Читать книгу Der Nagel - Rainer Homburger - Страница 15
Lorient, Freitag, 2. Juni 1944, 20:10 Uhr
Оглавление»Was wollen Sie denn hören?«
Langsam reichte es Hans. Verärgert schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Ich kann nichts anderes sagen, als ich jetzt schon ein halbes Dutzend Mal erzählt habe. Ich habe keinen Kontakt ins Ausland und auch mit niemandem über meine Arbeit gesprochen. Geschweige denn irgendwelche Unterlagen weitergegeben. Wie kommen Sie nur auf so etwas?«
Hans verzog das Gesicht, als erneut ein stechender Schmerz durch seine Leiste fuhr.
»Wir haben unsere Informationen.«
Sein Gegenüber ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er zog eine weitere Zigarette aus der offenen Packung und zündete sie in aller Seelenruhe an. Der Qualm wirbelte um die Lampe auf dem Tisch. Hans drehte den Kopf. Er konnte den Gestank nicht ausstehen. Auch deshalb waren die letzten Stunden für ihn so schlimm gewesen. Die Luft wurde immer schlechter. Der Aschenbecher auf dem Tisch war fast voll. Der Rauch zum Schneiden dicht.
Er hustete, dann griff er zu seinem Glas Wasser. Ich darf nicht so viel trinken, ermahnte er sich. Wer weiß, wie lange ich noch hier sitzen muss. Das Sprechen fiel ihm immer schwerer, aber der Druck seiner Blase bereitete ihm inzwischen wesentlich mehr Probleme. Bloß nicht in die Hose machen, solange es geht. Er rutschte auf dem Stuhl umher, doch die Schmerzen wurden nicht weniger.
Die Tür öffnete sich. Ein SS-Mann kam herein und flüsterte Hans Gegenüber ins Ohr. Der erhob sich und verließ den Raum. Hans schaute ihm nach und spürte für einen Moment einen Hauch Frischluft in der Nase. Er sog diesen gierig ein, doch es reichte nicht einmal für einen tiefen Atemzug.
Nun saß er alleine am Tisch und sah ausdruckslos in das milchige Licht, das den Qualm kaum durchdringen konnte. Seine Augen brannten, der Hals war trocken. Er hatte mittlerweile jedes Zeitgefühl verloren.
Als sich die Tür endlich wieder öffnete, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Eine Ewigkeit, in der der Druck und die Schmerzen in seiner Blase schier unerträglich geworden waren. Mit aufeinander gepressten Zähnen und schmerzverzehrten Augen sah er den Mann an.
»Kommen Sie mit!«, sagte die Silhouette in der Tür in einem Ton, der nicht erkennen ließ, was ihm bevorstand. Er konnte ebenso entlassen, wie vor das nächste Erschießungskommando geführt werden.
Für einen kurzen Moment erschienen ihm Bilder von Elisabeth und seinen Kindern vor Augen. Dann stand er auf und wollte sich strecken. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn und mit einem halb unterdrückten Stöhnen nahm er sofort eine nach vorne gebückte Haltung ein, um sich Erleichterung zu verschaffen. Langsam schleppte er sich zur Tür. Der Mann trat zur Seite und ließ ihn nach draußen. Er hob den rechten Arm und zeigte den Gang hinunter.
»Da entlang«, ergänzte er in der gleichen ausdruckslosen Stimmlage von vorhin und ging voraus. Er beachtete Hans nicht weiter.
Er weiß, dass ich in meinem Zustand sowieso nicht fliehen kann, dachte Hans und ohne auf seine Umgebung zu achten, setzte er schlurfend und mit schmerzverzerrtem Gesicht einen Fuß vor den anderen. Als er endlich die nächste Ecke erreicht hatte, vernahm er nur noch die Worte des Mannes. »Die erste Tür rechts. Ich warte hier.«
»Danke.«
Hans verschwand in der Toilette und wollte die Tür hinter sich abschließen. Der Schlüssel fehlte. Er dachte nicht weiter darüber nach, ließ hastig seine Hose herunter und setzte sich. Wogen der Erleichterung durchfuhren ihn.
