Читать книгу Der Nagel - Rainer Homburger - Страница 4
Zehn Monate später bei Lorient, Frankreich, Donnerstag, 25. Mai 1944
Оглавление»Stimmt es, dass die Invasion bald bevorsteht und die Deutschen dann wieder aus unserem Land vertrieben werden?«
»Ich weiß auch nur, was die anderen sagen.« Bertrand sah seinen neunjährigen Sohn an. »Aber wir hoffen natürlich, dass das nicht mehr allzu lange dauern wird.«
»Weißt du etwas darüber?«
»Nein.« Bertrand zwinkerte seinem Sohn zu. »Aber darüber dürft ihr mit niemandem reden. Habt ihr das verstanden?« Er sah Daniel in die Augen, wandte sich dann Marie zu und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Es ist am besten, wenn ihr nichts davon wisst. Und jetzt gute Nacht.«
Er beugte sich zu Marie hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf gut, meine Kleine.« Dann ging er zu Daniel ans Bett. »Solange die Deutschen da sind, müssen wir aufpassen, was wir sagen. Gute Nacht, mein Sohn.«
Er fuhr Daniel über die Haare und ging dann zum Tisch. Die Kerze war heruntergebrannt und das Wachs über den Ständer gelaufen. Bertrand nahm den Kerzenhalter in die Hand und ging damit langsam durch den Raum. Die Türen und Fenster waren nicht mehr dicht. Das Haus war in die Jahre gekommen und es zog überall durch die sich öffnenden Ritzen und Spalten. Bertrand hatte kein Geld für Reparaturen. Er war froh, wenn er seine Familie durchbringen konnte.
Als er sich der Tür näherte, flackerte die Flamme wild und legte sich fast waagerecht neben den schwarzen Docht. Bertrand schloss die Tür und ging über den Flur zum anderen Ende des Gangs. Die Dielenböden knarrten unter seinem Gewicht und die Kerze beleuchtete schwach die tiefe Decke, an der sich einige Holzbretter lösten. Die muss ich dringend befestigen, sonst kommen sie bald runter, dachte er. Vom Gang ging es rechts in das kleine Badezimmer und nach links in einen Raum, der immer verschlossen war.
»Schlafen sie?«, fragte Monique, als Bertrand die Schlafzimmertür hinter sich schloss. Sie lag bereits im Bett. Auf ihrem Nachttisch brannte eine Kerze, daneben lagen zwei alte Bücher. Monique las gerne und verbrachte einen großen Teil ihrer spärlichen Freizeit damit. Sie besaß sogar eins in deutscher Sprache, und da sie früher etwas Deutsch gelernt hatte, war sie es gewesen, die in der ersten Zeit der Besetzung den Verkauf ihrer angebauten Lebensmittel mit den Besatzern abgewickelt hatte.
»Sie sind beide müde. Ich denke, sie schlafen heute schnell ein.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Wir müssen aufpassen, dass Daniel nicht zu oft über die Invasion spricht. Er ist unheimlich neugierig und fühlt sich manchmal schon sehr erwachsen. Dann will er den großen Mann spielen.«
Er zog seine Kleider aus und legte sie auf den Stuhl neben dem Fenster. Monique beobachtete ihn dabei. Bertrand hatte einen muskulösen Körper, wenngleich er jetzt schmaler war als früher. Man sah ihm an, dass die täglichen Rationen auf dem Tisch kleiner wurden. Die Feldarbeit, die weitgehend von Hand ausgeführt werden musste, war reine Knochenarbeit und sehr anstrengend. Wann immer es möglich war, gab Bertrand den Kindern etwas von seinem Essen ab, damit sie halbwegs satt wurden, auch wenn er dies sehr gut selbst hätte gebrauchen können. Er zog den Schlafanzug an und legte sich zu Monique ins Bett. Er umarmte ihren warmen Körper von hinten, während sie die Kerze auf dem Nachttisch ausblies.
Am frühen Morgen wurde Bertrand von einem unheimlichen Lärm geweckt. Im ganzen Haus dröhnte es und das Gebäude schien in seinen Grundmauern zu vibrieren. Er setzte sich auf und stützte den Oberkörper auf beide Arme. Im Raum war es noch dunkel, nur um das Fenster herum zeichnete sich ein heller Rand ab.
»Was ist das?« Monique war zu ihm gerutscht und hielt seinen Unterarm fest umklammert. Ihre Stimme zitterte.
