Читать книгу Der Nagel - Rainer Homburger - Страница 6
Berlin, Mittwoch, 31. Mai 1944, 08:30 Uhr
ОглавлениеCarl Richert saß auf dem Rücksitz und war auf dem Weg zum Flughafen Tempelhof. Ihr schwarzer Mercedes hielt hinter einem Pferdekarren, der mit Kartoffeln und Äpfeln beladen war. Neben dem Pferd stand ein alter Mann. Seine Hosen waren völlig verschmiert und die Füße steckten in ausgelatschten, löchrigen Halbschuhen. Schlurfend zog er das Tier an den Zügeln vorwärts, als die Soldaten einen Militärlastwagen durch die Sperre winkten und die Schlange sich wieder in Bewegung setzte.
Carl arbeitete bereits seit sieben Jahren in der deutschen Hauptstadt. Er liebte das Land und die Leute. Immerhin hatte er einen großen Teil seiner Jugend hier verbracht.
Sein Vater Arvid kam in den zwanziger Jahren als Mitarbeiter der schwedischen Gesandtschaft nach Deutschland. Die Familie kaufte ein Haus in Berlin und er ging dort zur Schule. Seine Mutter, eine gebürtige Deutsche, hatte ihn von Anfang an zweisprachig aufgezogen, sodass ihm der Wechsel von der schwedischen auf eine deutsche Schule zumindest keine sprachlichen Probleme bereitete. Er genoss hier eine unbeschwerte Jugend und verbrachte viel Zeit in der Natur und am Wasser. Viele seiner Spielgefährten waren ebenfalls Söhne von Gesandtschaftsangehörigen. Der Kontakt zu einheimischen Jungen gestaltete sich etwas schwierig, auch wenn er nie ganz nachvollziehen konnte, warum. Die Bekanntschaften blieben meist oberflächlich und nur selten sah es so aus, als ob sich daraus eine tiefere Freundschaft entwickeln könnte. Nur zu einem Jungen aus dem Nachbarhaus gelang es zeitweise, ein intensiveres Verhältnis aufzubauen, das darin gipfelte, dass sie in einem Sommer besonders viel miteinander unternommen hatten. Doch schon im folgenden Herbst verflachte das wieder.
Carl wuchs sehr behütet auf, da seine Mutter und die Haushälterin Brita versuchten, Probleme von ihm fernzuhalten. Wann immer es ging, kamen sie ihm zu Hilfe und das führte dazu, dass er manche Erfahrung erst in fortgeschrittenem Alter machen musste. Was in solchen Momenten nicht gerade das Ansehen bei seinen Freunden förderte.
Nach der Schule zog er zurück nach Schweden, um dort zu studieren. Sein Vater war mittlerweile schwedischer Gesandter in Deutschland geworden und besorgte ihm nach dem erfolgreichen Studium eine Stelle an der Gesandtschaft in Berlin.
Carl trug einen dunklen Anzug. Das Jackett war offen und unter seinem weißen Hemd zeigte sich ein leichter Bauchansatz. Neben ihm auf dem Sitz lagen zwei schwarze Aktenkoffer. Beide hatten einen Ledergriff, mit jeweils einem Schloss auf jeder Seite. Die Koffer waren verschlossen, die Schlüssel trug er in der Innentasche des Jacketts.
Er blickte aus dem Fenster, während der Wagen langsam vorwärts rollte. Die Häuser entlang der Straße wiesen unterschiedlich starke Schäden durch Luftangriffe auf. Manche hatten nur zersprungene Fensterscheiben, die provisorisch mit Karton abgedeckt waren. Andere teilweise massive Beschädigungen an den Dachböden oder an mehreren der oberen Stockwerke. Dazwischen riesige Haufen aus Steinen und verkohlten Brettern. Von Häusern, die völlig dem Erdboden gleichgemacht waren. Carl dachte an die Menschen, die einmal darin gewohnt hatten. Familien, deren Existenz zerstört war, von denen viele wahrscheinlich nicht mehr am Leben waren. Er dachte an die Kinder, die ihre Eltern oder Geschwister verloren hatten, an die Frauen und Mütter, die sehnsüchtig auf eine Nachricht ihrer Männer und Söhne von der Front warteten. Und an die Großeltern, die jetzt zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert einen Weltkrieg miterleben mussten. Er dachte an das Leid, das dieser Konflikt über alle Menschen gebracht hatte, unabhängig davon, auf welcher Seite sie lebten und kämpften. Er hatte sich vorgenommen, seinen Beitrag zu leisten, damit der Krieg so schnell wie möglich beendet wurde und diejenigen, die für all das verantwortlich waren, zur Rechenschaft gezogen werden konnten.