Als seine Blase leer war, blieb er sitzen und überlegte. Wo war er? Er hatte nicht die leiseste Ahnung. Warum hatte man ihn verhaftet? Was wollten diese Männer von ihm? Sie sprachen von Spionage, Kontakten ins Ausland und Informationen, die er angeblich weitergegeben haben soll. Wie kamen sie nur auf so etwas? Er stellte beide Ellenbogen auf die Oberschenkel und legte den Kopf in die Hände. Wenn ich hier sitzen bleibe, erfahre ich nicht, was man von mir will, sagte er sich schließlich. Mit einem Seufzer stand er auf und zog die Hose hoch.
Draußen wurde er bereits erwartet, und ehe Hans etwas sagen konnte, ging der Mann zielstrebig auf ihn zu.
»Kommen Sie mit!«
Wieder ließ der Ton des Mannes keine Rückschlüsse zu. Jetzt ging er neben Hans. Er überragte ihn um eine Kopflänge und zog bei den Türen instinktiv den Kopf ein. Diesmal achtete Hans auf die verschiedenen Räume und Gänge. Das Gebäude musste älter sein. Auf den Böden lagen lange Holzdielen, von denen manche kräftig knarrten. Die Zimmer waren höher als gewöhnlich und an der Decke mit Stuck versehen. Viele waren mit Tapeten ausgestattet, die überhaupt nicht zu der von den Deutschen neu eingebrachten Einrichtung passten. In den Räumen standen jeweils mehrere Schreibtische und auf jedem mindestens ein Telefon. Überall liefen Drähte und Kabel am Boden entlang und steuerten auf einen Schacht am Ende des Flurs zu, in dem sie nach unten verschwanden. Fast alle Arbeitsplätze waren besetzt und es wurde eifrig telefoniert.
Sie gingen einen Gang entlang, an dessen Ende sich eine große, doppelflügelige Holztür befand, vor der zwei Soldaten Aufstellung bezogen hatten. Einer der Flügel stand offen und ließ einen Blick nach draußen zu. Er sah den vorderen Teil eines Wagens. Weiter hinten eine Hecke, die das Areal umgrenzte. Sie gingen noch ein Stück, dann hob der Mann den linken Arm und wies Hans an, einer Treppe, die sich hinter einem im Bogen gemauerten Durchgang befand, zu folgen. Hans zögerte kurz, doch der Blick seines Begleiters war eindeutig.
Die Stufen führten nach unten und die Temperatur nahm spürbar ab. Sie kamen in einen langen unterirdischen Raum, dessen Decke sich in leichten Bogenformen, auf mehreren Stützpfeilern stehend, durch den Raum zog. Ein Weinkeller, dachte Hans im ersten Moment. Doch je weiter sie durch den Mittelgang gingen, desto mehr offenbarte sich ihm die tatsächliche Verwendung dieses Untergeschosses. Alle Durchgänge zu beiden Seiten waren mit Eisengittern versperrt. Hans warf einen Blick in den Raum zu seiner Rechten. Eine einfache Schlafmöglichkeit auf der einen Seite, auf der anderen befand sich ein Stuhl, das war alles. Der Keller wird als Gefängnis genutzt, ging es ihm entsetzt auf und ein ungutes Gefühl beschlich ihn.