»Das kommt von der Straße.«
Bertrand stieg aus dem Bett und schob den schweren Vorhang einige Zentimeter zur Seite. Der Tag hatte bereits begonnen, der Himmel hob sich in einem hellen Grau von der noch dunklen Landschaft ab. Die Umrisse einzelner Bäume sowie des Schuppens neben dem Weg waren bereits gut zu erkennen. Ein unheimlicher Lärm gelangte durch die undichten Fenster fast ungehindert in den Raum. Bertrand schob den Stuhl heran und setzte sich auf seine Kleider, während er nach draußen spähte.
»Was ist da los?«, fragte Monique noch einmal.
Bertrand saß schweigend am Fenster und blickte gespannt in Richtung der Straße. Der Lärm schwoll weiter an.
»Bertrand!« Monique sprach jetzt lauter aber doch vorsichtig, als ob sie Angst hatte, dass man sie draußen hören konnte.
»Auf der Straße fährt eine Kolonne von schweren Militärfahrzeugen«, berichtete Bertrand, ohne sich zu ihr umzudrehen.
Die Tür ging auf. Die beiden Kinder stürmten herein. Marie rannte sofort zu ihrer Mutter und krabbelte unter die Bettdecke. Daniel hielt kurz inne, blickte zu seiner Mutter und sah dann seinen Vater am Fenster sitzen. Der hatte reflexartig den Kopf gedreht, um zu sehen, wer in den Raum kam. Daniel ging zu ihm und schob den Vorhang weiter auf. Bertrand rutschte ein Stück, damit er neben ihm Platz hatte.
Mittlerweile konnte man die Vorgänge draußen gut erkennen. Der Himmel war jetzt nicht mehr grau, er hatte ein leichtes Blau angenommen und es zeichnete sich ein sonniger Tag ab.
Auf der Straße schob sich ein Fahrzeug nach dem anderen schwerfällig über den unebenen Belag. Daneben sicherten in regelmäßigen Abständen Kradfahrer den Transport zur Seite ab. Weiter vorne war ein Panzerspähwagen zu erkennen. Der Kommandant stand im Turm und beobachtete die Kolonne.
»Bis jetzt sind vorwiegend Mannschaftstransporter durchgekommen«, berichtete Bertrand. »Dazwischen einige kleinere Wagen und viele Kradfahrer. Neben dem Baum, kurz vor der Abzweigung zu unserem Haus, steht ein Lieferwagen, daneben zwei weitere Fahrzeuge. Dort lungern Soldaten rum und rauchen. Was haben die vor?«
Marie drückte sich an ihre Mutter. In der rechten Hand hielt sie ihre Puppe. Monique strich ihr über die Haare.
Der Lärm nahm nicht ab. Fahrzeug um Fahrzeug mühte sich über die Straße.
»Was ist denn das für einer?« Daniel sah zu seinem Vater auf, als sich ein großes Ungetüm in ihr Blickfeld schob.
Schwarze Rauchschwaden türmten sich hinter ihm auf und hüllten die Wagen neben der Straße ein.
Bertrand und Daniel saßen regungslos am Fenster und beobachteten das Geschehen.
Eine riesige Zugmaschine rollte heran. Sie zog einen ungewöhnlichen Anhänger, auf dem ein langes Teil befestigt war. Dieses verengte sich nach vorne zu einer Spitze und wies am anderen Ende gleichmäßig abstehende Stellen auf, die wie kleine Flügel aussahen. Die Ladung war mit einer dunklen Plane abgedeckt, doch war die Form durchaus zu erkennen. Dahinter fuhren weitere Lastwagen, denen wiederum Mannschaftstransporter folgten.
»Die haben was Großes vor.« Bertrand stand auf. Er ging zur Tür.
»Wo gehst du hin, Papa?«
»Du bleibst hier und beobachtest die Deutschen. Sobald sich jemand dem Haus nähert, gibst du sofort Bescheid. Hast du verstanden?«
Daniel nickte. Er wusste, dass sein Vater wieder in dem kleinen Raum gegenüber dem Bad verschwinden würde. Nur zu gerne wäre er ihm dorthin gefolgt. Seine Neugier war riesig. Doch er folgte den Anweisungen, setzte sich in die Mitte des Stuhls und beobachtete weiter die Straße. Monique lag mit Marie im Bett. Die Angst in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen.
Daniel beobachtete die Kolonne, die jetzt in der heller werdenden Umgebung gut auszumachen war. Neben dem Baum standen noch immer die drei Fahrzeuge. Die stehen doch schon die ganze Zeit hier, warum fahren die denn nicht weiter? Plötzlich erkannte er auf dem Kastenwagen mehrere Antennen. Die waren bisher in der Dunkelheit nicht zu sehen gewesen, weil der Wagen direkt vor einem Baum stand. Ein solches Fahrzeug hatte er noch nie gesehen.
