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Ju 52, über der deutsch-französischen Grenze, Mittwoch, 31. Mai 1944, 09:10 Uhr

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Hans saß die erste Zeit des Fluges schweigsam auf seinem Platz und hatte mit ausdruckslosem Gesicht die Landschaft beobachtet. Die drei 600 PS starken Sternmotoren der Ju 52 taten zuverlässig und unüberhörbar ihren Dienst und begleiteten sie von Anfang an mit gleichmäßigem Dröhnen. Kurz nach dem Start hatten sich zwei Messerschmitt BF 109 Jagdflugzeuge als Begleitschutz zu ihnen gesellt. Eine der Maschinen flog links neben der Junkers, sodass Hans die Möglichkeit hatte, den Piloten in seinem Cockpit zu beobachten. Auch wenn sie erst etwas über drei Stunden in der Luft waren, kam ihm der junge Mann in der Kanzel fast schon vertraut vor.

Die Ju hatte eine Reisegeschwindigkeit von 180 km/h, war also nicht besonders schnell. Der Flug ging über 1.200 km Luftlinie und man hatte geplant, gegen Abend die französische Küste zu erreichen.

Was würde sie in Frankreich erwarten? Wie war die Situation in dem seit vier Jahren besetzten Land? Wie würde sich die Bevölkerung verhalten? Die verschiedensten Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf und erneut nistete sich ein flaues Gefühl in seinem Magen ein.

Sie hatten einen wichtigen Auftrag zu erledigen. Der Führer persönlich hatte das Dieter und ihm noch einmal eindringlich nahegelegt. Auf ihren Schultern lag nun die Hoffnung der deutschen Führung. Was würde geschehen, wenn sie scheiterten? Er wollte den Gedanken nicht weiterspinnen. Gott sei Dank hatten sie eine gute Mannschaft, von denen viele schon seit Tagen vor Ort waren, um die letzten Vorbereitungen zu treffen und zu überwachen. Allen voran Oberingenieur Fritz. Ein Mann, auf den man sich einhundertprozentig verlassen konnte. Egal, worum es ging.

Hans drehte den Kopf und sah Dieter am rechten Fenster sitzen, den Kopf auf der Brust. Der schläft schon, seit wir losgeflogen sind, dachte er. Dann fiel ihm wieder ein, dass Dieter die letzte Nacht wenig geschlafen hatte.

Er blickte nach draußen und heftete seinen Blick auf die Messerschmitt, die weiterhin vor der Ju flog. Monoton und unermüdlich drehten sich die Propeller der Junkers 52 und Hans spürte, wie auch ihn die Müdigkeit übermannte. Er lehnte sich zurück und ließ die Augen über die Decke der Kabine gleiten. Verschiedene Kabel waren dort befestigt und zogen sich die Decke entlang, bis sie vor der Trennwand zur Pilotenkanzel nach links abbogen und in einem Kabelkanal verschwanden. Er schloss die Augenlider und die regelmäßigen Vibrationen des Flugzeugs schaukelten ihn in einen leichten Schlaf.

Von einem lauten Geräusch wachte Hans auf. Er hörte Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Rufe hallten die Straße entlang und zwischendurch war ein Schuss zu hören gewesen. Er stand auf und ging ans Fenster, um nachzusehen. Draußen war es dunkel. Er streckte den Kopf aus dem Fenster und vernahm Laute von der rechten Seite. Er spähte in die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen. Nur vereinzelt leuchtete eine Straßenlaterne und gab durch die angebrachte Verdunkelungsvorrichtung ein schwaches Licht nach außen ab.