Fast unmerklich wurde er langsamer. Sein Begleiter behielt seinen Schritt bei und bekam dadurch einen kleinen Vorsprung. Nach ein paar Metern drehte er den Kopf, und ohne dass er ihn direkt ansah, wusste Hans sofort, was er ihm sagen wollte. Er beeilte sich und war einen Moment später wieder mit dem Mann gleichauf, der zielstrebig die nächste Zelle auf der linken Seite ansteuerte. Er blieb davor stehen und schien zu überlegen. Hans warf einen Blick durch die teilweise schon verrosteten Eisenstäbe. Auch sie enthielt ein Bett, auf dem eine zusammengeknüllte, graue Decke lag. Am Kopfende des eisernen Bettgestells stand ein einfacher Holzstuhl. Wie in der anderen auch. Seine Augen wanderten über den Boden und entdeckten rotbraune Flecken auf den Steinen. An der Wand waren ebenfalls welche, aus denen eine rötliche Flüssigkeit in langen, nach unten verjüngenden Bahnen der Schwerkraft nachgegeben hatte. Blut, dachte Hans und Unwohlsein ergriff ihn. Für einen Moment sah er seinen Begleiter an, dann drehte er sich um und der Blick fiel in die gegenüberliegende Zelle. Der Raum war belegt und zu seiner Überraschung mit einem Offizier der deutschen Wehrmacht. Der Mann saß auf dem Bett, die Mütze lag auf dem Stuhl daneben. Die Jacke war halb aufgeknöpft, der obere Hemdkragen geöffnet, die Krawatte hing über der Lehne. Hans hatte bei seiner Arbeit in Peenemünde fast täglich mit Offizieren zu tun, sodass er die Uniformen und Rangabzeichen gut kannte. Den Rang, den dieser Gefangene hatte, konnte er allerdings nicht genau erkennen. Er hätte auf einen Major getippt. Hans schnürte es die Kehle zu. Jetzt sperren sie schon die eigenen Offiziere ein. Panik breitete sich aus und er verspürte das Verlangen, loszurennen. Sein Blick fixierte den Offizier, der ihn ausdruckslos anstarrte, dann wanderten seine Augen den langen Gang zurück, durch den sie gekommen waren. Der Drang abzuhauen, wuchs. Sein Herzschlag wurde schneller und er spürte jeden Pulsschlag im Kopf. Seine Hände fingen an zu schwitzen und die ersten Schweißperlen rannen seine Stirn hinunter. Er musste etwas unternehmen.
Plötzlich packte ihn eine starke Hand am Oberarm und zog ihn mit. Sein Begleiter hatte es sich wohl anders überlegt und eine andere Zelle für ihn ausgewählt. Hans stolperte über seine eigenen Füße. Doch der eiserne Griff hielt ihn mühelos fest, sodass er nach dem Ordnen seiner Beine das Gleichgewicht wiederfand. Der Mann zog ihn eine Zelle weiter, blieb dort vor einer verrosteten Eisentür stehen und zog einen Schlüsselbund hervor. Das Geräusch der aneinanderstoßenden Schlüssel hallte eigenartig von den Wänden wieder. Die Hand an Hans Oberarm lockerte ihren Griff, dann gab sie ihn komplett frei. Hans rieb sich die schmerzende Stelle. Er vernahm das Drehen des Schlüssels und das Öffnen des Schlosses. Mit einem verwirrenden Knarren ging die Tür auf und ein fast schon freundlich klingendes »Bitte schön« forderte ihn zum Eintreten auf.
Hans betrachtete den Boden, auf dem Staubflusen und Dreck von einem lange zurückliegenden Putztermin zeugten. Er hob seinen rechten Fuß und setzte ihn langsam in die Zelle. Sein linker folgte, dann blieb er stehen und drehte sich um. Mit einem lauten Knacken wurde das Eisentor abgeschlossen. Dann fummelte der Mann den Schlüssel aus dem Schloss, steckte ihn wieder in seine Hosentasche und ohne noch einmal aufzublicken, ging er den Gang entlang, den Hans vorhin vor Panik zurücklaufen wollte. Seine Schritte hallten in unterschiedlichen Tonlagen von den gewölbten Wänden wieder, bis der Mann die Treppe erreicht hatte und verschwunden war.
