Читать книгу Helenas Vermächtnis - Rainer Keip - Страница 12

5.

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Der Morgen graute bereits, als Diana ihre Schilderung der Ereignisse abschloss, aber keiner der beiden Männer zeigte irgendeinen Ausdruck von Müdigkeit auf dem Gesicht. Im Gegenteil: Sowohl Blankenstein als auch Müller hatten ihren Ausführungen gelauscht wie Kinder, denen man ein spannendes Märchen erzählt hatte.

„Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass Sie die Nachfolgerin von Scheherazade sind“, sagte Müller mit einem Lächeln auf den Lippen und goss sich die gefühlte zehnte Tasse Kaffee ein. „Nach all dem, was Sie uns geschildert haben, kann ich mir vorstellen, wie sehr Ihnen diese Menschen ans Herz gewachsen sind.“

Dabei hatte Diana ihnen natürlich nicht alles erzählt. Ihre sexuellen Erfahrungen gingen niemanden etwas an und sie hatte sich im Wesentlichen darauf beschränkt herauszufinden, wo sie den Fehler begangen haben könnte. Gleichzeitig hatte sie jedoch auch die emotionale Schiene nicht außer Betracht gelassen. Sie wollte bewusst hervorheben, dass sich die Menschen der Antike nicht so sehr von den heutigen unterschieden, vor allem, was den sozialen Aspekt betraf. Natürlich war es eine andere Zeit mit anderen Moralvorstellungen und die Kluft zwischen Arm und Reich war viel größer, als dies heute der Fall war, aber im Grunde genommen bewegten die Leute damals dieselben Probleme wie in ihrer Gegenwart, nur auf einer anderen Ebene.

„Das stimmt“, antwortete Diana auf Müllers Feststellung. „Besonders zu Helena hatte ich eine besondere Beziehung. Aber wir müssen zunächst analysieren, was der Auslöser des Paradoxons gewesen sein könnte.“

„Ich glaube, die Kampfhandlungen im Allgemeinen können wir ausschließen“, sagte Blankenstein. „Im Laufe einer Schlacht ergeben sich so viele Möglichkeiten und Gelegenheiten, dass auch diejenigen, die Sie getötet haben, ohnehin das Schlachtfeld nicht lebend verlassen hätten. Auch Ihre recht gewagte „Erfindung“ der Hellebarde fällt unseres Erachtens nach nicht so sehr ins Gewicht. Viele technische Errungenschaften, welche die Römer erfunden hatten, sind nach dem Fall des römischen Imperiums schnell in Vergessenheit geraten. Man denke nur an die der Medizin und der Architektur. Ich denke, dass wir einer Meinung sind, dass es ein Ereignis gewesen sein muss, welches weitreichendere Folgen hinterlassen hat. Gehen wir am besten chronologisch vor und beschäftigen wir uns mit dem Angriff auf das Dorf, den Sie letztendlich vereitelt haben.“

Dianas Gedanken schweiften zu ihrem Eintreffen an den Ort zurück, an dem das Ganze begonnen hatte. Damals war sie auf Julia und Tullius den Schmied getroffen und hatte ihnen dabei geholfen, einen Überfall auf deren Dorf abzuwehren.

„Das wäre eine Möglichkeit. Wahrscheinlich wären die Dorfbewohner getötet worden und die Angreifer wären mit ihrer Beute abgezogen, wie schon in den anderen Fällen vorher. Dann wäre die Verschwörung nicht durch mich aufgedeckt worden, aber dieser eigentlich unbedeutende Vorfall hätte nicht dazu geführt, dass ein Anschlag auf Crispus und Helena durchgeführt wurde. Helena ist nur aufgrund meines Auftauchens am Hofe Constantins in die Therme gegangen und alles andere war praktisch Folge des missglückten Anschlags. Ich habe in Trier nur Theophanos und diesen namenlosen Attentäter getötet und diese hatten keine Familie, ebenso wenig wie Demosthenes, den Bruder von Theophanos und den Majordomus im Haus des Valentinus, den ich ebenfalls zur Strecke gebracht habe. Von den beiden Straßenräubern, die sie zur Unterstützung angeheuert hatten, will ich gar nicht reden. Die wären eh irgendwann in den Gassen von Turin ums Leben gekommen. Nein, ich denke, dieses Ereignis können wir ausschließen. Wir müssen die Sache anders angehen. Sie dürfen nicht vergessen, ich war Teil der Geschichte und alles ist so eingetroffen wie es sein sollte. Das Dorf, meine Anwesenheit am Hof des Kaisers, der Gewinn Seines und Helenas Vertrauen in meine Person wegen der Rettung beider Leben, der Marsch auf Rom et cetera. Nein, es muss etwas anderes gewesen sein, eine relative Kleinigkeit, ein Geschehen am Rande der großen Ereignisse.“

„Aurora“, hörte sie die leise Stimme Müllers und dieser Gedanke beschäftigte sie schon die ganze Zeit, ohne ihn aussprechen zu wollen.