Auf einmal wurde die Tür auf der Rückseite des Lieferwagens aufgeschlagen und ein Mann sprang heraus. Er fuchtelte wild mit den Armen und zeigte auf das Bauernhaus. Die umstehenden Soldaten warfen die Zigaretten auf den Boden und eilten zu den Fahrzeugen. Die Motoren wurden angeworfen.
Daniel hatte das Gefühl, dass er dies trotz des Lärms hören konnte.
Die beiden Wagen fuhren um den Lieferwagen herum zurück auf die Straße. Ohne Rücksicht quetschten sie sich zwischen die anderen und hatten Glück, dass sie dabei nicht von einem der schweren Lastwagen gerammt wurden. Wenig später scherten sie wieder aus der Kolonne aus und rasten auf das Bauernhaus zu.
Daniel blieb der Mund offen stehen. Er beobachtete die beiden Wagen, die sich dem Haus näherten. Unfähig, sich zu rühren sah er, wie die Fahrer auf dem Hof in die Bremsen traten, sodass die Räder blockierten und die Fahrzeuge auf der braunen Erde entlangrutschten. Die Türen wurden aufgerissen und mehrere Soldaten sprangen heraus.
Mit offenem Mund saß Daniel am Fenster und starrte hinaus. Er versuchte, etwas zu sagen, doch seine Kehle war wie zugeschnürt.
Die Soldaten rannten auf die Eingangstüre zu.
»Papa!« Daniel brachte endlich einen gurgelnden Laut hervor, dann drehte er sich zu seiner Mutter um. Das blanke Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Es dauerte nicht lange, da war Bertrand wieder im Zimmer. Er sah Daniel an und wusste, was passiert war.
Aus dem Erdgeschoss drangen laute Schläge gegen die Eingangstür nach oben. »Ouvrez la porte!«
Daniel rannte zu seinem Vater, umarmte ihn und drückte ihm den Kopf an den Bauch.
Mit lautem Krachen gab die Eingangstüre nach und das Geräusch von Stiefeln drang aus dem Erdgeschoss herauf.
Bertrand ging zum Bett. Den Arm hatte er um Daniel gelegt. Er setzte sich neben Monique auf die Bettkante und fuhr Marie über die Haare. Er spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte. Dann sah er seiner Frau in die Augen und nahm sie in den Arm.
Schwere Schritte dröhnten die Treppe hinauf. Befehle hallten durch das Haus. Die Tür zum Kinderzimmer wurde aufgestoßen. Durch die Ritzen im Türrahmen konnte Bertrand wiederholt das Aufblitzen starker Taschenlampen erkennen. Mit einem Schlag wurde die Schlafzimmertür aufgetreten und Monique schrie auf. Sie drückte Marie an sich. Bertrand saß neben ihr und hielt Daniel fest im Arm.
Zwei Soldaten stürmten herein, die Gewehre im Anschlag. Mit einem schnellen Blick prüften sie, ob sich weitere Personen im Raum befanden. »Ist hier sonst noch jemand?« Der Soldat sprach gut Französisch, wenn auch mit einem starken Akzent.
»Nein«, antwortete Bertrand. Seine Stimme zitterte. Er hatte Angst. Angst um seine Familie.
»Venez tous!«
Bertrand nickte Monique zu. Zögernd stand sie auf und warf sich die Strickjacke über ihr Nachthemd. Marie drückte sich an ihre Mutter.
Sie wurden die Treppe nach unten geführt und mussten sich im Wohnzimmer vor der Wand aufstellen. Die Soldaten postierten sich gegenüber und richteten die Gewehre auf sie. Neben ihnen stand ein Offizier im Rang eines Majors.
Aus dem Haus waren noch immer Stimmen zu hören. Die Deutschen durchsuchten jeden Winkel. Wenn sie einen Raum oder Schrank nicht öffnen konnten, wurde die Tür einfach eingeschlagen. Kurze Zeit später kamen zwei Soldaten die Treppe hinunter und brachten einen kleinen Kasten mit einer langen Antenne und verschiedenen Kabeln mit. Bertrand erkannte sofort, dass sie sein Funkgerät aus dem verschlossenen Raum entdeckt hatten. Sie legten das Gerät auf den Tisch.
Der Major sah Bertrand an.
»Cela vous appartient-Il?« Der Offizier sprach ein hervorragendes Französisch.