Die totale Stille verunsicherte Hans. Langsam drehte er sich um. Er nahm gerade noch wahr, dass in dieser Zelle zwei Betten standen, dann blieb sein Herz für einen Augenblick vor Schreck stehen. Auf dem rechten Bett saß eine Frau. Ihr Oberkörper lehnte an der Wand und in ihrem Schoß lag ein blondes Mädchen, das von dem neuen Zellengenossen noch nichts bemerkt hatte, denn es schien fest zu schlafen. Die Frau fuhr dem Kind in langsamen, gleichmäßigen Bewegungen über den Kopf. Misstrauisch musterte sie ihn mit ihren dunklen Augen. Offenbar versuchte sie, ihn einzuschätzen, dann drehte sie ihren Kopf und rief in einem leisen aber doch bestimmten Ton: »Daniel!« Es dauerte etwa zwei Sekunden, dann wiederholte sie den Namen noch einmal: »Daniel!« Diesmal hob sie ihre Stimme etwas an. Obwohl sie für normale Umstände nicht laut gesprochen hatte, kam es Hans in der Stille wie ein Schrei vor. Er verstand nicht, was sie meinte. Dachte sie etwa, er wäre Daniel?
Sie wollte gerade erneut ansetzen, als Hans in den Augenwinkeln eine Bewegung vernahm. Er drehte den Kopf und spürte schlagartig die Anspannung in seinem Körper. Auf dem zweiten Bett bewegte sich der Haufen grauer Decken und ein Kopf schob sich unter ihm hervor. Die Augen blinzelten noch, als sie Hans anstarrten, dann wurde die Decke mit einer einzigen Bewegung auf die andere Seite des Betts geschleudert. Ein Junge sprang blitzartig heraus und war mit zwei schnellen Schritten bei der Frau, die ihren rechten Arm um ihn legte.
Hans stand wie angewurzelt in der Zelle. Mit einem kurzen, schnellen Blick überflog er den Raum. Er entdeckte niemand mehr. Es blieb bei der Frau und den beiden Kindern. Der erste Schreck ließ nach und er blies hörbar aus. Sein Herz klopfte wild und schien sich nicht wirklich beruhigen zu wollen. Er versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen und nach kurzer Zeit spürte er, wie auch sein Puls nach unten ging.
»Der Junge kann gerne in dem Bett liegen bleiben«, sagte er dann mit einer Stimme, der die Anspannung noch anzumerken war. Er deutete mit einer Handbewegung erst auf den Jungen, dann auf das freie Bett. Die beiden starrten Hans ununterbrochen an. Er machte einen Schritt nach vorne und sofort zog die Frau den Jungen näher zu sich heran. Hans blieb stehen.
»Er kann sich wirklich wieder hinlegen.« Noch einmal deutete er auf das Bett, dann fügte er hinzu: »Ich tue ihnen nichts.«
Die Frau reagierte nicht auf seine Worte, trotzdem hatte er den Eindruck, dass ihre Augen mittlerweile etwas entspannter wirkten.
Vielleicht versteht sie mich ja überhaupt nicht. Er ging zu dem freien Bett und setzte sich an das Fußende. Sein Blick wanderte erneut durch die Zelle. Die Einrichtung war karg und entgegen den anderen Zellen besaß diese noch nicht einmal einen Stuhl. In einer Ecke stand ein Nachttopf, wie er ihn aus seiner Kindheit kannte. Nur war dieser in einem Zustand, dass man sich nicht freiwillig auf ihn setzen wollte. Die dicken braunen Ränder schienen nur auf einige Fliegen eine Anziehungskraft auszuüben, die den Topf umkreisten. An der Decke hing eine einfache Glühbirne, die über eine provisorisch angebrachte Leitung mit Strom versorgt wurde. Die Wände waren unverputzt und gaben die Handwerkerkunst vergangener Jahrhunderte wieder. Die Luft war kühl und feucht. Sein Blick ging zurück zu seinen Zellengenossen. Der Junge hatte sich auf die untere Hälfte des Betts gelegt und versucht, sich ebenfalls mit der Decke zuzudecken, die das Mädchen hatte. Doch die war für beide zu kurz und so konnte er nur ein Ende über seine Beine legen.
