Читать книгу Der Nagel - Rainer Homburger - Страница 18
Peenemünde, Donnerstag, 8. Juni 1944, 15:10 Uhr
ОглавлениеDer Zug näherte sich dem Bahnhof und verringerte seine Geschwindigkeit spürbar. Wartende Menschen nahmen Gestalt an und Hans konnte Dieter ausmachen, der an einem der Pfeiler lehnte, der mit vielen anderen zusammen das Dach über dem Bahnsteig stützte. Er nahm seinen Koffer aus dem Gepäckfach und sah sich noch einmal um, ob er nichts vergessen hatte. Der Zug wurde langsamer und kam mit einem kräftigen Ruck zum Stehen. Hans fasste nach der Haltestange, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er stand mit weichen Knien an der Waggontür, als er den Griff nach unten und die Tür nach außen drückte. Wenige Stufen später stand er auf dem Bahnsteig und sah Dieter winkend auf sich zukommen.
»Ich bin so froh, dass du wieder da bist.«
Dieter umarmte seinen Freund. Er drückte ihn und Hans spürte, wie ihm die Umarmung Kraft gab. Das schwammige Gefühl aus seinen Beinen entwich langsam. Ein Freudenschauer durchfuhr seinen Körper und Tränen stiegen ihm in die Augen.
Dieter löste die Umarmung, ließ aber beide Hände auf den Oberarmen von Hans liegen. »Gott sei Dank, du bist wieder da. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welches Entsetzen deine Verhaftung hier ausgelöst hat. Niemand konnte sich erklären, warum.«
»Das würde ich auch gerne wissen«, erwiderte Hans. »Ich hoffe, du kannst mir etwas dazu sagen.«
»Jetzt komm erst mal mit.«
Dieter nahm Hans Koffer und sie gingen um das Gebäude herum zum Wagen. Er warf das Gepäckstück auf den Rücksitz. Während der Fahrt erzählte Dieter, was sich in den letzten Tagen alles ereignet hatte. Hans hörte ihm nur halbherzig zu. Er saugte Kraft aus der vertrauten Umgebung und spürte, wie Ruhe und Sicherheit langsam zurückkehrten.
Dieter stoppte den Volkswagen vor dem Kasino.
»Was wollen wir hier?«, fragte Hans verwundert.
»Du wirst sicher Hunger haben. Ich habe eine Kleinigkeit organisiert für dich.«
»Aber ich will jetzt nichts essen«, versuchte Hans zu widersprechen, doch Dieter war schon ausgestiegen und ging um den Wagen herum.
»Komm, steig aus!«, forderte er ihn freundlich auf.
Ohne große Begeisterung stieg Hans aus dem Wagen und Dieter knallte die Fahrzeugtüre hinter ihm zu. Dann ging er forschen Schrittes zum Kasinoeingang und hielt ihm die Tür einladend auf.
»Hereinspaziert und es ist schön, dass du wieder da bist.«
Hans betrat das Kasino. Kaum hatte er den Raum betreten, erkannte er, warum Dieter ihn hergebracht hatte.
»Herzlich willkommen«, schallte es ihm im Chor entgegen und Hans war schlagartig umringt von mehr als einem Dutzend seiner Kollegen, die hier auf ihn gewartet hatten. Ehe er sich versah, hatte man ihm ein Glas Sekt in die Hand gedrückt und er sah eine Gläserfront auf sich zukommen. Ein Freudenschauer lief ihm den Rücken herunter. Er musste sich zusammenreißen, damit er die Fassung behielt. Der Sekt schmeckte scheußlich, aber die Umarmungen der Kollegen und Kolleginnen taten richtig gut.
Das Drücken riss nicht ab und Hans wurde überschüttet mit Fragen über seine Erlebnisse der letzten Tage. Vor allem das Warum? hing schwer im Raum, aber niemand konnte dies beantworten.
Die Tür zum Kasino wurde geöffnet und Generalleutnant Dornberger betrat den Raum. Ein stattlicher Mann mit kurzem Haar, das sich vorne an der Stirn bereits zurückzog. Die Uniform stand ihm prächtig, auch wenn sie einige Flecken aufwies. Vermutlich kam er direkt vom Versuchsgelände, denn auch seine sonst glänzenden Lederstiefel waren mit einer feinen Staubschicht überzogen. Er ging auf Hans zu und streckte ihm die Hand entgegen.
»Herr Friedel. Ich freue mich, dass Sie da sind und ich bin froh, einen meiner besten Mitarbeiter wieder an Bord zu haben.«
Hans spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg.