Bertrand wusste, dass es keinen Zweck hatte, zu lügen. Man würde ihm sowieso nicht glauben. Er nickte.
»Wo sind die dazugehörenden Codebücher?«
Bertrand zögerte. Die Bücher waren unter den Holzdielen im Raum versteckt. Auf die präparierten Dielen hatte er einen alten Schrank gestellt, der sich aber gut verschieben ließ.
»Wo sind die Codebücher?«, fragte der Major erneut. Seine Stimme war jetzt etwas lauter, aber noch nicht unfreundlich.
Bertrand zögerte. Er dachte an Monique, seinen Sohn Daniel und die kleine Marie. Was würde man wohl mit ihnen machen, wenn er nicht verriet, wo die Bücher waren?
Von draußen drangen Geräusche eines ankommenden Fahrzeugs herein.
Bertrand wurde aus seinen Gedanken gerissen.
Vor der Eingangstür wurden Hacken zusammengeschlagen. Ein SS-Offizier betrat das Haus. Auf seiner Uniformmütze war unter dem Reichsadler mit dem Hakenkreuz der Totenkopf zu erkennen, darunter zierten zwei silberne Kordeln die Mütze. Auf dem dunklen Stoff blitzten verschiedene Abzeichen und Orden. In dem Gesicht des Mannes zeigte sich keine Regung, die Lippen waren zusammengepresst. Mit stahlblauen Augen nahm er die Situation auf und ging dann langsam weiter in den Wohnraum. Die Soldaten nahmen Haltung an.
»Was geht hier vor?« Die befehlsgewohnte und kalte Stimme des SS-Offiziers ließ keinen Zweifel daran, dass er eine harte Linie bevorzugte und erwartete, dass seine Entscheidungen sofort umgesetzt wurden.
»Wir haben bei der Durchsuchung des Hauses ein Funkgerät gefunden«, fasste der Major die aktuelle Situation zusammen. »Die Codebücher suchen wir noch. Unser Peilwagen hat festgestellt, dass von hier Funksprüche abgesetzt wurden. Es ist uns jedoch gelungen, den Funkverkehr zu stören, sodass bei den Empfängern nichts Brauchbares angekommen sein dürfte.«
Bertrand schluckte.
»Mitglieder der Résistance sind augenblicklich zu erschießen«, sagte der SS-Mann. Er griff an sein Pistolenhalfter, zog die Waffe und richtete sie auf Bertrand und seine Familie.
Monique starrte den SS-Offizier entsetzt an und schob Marie zitternd hinter sich. Bertrand stellte sich schützend vor seinen Sohn.
»Einen Moment«, versuchte der Major den SS-Mann zu stoppen. »Ich bin mit den Gefangenen noch nicht fertig.«
»Das sind Feinde unseres Vaterlands, die mit den Engländern kollaborieren. Darauf steht die Todesstrafe und die wird umgehend vollstreckt.« Der SS-Offizier entsicherte seine Pistole.
»Das sind meine Gefangenen und ich werde sie erst verhören. Vielleicht gelingt es uns, noch wertvolle Hinweise zu bekommen, Herr Sturmbannführer.« Der Major stellte sich vor den SS-Offizier, zwischen ihn und die Familie. »Wir brauchen jede Information über die Invasion, die wir kriegen können. Und wir müssen jede Gelegenheit nutzen, an weitere Details zu kommen.«
»Was fällt Ihnen ein, Herr Major. Gehen Sie sofort zur Seite oder soll ich Sie wegen Zusammenarbeit mit dem Feind erschießen?«
»Sie haben mir keine Befehle zu erteilen«, erwiderte der Major in einem festen Ton.
»Auch wenn Sie mir vom Rang her gleichgestellt sind, Herr Major«, sagte der SS-Offizier mit drohender Stimme, »das Kommando dieses Sonderauftrags führe ich. Daher haben Sie meinen Anweisungen Folge zu leisten und ich befehle Ihnen ein letztes Mal. Gehen Sie zur Seite.«
Der Major rührte sich nicht von der Stelle.
Die Sonne erhob sich weiter über die umliegenden Berge der Bretagne und ein gelber Streifen lag bereits auf dem Dach des Bauernhauses. Der Himmel hatte ein kräftiges Blau angenommen und konkurrierte mit dem saftigen Grün der Pflanzen. Auf der Stromleitung neben dem Schornstein ließen sich zwei Vögel nieder und zwitscherten ihre Melodie.
Plötzlich peitschte ein Schuss durch das Haus.