Das Geräusch, ein wirres Gemisch aus Stiefelschritten und Stimmen, schwoll an. Im Augenwinkel nahm er eine schnelle Bewegung wahr. Eine dunkel gekleidete Gestalt kam angerannt und blieb vor dem Haus stehen. Hans konnte erkennen, wie sich der Unbekannte mit einer Hand an der Laterne festhielt und hastig in alle Richtungen sah. Der Flüchtende schien unschlüssig zu sein, wohin er sollte. Schwer atmend stand er neben dem schwarz schimmernden Metallmast. Er verharrte noch einen Augenblick, dann trat er einen Schritt vor, um die Straße zu überqueren. In dem Moment fiel ein Schuss und er sackte nach vorne zusammen. Ein paar Sekunden später tauchten Soldaten aus dem Dunkeln auf und reihten sich um den Verletzten, der sich am Straßenrand liegend vor Schmerzen krümmte. Einer der Uniformierten zog die Pistole und schoss ihm in den Kopf. Der Mann am Boden zuckte noch einmal, dann rührte er sich nicht mehr.

Hans war vor Schock wie gelähmt. Er traute seinen Augen nicht. Im schwachen Licht der Straßenlaterne konnte er die Uniformen der SS-Soldaten erkennen. Ihre Gesichter blieben im Schatten der Stahlhelme verborgen. Zwischen dem Schützen und seinem Nebenmann entbrannte eine kurze Diskussion. Offenbar ging es um den letzten Schuss. Hans konnte nur die Antwort verstehen. »Das war nur ein Jude. Die werden doch sowieso alle umgebracht.«

»Hey Hans, träumst du?«, vernahm er eine Stimme zwischen dem Dröhnen der Motoren. Er spürte eine Hand auf seiner rechten Schulter und ein leichtes Rütteln holte ihn aus dem Schlaf in die Wirklichkeit zurück. Dieter war aufgewacht.

»Jetzt geht‘s endlich los.« Dieter sprühte vor Begeisterung. »Wie lange haben wir auf diesen Tag hingearbeitet. Kannst du dich daran noch erinnern? Noch vor ein paar Jahren hätte niemand erwartet, dass wir in so kurzer Zeit einen solch großen Sprung nach vorne machen. Hans, wir haben es geschafft! Monatelang haben wir uns auf diesen Einsatz vorbereitet, alle haben eine wahnsinnige Leistung vollbracht und jetzt wird unsere Mühe belohnt. Bist du darauf nicht stolz?« Dieter sah ihn erwartungsvoll an. Den fehlenden Schlaf hatte er wohl nachgeholt.

Hans verzog seine Mundwinkel zu einem leichten Lächeln. Dieter hatte ja Recht. Ihnen waren bedeutende Durchbrüche in der Raketentechnologie gelungen. Ihre Hauptaufgabe bestand in der Entwicklung des Aggregats 4, auch wenn in den letzten zehn Monaten darauf aufbauend eine Weiterentwicklung dieser zu einer zweistufigen Interkontinentalrakete in den Fokus gerückt war. Trotzdem teilte er Dieters Euphorie nicht in gleichem Maße. Auch wenn er ebenfalls sehr in seiner Aufgabe aufging, so plagten ihn in der letzten Zeit doch vermehrt Zweifel. Nicht an der Arbeit an sich, sondern daran, dass die Ergebnisse und Erfolge ihrer Mühen keiner friedlichen Verwendung zugeführt wurden.

»Mach doch nicht so ein Gesicht, Hans. Auf unserem Gebiet sind wir anderen Nationen um Jahre voraus. Du kannst wirklich stolz sein auf das, was wir erreicht haben.« Dieter boxte ihm leicht an den Oberarm. »Alles klar?«

Ein lautes Knacken war aus der Bordsprechanlage zu hören und der Pilot meldete sich. »Wir überfliegen gleich die französische Grenze.«

Hans drehte sich wieder zum Fenster, blickte nach unten und sah einen breiten Fluss, dessen Wasser im Schein der Sonne glitzerte.

Das ist der Rhein. Gleich verlasse ich zum ersten Mal Deutschland, dachte er und bekam erneut das mulmige Gefühl im Magen. Er musste unweigerlich an Elisabeth denken. An seine Kinder. An den Krieg und all das Leid, das er mit sich gebracht hatte. An die vielen Toten und Verletzten. An seine Arbeit, deren Ergebnis nun zu seinem ersten Einsatz kommen sollte. An seine Arbeit, deren Ergebnis jetzt den Krieg zugunsten Deutschlands entscheiden sollte.

Der Nagel

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