Es wurde wieder totenstill. Von den Stockwerken über ihnen drang kein Laut herunter. Dafür waren die Mauern und Decken zu dick. Die Stille wirkte beunruhigend. Hans ging den Weg durch das Untergeschoss noch einmal in Gedanken durch. Soweit er feststellen konnte, war nur noch eine Zelle belegt. Die mit dem Offizier. Die übrigen Zellen waren leer gewesen. Ein deutscher Offizier und eine Mutter mit ihren Kindern dachte er. Wäre es nicht viel effektiver, alliierte Soldaten gefangen zu nehmen, anstatt der eigenen und ungefährlichen Zivilisten? So konnte man doch keinen Krieg gewinnen.
Er sah auf die Kinder und musste unweigerlich an seine beiden denken. Wie es ihnen jetzt wohl gehen mag? Ob Elisabeth schon weiß, dass er hier in Frankreich in einem Gefängnis saß? Auf einmal verspürte er ein starkes Bedürfnis, nach Hause zu gehen, seine Liebsten in den Arm zu nehmen und den Rest seines Lebens nur noch mit ihnen zu verbringen. Wie lange war es her, seit er nach Frankreich geflogen war? Drei, vier oder schon fünf Tage? Heute war Freitag, fiel ihm nach einiger Überlegung wieder ein, abgeflogen war er am Mittwoch. Das waren gerade mal drei Tage. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
Er verschloss die Arme vor der Brust. Es ist kalt. Ich muss mich zudecken. Er stützte sich mit einer Hand auf dem Bett ab, hob seinen Körper an und zog die Decke hervor. Dann schlang er sie um seinen Oberkörper und zog die Füße zu sich heran, sodass auch sie unter dem kratzenden Grau verschwanden. Die Decke stank modrig. Aber eine Alternative gab es nicht.
Auf dem Bett gegenüber saß die Frau noch immer an die Wand gelehnt und hatte den Kopf des Mädchens auf dem Schoß liegen. Der Junge lag auf der Seite, hatte beide Beine angezogen und die Arme zwischen die Oberschenkel geschoben. Seiner Haltung nach fror er. Hans drehte seinen Kopf zum Kopfende des Betts. Dort lag noch eine weitere Decke. Genauso grau und vermutlich auch genauso muffig und kratzig. Er stand auf und nahm sie in die Hände. Es kitzelte ihm in der Nase, als er die Arme streckte, damit der Stoff auseinanderfallen konnte. Die Decke an den ausgestreckten Armen vor sich hängend, ging er langsam auf das andere Bett zu. Die Frau beobachtete nach wie vor jede seiner Bewegungen, reagierte aber diesmal nicht auf sein Näherkommen. Behutsam legte er die Decke über den Jungen. Der rührte sich nicht, wahrscheinlich war er schon eingeschlafen. Dann ging er an seinen Platz zurück. Er lehnte den Kopf an die Wand. Sie war eiskalt, aber er ignorierte es. Er schaute eine Weile ausdruckslos durch die Zelle, dann wurden seine Augenlider immer schwerer, die Müdigkeit überkam ihn. Er schloss die Augen und vor ihm lief ein Film ab. Der Film seines Lebens.
Er sah sich als kleiner Junge über eine Wiese rennen, in die ausgestreckten Arme seiner Mutter, dahinter stand sein Vater, der ihn anlachte. Dann als Jugendlicher in einem schwarzen Anzug, mit Tränen in den Augen, auf einem Friedhof stehen. Vor dem Grab des Vaters. Dieter stand auf einmal neben ihm, als sie an der Technischen Hochschule in Dresden ihr Abschlusszeugnis entgegennahmen, dann küsste er Elisabeth in einem Brautkleid in der Kirche. Als stolzer Vater hielt er seinen Sohn Klaus und seine Tochter Franziska in den Armen und unter lautem Getöse startete unmittelbar danach eine A4-Rakete vom Prüfstand VII in Peenemünde. Dann sackte ein dunkel gekleideter Mann unter einer Straßenlaterne zusammen und der Schuss hallte Hans noch in den Ohren, als er langsam die Augen öffnete.