„Sie haben ihr wahrscheinlich das erste Mal das Leben gerettet, als Sie auf die Kleine und ihren Vater stießen. Ohne Sie hätte sie das Fieber wahrscheinlich nicht überlebt. Und selbst wenn es so gewesen wäre, was wäre weiter passiert? Rufus und Aurora wären zu seiner Familie gestoßen, Aurora hätte eine Kindheit in Armut verbracht, wäre verheiratet worden und höchstwahrscheinlich früh und vergessen gestorben. Aber durch Ihre Intervention ist ihr Leben in völlig andere Bahnen geraten. Sie haben Aurora unter Ihre Fittiche genommen und sie praktisch an den kaiserlichen Hof gebracht, wo sie nun unter der Obhut von Lydia stand und vor allem Helena sich ihrer angenommen hat. So, wie Sie diese Frau schildern, hat sie sich mit Sicherheit weiter um sie gekümmert. Leider geht das aus dem Pergament, das Eissing gefunden hat, nicht hervor. Sie wird, durch Ihre Intervention, ein ganz anderes Leben geführt haben, als es ihre eigentliche Bestimmung war. Die Person Aurora ist für mich Favorit.“

„Das war auch mein erster Gedanke“, murmelte Diana. „Aber wenn es so ist; verlangen Sie etwa von mir, dass ich das Mädchen, das für mich wie meine Tochter war, einfach ausschalte?“

Die beiden Männer blicken betreten zu Boden.

„Lassen wir uns zunächst andere Möglichkeiten ausloten“, sagte Blankenstein in die eintretende Stille.

Sie diskutierten über weitere Aspekte und Möglichkeiten wie über die Rolle von Lucius Metellus und auch über Marcus, den verräterischen Neffen von Sulpicius Valentinus, dem Tuchhändler aus Trier. Aber schnell verwarfen sie diesen Verdacht wieder. Marcus wäre mit Sicherheit durch die Agenten Constantins nach dessen Machtergreifung enttarnt und beseitigt worden. Diana hatte lediglich die Sache verkürzt. Und was Lucius Metellus betraf; er hätte ohnehin überlebt, so wie sie Constantins Charakterzüge analysiert hatten.

„Also müssen wir uns auf Aurora konzentrieren“, sagte Diana mit niedergeschlagener Stimme.

„Es muss ja nicht so sein, dass sie selbst der Grund allen Übels ist“, sagte Blankenstein. „Es kann und ich denke, dass es mit ihrem direkten Umfeld zu tun hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Mädchen zu einer killenden Amazone mutiert ist; nicht in dieser Gesellschaft, in der sie wohl aufgewachsen ist.“

„Das glaube ich auch nicht, oder besser, ich hoffe es nicht.“ In Dianas Stimme klang etwas Hoffnung. „Nicht, wenn Helena und Lydia sie erzogen haben. Aber wer weiß schon, was sich damals nach meiner Rückkehr abgespielt hat.“

„Über Lydia wissen wir nichts. Die ist in der Geschichte verschwunden. Aber über Helena. Wenn auch nicht viel; bis heute jedenfalls“, lächelte Müller und machte Diana wieder Mut. „Sie hätte es niemals zugelassen, dass Aurora in irgendeiner Art und Weise auf die schiefe Bahn geraten wäre. Wenn alles normal verlaufen ist, wird aus dem Kind Aurora eine gebildete und kultivierte Frau geworden sein, die sich in den höchsten Kreisen bewegt hat. Und da sehe ich den Ansatzpunkt. Etwas anderes haben wir nicht und dort müssen sie ihre Ermittlungen ansetzen.“

„Sie haben wirklich vor, mich beziehungsweise meinen Geist wieder in die Zeit zurückzuschicken“, stellte Diana nüchtern fest.

„Was Ihnen, wenn ich richtig vermute, sehr entgegenkommt“, schmunzelte Müller.

