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4.

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„This is not how I am. I have become comfortably numb“, schallte es durch das alte Amphitheater von Pompeji. Diana Lenz blickte auf die, im Hintergrund projizierte irisierende Sonne, als David Gilmour zu seinem Gitarrensolo ansetzte. Hellgrüne Blitze der Lasershow zuckten durch die antike Stätte und durch das Einsetzen der Nebelmaschine erschien alles in einem diffusen Licht.

Ein Begeisterungssturm ging durch die Menge und Diana wurde durch die einmalige Atmosphäre angesteckt, die von diesem Ort ausging.

Sie war durch einen Artikel im Internet auf das Konzert von David Gilmour, welches in Pompeji stattfinden sollte, aufmerksam geworden und hatte sofort entschlossen, sich dieses Ereignis nicht entgehen zu lassen. Über einen ihrer Kontakte in Italien hatte sie eine der wenigen Karten ergattert und nun stand sie hier und lauschte den Klängen der tragenden Musik zwischen den nur dreitausend Zuschauern, da nur der Innenraum der Arena besetzt werden durfte. Als sie die Anfangssequenz des nächsten Stückes hörte, die durch das Drehen eines Frequenzrades an einem Radio eingeläutet wurde, wurden ihre Augen feucht und sie bekam Gänsehaut. Zu sehr verband sie „Wish you were here“ mit Helena, die dieses Stück so sehr liebte. Tränen kullerten über ihre Wangen, als sie den Text mit den anderen Zuschauern mitsang und in ihren Gedanken war sie wieder im Jahr 312 n.Chr.

*


Sieben Monate waren es jetzt her, als sie aus ihrem Koma ähnlichen Schlaf erwacht war und sich ihrem Bruder Georg, zu dem sie mittlerweile wieder eine herzliche Beziehung pflegte, anvertraut hatte. Zunächst hatte er ihrer Schilderung der Ereignisse skeptisch gegenübergestanden, aber sie hatte ihn aufgrund von Fakten und Beweisen restlos von ihrer Anwesenheit in der Vergangenheit überzeugt. Nach einer Erholungsphase von sechs Wochen hatte sie ihr spezieller Alltag wieder eingeholt und Diana war zu einer Mission nach Libyen aufgebrochen, wo sie zu ihrem Erstaunen einem Team zugeteilt wurde, welches zur Bekämpfung einer professionellen Schleuserbande eingesetzt war, die Flüchtlinge mit Booten über das Mittelmeer verbrachte. Dort war sie für die Koordination zuständig, was eigentlich nicht zu ihrem Einsatzrepertoire gehörte. Sie arbeitete stets alleine und daher war sie sehr verwundert darüber, dass Blankenstein sie in einen solchen, für ihre Verhältnisse harmlosen Einsatz schickte. Als sie diesen beendet hatte und nun vor Blankenstein saß, wurde sie das Gefühl nicht los, dass es die Ruhe vor dem Sturm war. Scheinbar gleichgültig nahm ihr Vorgesetzter ihren Bericht entgegen.

„Sehen Sie die vergangene Aktion als so etwas wie eine Wiedereingliederung an“, schmunzelte er.

„Ich muss zugeben, dass mich das Ganze etwas irritiert“, antwortete Diana. „Fast könnte man denken, dass Sie mich in irgendeiner Art schützen wollen. Der Einsatz in Libyen war mehr als lächerlich und ich habe mehr Zeit am Pool verbracht, als ich im Einsatz war.“

„Man hat einen erfahrenen Agenten angefordert und ich dachte, nach all dem, was Sie durchgemacht haben, wäre das genau das Richtige für einen Wiedereinstieg für Sie. Ich weiß über Ihre Qualitäten mehr Bescheid als jeder andere und das wissen Sie auch. Aber ich brauche Sie im Vollbesitz Ihrer Kräfte. Sie waren, sagen wir es mal so, mehr als ein halbes Jahr außer Gefecht gesetzt und das hat auch körperlich ihren Tribut gefordert. Auch Sie können nicht von null auf hundert durchstarten und daher kam der Einsatz genau zur richtigen Zeit. Sie werden sich jetzt einen zweiwöchigen Urlaub gönnen und dann will ich Sie hier wieder in Hochform sehen“, grinste er.