Hatte er geschlafen? Er blinzelte in die Helligkeit, die zugenommen zu haben schien und sah die Frau, halb zusammengesunken, an der Wand. Er rutschte auf dem Bett umher. Seine Gelenke fühlten sich an wie ein Getriebe, das seit Jahren kein Öl mehr gesehen hatte. Jede Bewegung schmerzte und er fror am ganzen Körper. Langsam versuchte er, alle seine Glieder zu bewegen und ihnen so ein bisschen Leben einzuhauchen. Von den Geräuschen wurde die Frau wach und brachte sich mühsam in eine aufrechte Position. Hans sah sie eine Weile an, dann fragte er unvermittelt und ohne darüber nachgedacht zu haben: »Warum sind Sie hier?«
Die Frau reagierte nicht. Hans schaute ihr in die Augen, doch sie antwortete nicht.
»Ich habe auch zwei Kinder«, fuhr er fort. »Einen Jungen und ein Mädchen. Der Junge wird schon bald fünf Jahre alt, er hat im Sommer Geburtstag, meine Kleine ist zweieinhalb.« Hans Blick verlor sich in seinen Gedanken, die zurück nach Deutschland wanderten. Unbewusst fuhr er fort: »Meine Kleine liebt es, mit Puppen zu spielen. Sie kann sich stundenlang mit ihnen beschäftigen, und sprüht nur so vor Ideen, wenn es um ihre Puppen geht.« Hans sprach einfach weiter. Er fragte sich nicht, ob die Frau ihn überhaupt verstehen konnte oder wollte. Er war ganz in sein Privatleben eingetaucht, erzählte von seiner Familie und davon, wie sehr er sie doch vermisse. Er sprach wie in Trance, ohne sich bewusst zu sein worüber.
»Ihr habt meinen Mann erschossen«, stieß die Frau ganz plötzlich hervor. Sie sagte es in einer Lautstärke, die Hans in seinen Ausschweifungen zwar kurz stocken ließ, die ihn aber nicht vollends aus dem Rhythmus brachte. Nach einem kurzen Zögern fuhr er fort, ohne wirklich registriert zu haben, was sie gesagt hatte.
»Die SS hat meinen Mann ermordet«, gab die Frau erneut von sich. Diesmal aber so laut und deutlich, dass Hans abrupt innehielt und aufhorchte.
»Ihr habt meinen Kindern den Vater genommen«, wiederholte sie mit zittriger Stimme. Ihre Augen wurden feucht, ihr war die Verzweiflung anzusehen. »Mich interessiert überhaupt nicht, was ihre Kinder für Vorlieben haben. Meine Kinder werden ohne einen Vater aufwachsen müssen.« Sie fing an zu schluchzen. Tränen liefen ihr über das Gesicht, das sie nun in ihren Händen vergrub. Ihr Körper vibrierte sichtbar.
Hans saß nur da und starrte sie an. Jäh aus seinen Gedanken gerissen und mit der grausamen Realität konfrontiert, wusste er nicht, was er sagen sollte. Das Mädchen im Schoß der Frau bewegte sich, streckte die Beine und drehte sich auf die andere Seite. Offenbar war sie nicht aufgewacht. Der Junge schlief weiterhin unter seiner Decke. Die Bewegungen des Kindes führten dazu, dass ihre Mutter etwas ruhiger wurde. Sie rutschte in eine sichtbar bequemere Position und legte die Hand auf die Schulter ihrer Tochter.
Hans wurde unruhig. Trotz der vorherrschenden Kälte wurde ihm plötzlich warm und er spürte, wie er sogar anfing zu schwitzen.
Schlagartig sah er sich wieder als Jugendlicher auf dem Friedhof stehen. Eine Situation, die ihm immer widerfuhr, wenn es um den Verlust eines ihm nahestehenden Menschen ging. Auch wenn er die Familie nie zuvor gesehen hatte, alleine die Tatsache, dass diese beiden Kinder ihren Vater verloren hatten, stellte eine Verbundenheit zu ihnen her und eine ihm bekannte Trauer überfiel ihn.
