleben genießen, wie es vor dem Krieg auch in London möglich gewesen war. Er hatte die Tage in Stockholm genossen und versucht, den Krieg einfach zu vergessen. Leicht war es nicht gewesen, zumal er sich tagsüber in der britischen Gesandtschaft und verschiedenen schwedischen Ministerien aufgehalten hatte, bis die endgültige Übergabe der noch verbliebenen deutschen Dokumente ausgehandelt und durchgeführt war. Darüber hinaus hatte er jede Nacht einen harten Luftkampf mit Messerschmitt-Jägern zu bestehen gehabt, deren Niederlage er jedes Mal kurz vor dem Abschuss entging, indem er schweißgebadet aufwachte. Trotzdem erlebte er ein paar wunderschöne Stunden in einem kleinen, netten Lokal, in das ihn der britische Gesandte eingeladen hatte. Das Essen war köstlich gewesen. Wie lange schon hatte er nicht mehr ein so gutes Fleisch gegessen, dazu knackiges Gemüse und Nudeln. Wie lange war es schon her, seit er so schöne junge Frauen auf der Bühne gesehen hatte, die nur leicht bekleidet zu einer ihm bekannten Musik getanzt hatten. Der Abend war einfach wundervoll gewesen, auch wenn nachts wieder die Kugeln der deutschen Jäger durch das Cockpit pfiffen.
»Wenn wir feststellen könnten, dass dort ganz andere Trümmerteile herumliegen, wüssten wir zumindest, dass es sich hier um eine weitere Waffe der Deutschen handelt«, hörte Frank David sagen. Er schluckte kräftig und versuchte, den Kloß im Hals in seinen Magen zu befördern, auf dass ihm die Magensäfte den Gar ausmachen konnten.
Frank streckte sich. »Sollten wir nicht erst einmal versuchen, genauere Informationen von den Schweden zu bekommen? Wir wissen doch eigentlich noch gar nichts über die Explosion. Und wer sagt uns denn, dass die überhaupt von den Deutschen verursacht wurde?« Frank schöpfte etwas Hoffnung und seine Stimme gewann an Selbstsicherheit. »Vielleicht sind ja auch die Russen dafür verantwortlich?«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte David und sah Frank dabei an.
Frank war überzeugt, dass David genau wusste, was in seinem Kopf vorging. Es kam ihm vor, als ob seine große Angst vor einem erneuten Flug nach Schweden mit leuchtenden Buchstaben und für alle sichtbar auf seiner Stirn zu sehen war. Er spürte, wie er anfing zu schwitzen.
»Die Russen sind auf dem Gebiet noch lange nicht so weit«, erwiderte David. »Die hängen doch in der Raketenentwicklung noch viel weiter zurück, als wir.«
David stand auf, stieß den Stuhl zurück und ging in langsamen Schritten durch das Büro. Er hielt den rechten Ellenbogen in der linken Hand, während er mit dem Daumen und Zeigefinger über das Kinn strich.
»Vielleicht hast du Recht. Lass uns erst noch mehr Informationen einholen. Unsere Gesandtschaft in Stockholm soll alle Hebel in Bewegung setzen und alles durchgeben, was über die Explosion von den schwedischen Behörden zu bekommen ist. Ich will jedes Detail haben, und sei es noch so unscheinbar.«
Frank stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und damit David den nicht als solchen erkannte, stand er auf und warf das Papier auf den Schreibtisch. Er straffte seinen Körper und mit fast übertrieben zur Schau gestelltem Eifer antwortete er: »Ich werde das sofort veranlassen.« Dann machte er auf der Stelle kehrt und ging mit schnellen Schritten auf die Bürotür zu, bevor David es sich noch anders überlegen konnte.