Diana schmunzelte leicht. Eine solch lange Ansprache hatte sie von Blankenstein schon lange nicht mehr gehört und sie spürte, dass er sich mehr um ihren mentalen Zustand sorgen machte, als um ihre Fitness. Seit den Ereignissen in der Vergangenheit hatte sie selbst einen Wandel an sich feststellen müssen und dieser betraf tatsächlich ihren Gemütszustand. Sie empfand einen Zustand, den sie als Empathie lokalisierte und über den sie vor ihrer „Reise“ praktisch nicht verfügte. Vor allem vermisste sie Helena, Aurora und Lydia, die sie als ihre Familie betrachtet hatte und selbst in ihren Träumen erschienen sie ihr.

Nach ihrem Gespräch mit Blankenstein war sie nach Hause gefahren und dort las sie im Internet vom Konzert David Gilmours in Pompeji. Und nun stand sie inmitten der Menschenmenge und genoss den Schlussakkord des Konzertes, während das Amphitheater in gleißend hellem Licht getaucht war.

*


Als die letzten Töne verklungen waren, bewegte sie sich in Richtung des Ausgangs, nahm sich ein Taxi und fuhr in ihr Hotel, das sich in Sorrento befand und einen herrlichen Ausblick auf den Golf bot.

Diana bestellte sich über den Zimmerservice eine Flasche Barolo und genoss auf der Terrasse ihres Zimmers den Blick auf das Lichtermeer des nächtlichen Neapels, wo im Hintergrund der Vesuv wie ein drohendes Fanal schemenhaft in der Dunkelheit zu erkennen war. Der Klingelton ihres Smartphones ertönte und bereits am Klang des Signals erkannte sie, dass ihr Urlaub ein abruptes Ende gefunden hatte.

„General Blankenstein. Ein Anruf von Ihnen zu so später Stunde bedeutet nichts Gutes.“

„Es tut mir leid, dass ich Sie stören muss, aber Ihre Anwesenheit hier erfordert höchste Priorität“, hörte sie seine belegte Stimme. „Bitte begeben Sie sich sofort zum Flughafen von Neapel. Ein Hubschrauber erwartet Sie dort und wird Sie direkt nach Pullach bringen. Eigentlich sollte ich diesen Anruf schon vor zwei Stunden tätigen, aber ich wusste, dass Sie sich so auf das Konzert gefreut hatten. Das konnte ich Ihnen nicht antun.“

Diana war nicht erstaunt darüber, dass Blankenstein genau wusste, wo sie sich befand. Jeder der Topagenten hatte einen Chip implantiert bekommen, sodass die Zentrale jederzeit im Bilde darüber war, wo sich ihre Leute gerade befanden. Und aus ihrem Faible für Pink Floyd hatte sie nie ein Hehl gemacht, zumal sie genau wusste, dass Blankenstein den gleichen Musikgeschmack hatte wie sie. Vielmehr war sie darüber erstaunt, dass extra ein Helikopter auf sie wartete. Die Sache musste mehr als ernst sein.

„Ich mache mich sofort auf den Weg. Das Konzert war übrigens superb. Schade, dass Sie es nicht erleben konnten. Und vielen Dank!“, sagte sie leise in den Hörer.

„Keine Ursache. Ich erwarte Sie dann in etwa drei Stunden.“

Diana packte rasch ihre Tasche, checkte aus und begab sich zum Flughafen, wo sie bereits von einem Agenten des MAD erwartet wurde. Diana stellte keine Fragen, da sie davon ausging, dass der Agent nicht über ihren bevorstehenden Einsatz unterrichtet war und setzte sich ins Cockpit des NH90, dessen Pilot sofort eine Starterlaubnis bekam.

*


Diana schaute aus dem Fenster und die atemberaubende Kulisse Neapels entschwand ihres Blickes. Zweieinhalb Stunden später landete die Maschine in München und Diana wurde von General Blankenstein persönlich erwartet.

„So dringend?“, fragte sie ihn, als sie aus der Maschine kletterte.

„Mehr als das“, antwortete er und aus seinem Gesichtsausdruck erkannte sie sofort, dass es um eine sehr ernste Sache gehen musste. Neben Blankenstein stand ein unscheinbarer Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war. Nachdem Blankenstein Diana begrüßt hatte, wand er sich dem Mann zu, der Diana neugierig musterte.

„Darf ich Ihnen Heinz Müller vorstellen? Er arbeitet an einem Projekt, das unmittelbar mit unserem Problem zu tun hat.“

„Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Frau Lenz“, sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen und reichte ihr seine Hand zur Begrüßung. „General Blankenstein hat Sie in den höchsten Tönen gelobt und Sie sind die Einzige, die uns bei unserem plötzlich aufgetretenen Problem helfen kann.“

„Überschätzen Sie meine Fähigkeiten nicht, Herr Müller“, lächelte Diana.