Es passierte am 16. Mai 1930. Für Hans war es Zeit gewesen, zur Schule aufzubrechen. Seine Mutter hatte ihm das Pausenbrot gerichtet und in die Schultasche getan. Er hatte die Schuhe geschnürt und die Schultasche über die Schulter geworfen. Dann hatte er sich von seiner Mutter verabschiedet und zu seinem Vater gerufen: »Bis heute Abend.« Wie jeden Morgen hatte sein Vater am Frühstückstisch gesessen und Zeitung gelesen. Er ließ das Blatt sinken und sah mit einem Lächeln zu ihm rüber: »Mach‘s gut, mein Junge!« Hans hob zum Abschied noch einmal kurz die Hand, dann verschwand er durch die Tür. Das Lächeln seines Vaters und die Worte »Mach‘s gut, mein Junge!« sollten Hans für immer im Gedächtnis bleiben.
Es war gegen halb zwölf Uhr, als der Direktor der Schule in das Klassenzimmer kam und Hans herausholte. Er nahm ihn mit in sein Büro und eröffnete ihm, dass sein Vater an diesem Morgen bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Dass es durch die Explosion bei einem Raketentest passierte, erfuhr er erst später, da dies nicht offiziell bekannt gegeben wurde. Sein Vater hatte an geheimen Raketentests für das Militär gearbeitet.
Hans fühlte sich an den Tag zurückversetzt, an dem er im Büro des Schuldirektors saß und die schreckliche Nachricht erhalten hatte. Der Vater war tot. Sein Vater, der ihm immer ein großes Vorbild gewesen war und in dessen Fußstapfen er einmal treten wollte. Hans hatte auf dem einfachen Holzstuhl gegenüber dem Direktor gesessen und versucht, die Tränen zurückzuhalten. Er wusste nicht mehr, wie er nach Hause gekommen war. Seine Mutter hatte ihn mit tränenunterlaufenen Augen in den Arm genommen und Hans spürte die Leere, die damals plötzlich in der Wohnung herrschte, genauso wie die Leere in seinem Körper. Der Tod seines Vaters hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Er wurde schweigsam, sprach fast nichts mehr und zog sich von seinem Freundeskreis zurück. Seine schulischen Leistungen ließen spürbar nach und er konnte froh sein, dass zu diesem Zeitpunkt die wichtigsten Klassenarbeiten schon geschrieben waren. Dadurch war seine Versetzung in die nächste Klasse nicht gefährdet.
Dieter war der große Rückhalt für Hans gewesen. Obwohl Dieter in Dresden wohnte, besuchte er Hans regelmäßig in Berlin und blieb die gesamten Sommerferien bei ihm. Es war nicht leicht für Dieter, ihn zu Veranstaltungen und Ausflügen mitzuschleifen, mit denen er versuchte, Hans wieder in das Leben zurückzuführen. Anfänglich widersetzte sich Hans vehement, doch ließ sein Widerstand gegen Ende der Ferien endlich etwas nach. Er ging jetzt zwar bereitwilliger mit Dieter aus, blieb dabei aber weiterhin ziemlich teilnahmslos.