»Vielen Dank, Herr Generalleutnant.«
Im Kasino war es merklich ruhiger geworden. Man spürte deutlich die Spannung im Raum und jeder hoffte endlich eine Antwort aus das Warum? zu bekommen. Doch Dornberger machte keine Anstalten, auf diese Frage einzugehen. Aber er muss doch wissen, was los war? Warum man mich verhaftet hat? ging es Hans durch den Kopf. Er war nahe dran, ihn direkt darauf anzusprechen, doch hielt ihn irgendetwas zurück. Selbst nach seiner Freilassung in Frankreich, als er versuchte mit dem Reichsführer in Berlin Kontakt aufzunehmen, hatte man ihm nichts zu den Gründen nennen können oder wollen. Der Befehl lautete nur: »Kehren Sie zurück nach Peenemünde an ihre Arbeit.«
Er war froh gewesen, dass man ihm den Rückweg über Dresden zugestanden hatte, so konnte er für einen Tag seine Familie besuchen. Elisabeth war in Tränen ausgebrochen, als sie ihn am Flughafen in die Arme schloss. Sie brauchte den gesamten Weg zu ihrer Wohnung, um sich halbwegs zu fangen und vor den Kindern einigermaßen gefasst dazustehen. Elisabeth hatte ihnen nichts von Hans Verhaftung erzählt. Sie selbst hatte in den bangen Tagen schon genug mit sich zu kämpfen gehabt.
»Heute ruhen Sie sich noch aus, morgen brauchen wir Sie dann wieder auf ihrem Posten, Herr Friedel.« Generalleutnant Dornberger drückte ihm noch einmal die Hand. »In einer halben Stunde möchte ich Sie kurz in meinem Büro sprechen. Bis dahin können Sie aber noch etwas feiern.«
Dornberger nickte freundlich, dann verließ er das Kasino.
Der Geräuschpegel stieg langsam an, als die Anwesenden ihre Gespräche wieder aufnahmen. Gläser klirrten und weitere Sektkorken knallten.
»Ich habe mir wahnsinnige Sorgen um dich gemacht.« Eine junge Frau um die Dreißig schob sich zu Hans. Ihre großen, dunklen Pupillen strahlten im hellen Weiß ihrer Augen. Auch sie musste ein paar Freudentränen vergossen haben, denn der Glanz ihrer Augen war leicht getrübt, was ihrer Ausstrahlung aber keinen Abbruch tat. »Ich habe keine Nacht geschlafen, seit ich davon gehört habe«, sagte sie mit einem hoffnungsvollen Lächeln. »Sehen wir uns heute?«
»Ich glaube nicht. Ich muss nachher noch zu Dornberger und heute Abend möchte ich mich einfach nur ausruhen. Vielleicht morgen, einverstanden?«
Die junge Frau nickte mit einem leicht enttäuschten Lächeln auf den Lippen.
»Ich bin so froh, dass das vorbei ist und ich freue mich einfach, euch alle wiederzusehen«, bedankte sich Hans in die Runde.
Als Hans das Büro von Generalleutnant Dornberger betrat, war er innerlich wieder stark angespannt. Er wusste nicht, was ihn erwartete, hoffte aber, dass er endlich mehr über die genauen Gründe seiner Verhaftung erfuhr.
»Du meldest dich dann nachher bei mir, abgemacht?«, hörte er Dieter noch sagen, der ihn gefahren hatte. Auch er wollte natürlich wissen, was vor sich ging.
Hans betrat den Vorraum, in dem ein Tisch voller Unterlagen und Papiere lag. An einem zweiten Tisch saß Dornbergers Sekretärin, die auf einer Schreibmaschine tippte, als er hereinkam.
»Hans, ich bin so froh, dich zu sehen.« Sie nickte ihm freundlich zu. »Du kannst reingehen«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf die Tür. Hans erwiderte ihr Lächeln, klopfte und trat ein.
Generalleutnant Dornberger saß hinter seinem Schreibtisch. Am Fenster waren die Gardinen aufgezogen und gaben einen wunderschönen Blick auf die Landschaft von Peenemünde frei. Dornberger blickte kurz auf, dann sagte er. »Ich bin gleich so weit, nehmen Sie schon mal Platz.« Er zeigte mit seiner Hand auf den Tisch, der in einer Ecke des großzügigen Büros stand und wohl eher für die weniger geschäftlichen Gespräche gedacht war. Hans setzte sich und sein Blick schweifte durch das Arbeitszimmer. Er kannte das Büro von unzähligen Terminen und Besprechungen, doch hatten die Dinge diesmal eine andere Wirkung auf ihn. Dornberger ging noch ein paar Unterlagen durch, dann unterschrieb er ein Blatt Papier und klappte die Mappe zu.
»So.« Er stand auf und kam auf ihn zu. »Wollen Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke. Ich möchte heute lieber früh zu Bett gehen und richtig schlafen. Die Nächte in Frankreich waren dahin gehend nicht sonderlich ergiebig.«
»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte der Generalleutnant. »Erzählen Sie mir mal, was genau in Frankreich passiert ist. Das, was man mir bisher mitgeteilt hat, war nicht gerade sehr aufschlussreich.«
Hans überlegte, wo er anfangen sollte. Er entschloss sich, eine Kurzform des Verlaufs seit seiner Ankunft in Lorient wiederzugeben.