„Wenn ich sage die Einzige, dann meine ich das genau so. Lassen Sie uns in General Blankensteins Büro fahren und dann erkläre ich Ihnen alles.“

*


Eine halbe Stunde später saßen die drei in Blankensteins Büro. Er servierte ihnen einen Cognac und steckte sich eine Zigarette an.

„Um welches Problem geht es?“, kam Diana direkt zur Sache.

„Lassen Sie mich zuerst eine Frage an Sie richten, Frau Lenz“, sagte der Mann in Schwarz. „Bedauern Sie es, dass Sie die Zeit Constantin des Großen wieder verlassen mussten?“

Diana wurde aschfahl im Gesicht und spürte einen dicken Kloß in ihrem Hals.

„Wie haben sie davon ... Georg?“, stammelte sie.

„Nein, Ihr Bruder hat kein Wort über das verloren, was Sie ihm vermutlich berichtet haben. Ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen, wobei ich natürlich nicht erwähnen muss, dass der Inhalt dieses Gespräches diesen Raum nicht verlassen darf.“

Müller schilderte ihr in allen Einzelheiten über die Ereignisse in Nag Hammadi sowie die Planung ihres eigenen Werdegangs und Diana hörte ihm teils staunend, teils entsetzt zu, während Müller ihr ein paar Fotos der Ausgrabungsstelle herüberreichte, die sie ausgiebig betrachtete.

„Aus dem Pergament ging klar die Jahreszahl hervor, aus welcher der Besucher aus der Zukunft stammte. So wussten wir, dass Ihnen das Ganze im vergangenen Jahr passieren musste, aber nicht, was der Auslöser für dieses Ereignis war. Da Sie über keine Zeitmaschine verfügen, haben unsere Wissenschaftler eine, wenn auch abstrakte Möglichkeit in Erwägung gezogen, wie eine solche Zeitreise zustande kommen konnte. Die neuesten Forschungen auf diesem Gebiet erstrecken sich auf die Theorie der Parallelwelten, eines sogenannten Multiversums. Ich muss gestehen, dass diese Materie auch für mich und ich denke, das gilt für uns alle hier, schwer zu verstehen ist, wenn man nicht gerade eine Professur in Physik besitzt“, lächelte Müller. „Auf jeden Fall war es für unsere Spezialisten die plausibelste Erklärung, dass es sich um eine Zeitreise des Geistes gehandelt haben musste.“

„Deshalb haben Sie damals darauf bestanden, dass ich die Sitzung bei Doktor Rech besuchen sollte“, schaute Diana Blankenstein mit vor Zorn blitzenden Augen an.

„Ja“, antwortete er und schaute betreten zu Boden. „Aber wie Sie eben gehört haben, war es Ihr Schicksal, in die Zeit Constantins zu gelangen.“

„Und wir waren auf dieses Ereignis vorbereitet“, warf Müller ein. „Wir haben Sie die ganze Zeit während Ihrer geistigen Abwesenheit unter einer gewissen Kontrolle gehabt und haben Ihre Gefühlsmomente jederzeit überwacht, ja, manchmal haben wir sogar schemenhaft erkennen können, welche Ereignisse Sie gerade durchlebt haben.“

Diana wurde schlecht bei diesem Gedanken.

„Sie haben mich wie in einem Film beobachtet?“, fragte sie Müller mit fassungsloser Miene. „Meine intimsten Gedanken kontrolliert? Meine Gefühle wurden Ihnen offengelegt?“

„Nicht so, wie Sie denken. Ich sagte ja, manchmal haben wir schemenhaft etwas beobachten können und seien Sie versichert; Ihre Intimsphäre wurde jederzeit gewahrt. Frau Lenz, Sie sind Profi genug, um zu wissen, dass Sie einer ständigen Überwachung unterliegen. Der Umstand ist für Sie ja nichts Neues“, sagte Müller und schaute wie zufällig auf die Stelle an ihrem Oberarm, wo sich der implantierte Chip befand. „Aber lassen wir uns auf das Wesentliche zurückkommen, weswegen wir hier heute Abend sitzen. Frau Lenz, wir haben ein Problem und wir befürchten, dass dieses aus Ihrer Anwesenheit in der Vergangenheit resultiert.“

Diana schaute Müller mit versteinerter Miene an. Er hatte recht mit dem, was er gesagt hatte. Sie war Profi durch und durch und natürlich befolgte sie Befehle, die sie in aller Konsequenz erledigte, aber hier fühlte sie sich einfach nur wie eine Straßenhure benutzt. Gleichzeitig jedoch beunruhigte sie die Aussage von Müller, dass etwas aus dem Ruder gelaufen war.