Das folgende Schuljahr war schwer. Dieter reiste nach den Ferien wieder zurück nach Dresden, hielt aber, so oft es ging, Kontakt zu ihm. Er versuchte Hans Interesse an der Raketentechnik, das ebenfalls völlig versiegt war, wieder zu wecken. Dieters unermüdlichem Einsatz war es zu verdanken, dass Hans den Abschluss der Schule schaffte. Dieter gelang es, mithilfe der Beziehungen seines Vaters, einen Studienplatz für sie beide an der Technischen Hochschule in Dresden zu bekommen. Im Herbst 1932 begannen sie ihr Studium der Luftfahrttechnik. Der Wechsel zurück nach Dresden hatte spürbare Auswirkungen auf Hans. Die Vertrautheit mit der Stadt, in der er aufgewachsen war, die vielen Bekannten aus seiner Jugendzeit sowie der Umgang mit den Kommilitonen, die es verstanden, ausgiebig zu feiern, ließen ihn den schrecklichen Tod seines Vaters mehr und mehr verdrängen. Schon bald war Hans einer von vielen Studenten an der Hochschule, dessen wiedergewonnene Begeisterung an der Luft- und Raumfahrttechnik ihn die einzelnen Semester mit Bestnoten abschließen ließ. Er hatte sich vorgenommen, die Arbeit seines Vaters fortzusetzen und so bereitete er sich gewissenhaft auf die Prüfungen vor. Schlagartig trat seine Begeisterung für die Luftfahrttechnik 1937 in den Hintergrund, als er Elisabeth kennenlernte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen und brachte Hans mehrfach Ärger mit Julius ein. Julius Brenner war ein ehrgeiziger SS-Mann und zu diesem Zeitpunkt der Freund von Elisabeth gewesen. Hans traf sich ein paar Mal heimlich mit ihr, bis sie zwei Wochen später die Beziehung zu Julius offiziell beendete, was Hans neben einem Schwur auf ewige Rache auch zwei blaue Augen einbrachte.
Ihre Beziehung festigte sich und so fiel ihnen die Trennung im Herbst 1937, als Hans und Dieter als Jahrgangsbesten ein Angebot der Wehrmacht für die Forschung und Entwicklung neuer Waffensysteme in Peenemünde annahmen, extrem schwer. Doch das war die Chance für Hans, die Arbeit seines Vaters fortzusetzen. Die wenigen Möglichkeiten, sich im Urlaub oder den seltenen, verlängerten Wochenenden zu treffen, verliefen entsprechend heftig und so war es Ende 1938 gewesen, als Elisabeth ihm mitteilte, dass sie schwanger war. Bevor ihr Sohn auf die Welt kam, heiraten sie im Frühjahr 1939 und im gleichen Sommer zog Elisabeth mit ihrem Sohn in das Haus von Hans Mutter in Berlin. Dies hatte den Vorteil, dass sie sich jetzt häufiger sehen konnten, da Hans beruflich regelmäßig in die deutsche Hauptstadt fliegen musste. Er genoss die wenige Zeit mit seiner Familie und auch seine Mutter freute sich über neues Leben in ihrem Heim. Zwei Jahre später bekamen sie eine Tochter, die sie Franziska tauften. Abgesehen von den kriegsbedingten Beeinträchtigungen gingen die folgenden Jahre ihren gewohnten Lauf. Nach dem schweren Luftangriff auf Berlin im November 1943 entschieden sie, dass Elisabeth mit den Kindern zurück nach Dresden ziehen solle, da dort die Gefährdung durch die Bomber deutlich geringer war. Hans Mutter weigerte sich mitzugehen, sie wollte ihr Haus in Berlin nicht aufgeben.
Der Umzug nach Dresden erfolgte im Dezember 1943, da Hans Eltern noch ihre frühere Wohnung besaßen. Nachdem sie eine Zeit lang vermietet war, stand sie jetzt leer, sodass sie nach einer ausgiebigen Reinigung kurzfristig umziehen konnten.
Allerlei Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf und er wusste nicht, was mit ihm geschah. Wie es jetzt weitergehen sollte. Er saß als Gefangener in dieser Zelle. Zusammen mit einer Mutter und ihren beiden Kindern, deren Mann von der SS ermordet wurde. Er sah die Frau an, dann die beiden Kinder und ein starkes Gefühl der Verbundenheit und der Mitverantwortung für ihre Situation kam in ihm auf. Sein persönliches Schuldgefühl wuchs, und als die Frau ihn plötzlich mit tränennassen Augen ansah, hörte er sich sagen: »Ich werde Ihnen helfen. Das verspreche ich Ihnen!«