Sein Blick fiel auf die SS-Soldaten, die die Fahrzeuge durchsuchten und die Papiere der Insassen kontrollierten. Er wurde langsam unruhig. Auf seiner Haut bildeten sich Schweißperlen. Er dachte an den Inhalt eines der Koffer. Wenn sie dies entdecken, würde man ihn sofort verhaften und als Spion erschießen. Schweiß lief ihm über die Stirn direkt ins Auge. Er kniff es zusammen. Es brannte höllisch.
Vor ihrem Fahrzeug befanden sich nur noch ein halbes Dutzend Fahrradfahrer, ein ziviler Wagen und der alte Mann mit seinem Pferdegespann. Die Soldaten sprachen mit jeder einzelnen Person, die sie kontrollierten. Sie verglichen deren Papiere mit einer Liste. Doch bisher hatten sie noch jeden durchfahren lassen.
Was passiert, wenn ich die Koffer öffnen muss? dachte Carl und fuhr sich mit einem Taschentuch über die Augen. Sie hatten keine Berechtigung, ihn zu kontrollieren. Sein Ausweis wies ihn als Mitarbeiter der schwedischen Gesandtschaft aus und auf dem Fahrzeug waren die entsprechenden Zeichen angebracht. Er stand unter diplomatischer Immunität. Laut internationalem Recht durften sie ihn nicht anhalten oder durchsuchen. Doch interessierten sie sich überhaupt für irgendwelche Vereinbarungen? Deutschland hatte schon viele Verträge abgeschlossen und wieder gebrochen. Unzählige Menschen wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Neutrale Staaten waren angegriffen und Menschenrechte missachtet worden. Warum sollten sie gerade jetzt die internationalen Übereinkommen beachten und ihn durchwinken?
Er spürte das Hemd an seiner Haut kleben.
Sie mussten ihn einfach durchlassen. Der Inhalt des einen Koffers musste unbedingt nach Stockholm. Die Informationen waren von weitreichender Bedeutung und konnten sich so massiv auf den weiteren Kriegsverlauf auswirken, dass er sie auf jeden Fall außer Landes bringen musste. Die Alliierten mussten davon erfahren, damit sie entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen konnten. Deutschland durfte diesen Krieg nicht gewinnen.
Der letzte der Radfahrer stieg in die Pedale und radelte davon. Der zivile Wagen dahinter fuhr an und hielt direkt neben einem der Soldaten, der das Fahrzeug kontrollierte. Der alte Mann vor ihnen zog am Zügel und langsam setzte sich das Pferd mit dem Karren in Bewegung.
Was würde er tun, wenn sie ihn verhaften wollten? Würde er versuchen zu fliehen? Vielleicht schaffte er es ja, in einem der beschädigten Häuser zu verschwinden und irgendwo hinten wieder rauszukommen. Er drehte sich um und blickte die Häuserfront entlang. Auf den nächsten fünfzig Metern waren zumindest im Erdgeschoss alle in Ordnung und die Türen geschlossen. Erst danach gab es Lücken. Fünfzig Meter waren zu weit, er würde es nicht schaffen. Sie würden ihn erschießen.
Vor ihnen setzte sich der Pferdekarren in Bewegung. Die Soldaten hatten das zivile Fahrzeug fahren lassen. Nach einem Meter blieb das Pferd plötzlich stehen. Der alte Mann zog ruckartig am Zügel. Das Pferd verweigerte noch einen Moment den Dienst, trottete dann aber doch weiter.
Mit einem Ruck fuhr ihr Wagen an und jetzt direkt bis zur Straßensperre. Der Fahrer öffnete das Fenster und gab dem Soldaten ihre Ausweise. Der betrachtete sie ausgiebig, dann ging er zu seinem Vorgesetzten, der an der Absperrung lehnte. Sie unterhielten sich kurz, dann kamen beide auf sie zu. Carl verschränkte die Hände. Seine Finger waren feucht, er schwitzte stark.
Der ranghöhere Soldat beugte sich zum Fahrer herunter.
»Steigen Sie bitte aus!«
Carl spürte, wie es ihm erneut den Schweiß aus den Poren trieb. Sein Hemd klebte mittlerweile komplett am Rücken. Der andere Soldat ging um den Wagen herum, öffnete die Tür und forderte auch ihn auf, auszusteigen. Langsam hob Carl sein rechtes Bein und setzte es auf die Straße. Er rutschte auf dem Sitz noch ein Stück an die offene Tür heran und stieg aus.
Der Soldat betrachtete den Ausweis und musterte ihn eingehend. Offenbar verglich er das Foto mit seinem Gesicht. Zum Glück ist das Bild recht neu, ging es Carl durch den Kopf. Plötzlich bückte sich der Uniformierte und schaute auf den Rücksitz.
»Was ist in den Koffern?«, fragte er, drückte Carl auf die Seite und zog die beiden Koffer aus dem Wagen.