»Von Beginn an ging das Gerücht umher, dass bei unserem Sondereinsatz Spionage im Spiel sei. Die SS schnüffelte überall herum, kontrollierte alle Personen und überwachte deren Arbeiten. Es war kaum möglich, einen Schritt ohne Beobachtung zu machen. Das Gerücht erhielt weitere Nahrung, als festgestellt wurde, dass die Steckverbindungen zwischen dem U-Boot und dem Hänger nicht passten. Fritz hat zwar umgehend neue Stecker angefordert, aber aufgrund des engen Zeitplans hat er angefangen, die vorhandenen umzurüsten. Das Boot und die Rakete haben wir planmäßig einsatzbereit gemeldet und am Abend vor dem Auslaufen hat Großadmiral Dönitz vor der versammelten Mannschaft und uns Wissenschaftlern eine Rede gehalten. Direkt danach hat man mich verhaftet.«
»Was hat man Ihnen vorgeworfen?«
»Zuerst einmal hat man mir den Grund meiner Verhaftung nicht genannt. Sie haben mich mitgenommen und verhört. Dutzende Male wurde ich gefragt, ob ich Kontakt mit den Engländern aufgenommen oder Informationen weitergegeben habe.« Hans überlegte. »Keine Ahnung, wie sie auf mich gekommen sind. Ich habe nie ein Wort über das verloren, was wir hier machen. Ich liebe meine Arbeit, die Forschung und Entwicklung neuer Möglichkeiten, den Weltraum zu erobern. Ich habe immer meine ganze Energie in diese Tätigkeit gesteckt und an vielem, was wir bisher erreicht haben, erfolgreich mitgearbeitet.« Hans steigerte sich mit jedem Satz, seine Stimme wurde lauter und die Worte kamen ihm immer schneller über die Lippen. »Tag und Nacht war ich bereit, wenn es darum ging, Probleme zu analysieren, Fehlschläge zu bewerten und die gewonnenen Erkenntnisse in die weitere Entwicklung einfließen zu lassen. Ich war da, wenn man mich gebraucht hat ...«
»Das weiß ich«, unterbrach ihn Dornberger. »Beruhigen Sie sich wieder. Mich müssen Sie nicht überzeugen. Ich weiß sehr wohl, was Sie für uns geleistet haben und ich vertraue Ihnen.« Er stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und nahm ein Blatt Papier, das er Hans reichte. »Dieses Schreiben habe ich am letzten Samstag erhalten. Darin steht, dass Beweise vorliegen, die Sie eindeutig der Spionage verdächtigen und Sie daher zum Schutz des Reichs am Freitagabend verhaftet wurden.«
Hans setzte sich aufrecht und überflog die Zeilen.
»Was das für Beweisstücke sind, steht hier aber nicht.«
»Ich habe sofort den Reichsführer angerufen, weil ich mir sicher war, und es nach wie vor bin, dass es sich dabei um ein Missverständnis handeln musste. Allerdings habe ich ihn erst am Montag erreicht und die Situation mit ihm besprochen. Das erklärt vermutlich auch, warum Sie so lange im Gefängnis waren. Ich habe für Sie gebürgt. Himmler weiß um ihre Verdienste und hat mir versprochen, dass er sich darum kümmern werde. Nicht aber ohne mich noch einmal eindringlich darauf hinzuweisen, dass ich mit meinem Kopf für Sie geradestehe. Zu den Beweisen konnte aber auch er nichts sagen. Vielleicht erfahren wir es noch, womit ich aber nicht rechnen würde. Für mich ist die Sache damit erledigt.« Er beugte sich zu Hans vor und fuhr dann in leicht gedämpftem Ton fort. »Hans, machen Sie in Zukunft ihre Arbeit wie bisher. Denken Sie nicht mehr an das Geschehene. Ich schätze Sie und ihre Kompetenz. Ich weiß, dass Sie loyal sind zu unserem Führer und Vaterland. Wir müssen mehr denn je zusammenhalten und unsere Entwicklung weiterführen. Ich brauche jetzt jeden Mann, damit wir diesen Krieg zu einem baldigen Ende bringen können.« Dann setzte er sich wieder aufrecht. »Und jetzt schlafen Sie mal ordentlich. Ich erwarte Sie dann morgen ausgeruht an ihrem Arbeitsplatz.« Damit stand er auf.
Hans zögerte. Er dachte an die Französin und die beiden Kinder. Er hatte versprochen, sich für sie einzusetzen. Ob er dies gegenüber Dornberger ansprechen sollte? Er entschied sich dagegen. Er kam zu dem Entschluss, dass der geeignete Moment dafür noch nicht gekommen war.