„Reden Sie weiter“, forderte sie ihn knapp auf.

„Heute Morgen erreichte uns eine beunruhigende Nachricht, eine von mehreren in letzter Zeit, aber dieser Vorfall erregte insofern die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, da sie einen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Italiens betraf. Sein Name war Alessandro Metello und heute um zirka acht Uhr morgens verschwand Metello vor den Augen seiner Ehefrau, als er gerade sein Frühstück zu sich nehmen wollte.“

„Er verschwand?“, schaute Diana ihn mit fragendem Blick an.

„Er löste sich praktisch in Luft auf. Seine Frau jedenfalls schilderte den Vorgang genau so. Eine Hausangestellte erschien unmittelbar nach seinem Verschwinden, da sie durch den Schrei von Metellos Frau zur Hilfe eilen wollte. Alessandro Metello war verschwunden und nur noch sein Morgenmantel lag auf dem Boden. Wie ich schon eingangs erwähnte, war dies nicht der erste Fall und bis auf wenige Ausnahmen betraf dies ausschließlich italienische Staatsbürger.“

„Wie viele?“, fragte Diana mit tonloser Stimme.

„Einhundertachtundvierzig. Bis jetzt. Und nur die, von denen wir definitiv wissen. Es können noch weitaus mehr sein, aber erst durch das Verschwinden Metellos hat dieser Vorgang die höchste Priorität erhalten. Und wir wissen nicht, wie lange sich dieses, sagen wir, Phänomen fortsetzt. Es war für uns nur wichtig, dass Sie diese Reise unternehmen und glauben Sie mir, dass Letzte, was wir wollten, war, sie auszuspionieren. Wir mussten lediglich sicherstellen, dass Sie unversehrt aus dieser Geschichte herauskamen. Angesichts der neuen Situation ist es aber dringend erforderlich, dass wir alles, möglichst bis ins kleinste Detail erfahren, was sich damals zugetragen hat.“

„Sie vermuten, dass ich ein Zeitparadoxon geschaffen habe, nach dem Motto: Ich reise in die Vergangenheit, bringe meinen Opa um und existiere daher nicht. Aber da ist ein Denkfehler. Wenn ich im Jahr 312 ein Zeitparadoxon ausgelöst hätte, dann wäre Alessandro Metello gar nicht geboren worden, da seine Vorfahren bereits nicht existiert hätten. Wenn dem aber doch so ist, dann wäre meine Zeitreise parallel zu der unsrigen Zeit verlaufen.“

„Wobei wir wieder bei der Theorie des Multiversums wären. Frau Lenz, ich habe keine Ahnung, was geschehen ist, aber so abstrakt das ist; genau das sagen unsere Wissenschaftler und ist für sie die einzige Erklärung.“

Diana schaute auf ihre Hände. „Also gut, ich schildere Ihnen alles, was damals passiert ist. Irgendwo habe ich wohl tatsächlich ein Paradoxon geschaffen und dieses Ereignis müssen wir genau lokalisieren. Es muss etwas sein, das nicht von geschichtlicher Bedeutung war. Aber was passiert, wenn wir denken, dass wir die Ursache gefunden haben.“

„Dann werden Sie sich wieder in die Zeit begeben und das Paradoxon aus der Welt schaffen“, sagte Müller mit ernster Miene.

Diana wusste, dass Müller mit seiner Vermutung recht hatte. Als er den Namen Metello erwähnte, schrillten bei ihr sofort die Alarmglocken. Sofort hatte sie das jugendliche Gesicht von Lucius Metellus vor Augen, über dessen weiteres Schicksal sie nach der Schlacht an der Milvischen Brücke nichts wusste. Bei Alessandro Metello handelte es sich zweifellos um einen seiner Nachfahren und wenn sie wirklich für dieses auftretende Phänomen verantwortlich war, lag der Schlüssel in ihren Abenteuern verborgen, die sie damals erlebt hatte. Sie sparte sich ihre Frage auf, wie Müller es bewerkstelligen würde, ihren Geist wieder in die Vergangenheit zu schicken, aber ihr Herz machte einen kleinen Sprung vor Freude.

Blankenstein kochte ihnen einen starken Kaffee und Diana begann, ihre Geschichte zu erzählen.

Helenas Vermächtnis

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