„Das kann und will ich nicht abstreiten“, lächelte nun auch Diana. „Aber wie wollen Sie das bewerkstelligen? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hatten Sie mit meinem Zeitsprung eigentlich nichts direkt zu tun. Sie haben lediglich gewusst, dass er stattfindet und etwas darauf eingewirkt.“

„Wir haben einen Plan, um Ihre Rückreise in die Zeit zu ermöglichen. Wir kennen nun den Auslöser und wissen, dass Sie oder besser ihr Geist dazu in der Lage ist. Also haben wir ein Experiment mit Ihnen vor. Ob es funktioniert ...? Das wissen selbst unsere Wissenschaftler nicht. Aber es ist unsere einzige Chance, die Sache wieder zu korrigieren. Ihr Geist ist während einer Rückführung mit Doktor Rech praktisch kollabiert und hat zu diesem Phänomen geführt. Wir haben vor, dass Ganze zu wiederholen, allerdings werden wir versuchen, Einfluss auf das Ankunftsdatum zu nehmen. Wir wissen nicht, warum Sie gerade in diese Zeit zurückgefallen sind. Der Auslöser des Ereignisses hatte, soweit wir wissen, nichts mit der Zeitepoche zu tun.“

„Nein, überhaupt nichts. Der Auslöser war gewissermaßen ein ethischer Konflikt, in dem ich mich befunden habe.“

„Daher wollen wir versuchen, Ihr Bewusstsein dahin gehend zu steuern, dass Sie in der richtigen Epoche landen. Wir haben das Jahr 324 n.Chr. ausgesucht und wie sich nun herausstellt, unbewusst ins Schwarze getroffen. Aurora müsste dann etwa sechzehn Jahre alt sein. Damit wäre sie, nach römischen Verhältnissen, bereits in einem heiratsfähigen Alter und wenn wir davon ausgehen, dass nicht sie, sondern ihr soziales Umfeld mit dem Zeitparadoxon zu tun hat, könnte es die richtige Zeit sein, wo Sie den Hebel ansetzen können. Außerdem spielten sich in diesem Jahr einige wichtige Ereignisse ab. Es war das Entscheidungsjahr über die Gesamtherrschaft über das römische Imperium, in dessen Verlauf Constantin seinen Widersacher Licinius entscheidend geschlagen hat. Zudem kommt die Pilgerfahrt Helenas nach Jerusalem hinzu, bei der wir vermuten, dass diese nach der Inthronisierung ihres Sohnes stattgefunden hat, quasi eine Art Propagandaaktion für den neuen Herrscher. Aber das Datum dafür ist nicht genau überliefert.“

„Das würde den beiden ähnlichsehen“, schmunzelte Diana. „Auf diesen Aspekt hat er schon bei meiner Anwesenheit großen Wert gelegt.“

„Bei dieser Gelegenheit muss es auch zu der Grundsteinlegung bei Nag Hammadi gekommen sein, obwohl die Chronisten über einen Abstecher Helenas nach Ägypten nichts berichtet haben. Aber wie ich schon erwähnte, waren die Informationen über Helena bislang recht spärlich. Man wusste nicht viel über ihr Leben, aber das hat sich ja nun grundlegend geändert. Kommen wir auf das Wesentliche zurück. Über dieses Jahr gibt es eine relative Fülle von Aufzeichnungen. Diese haben wir zusammengefasst und werden Ihnen, wenn Sie den Zustand erreichen sollten in dem Sie sich schon einmal befanden, als eine Art Reizüberflutung in Ihr Unterbewusstsein steuern. Auf diese Weise hoffen wir, dass wir in etwa eine Punktlandung hinbekommen. Ob uns das gelingt weiß niemand. Aber es ist unsere einzige Chance.“

„Wer stellt sicher, dass mein Gehirn durch die von Ihnen angestoßene Reizüberflutung keinen Schaden nimmt?“, fragte Diana geradeheraus.

„Sie stehen ständig unter Kontrolle und wenn Sie, wie sage ich es, „angekommen“ sind, werden wir uns komplett zurückziehen.“

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

„Wir werden versuchen, einen etwaigen Schaden auf ein Minimum zu reduzieren. Ein solches Experiment wurde noch niemals durchgeführt und wir betreten völliges Neuland. Eine Garantie kann ich Ihnen nicht geben“, stellte Müller klar. „Frau Lenz, niemand wird Sie zwingen, sich auf das Ganze einzulassen. Sie sind zwar Angehörige des MAD, aber das geht über einen normalen Einsatz weit hinaus und wir haben volles Verständnis, wenn Sie das Risiko scheuen.“

Diana grinste ihn an: „Sie wissen ganz genau, dass ich das Risiko nicht scheue. Bei jedem meiner Einsätze, bis auf den letzten vielleicht“, und schaute dabei Blankenstein schräg von der Seite an, „setze ich mein Leben aufs Spiel. Mir behagt nur der Gedanke nicht, bis zum Ende meiner Tage als psychisches Wrack dahinzuvegetieren. Aber es bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig. Es fängt mit hundertachtundvierzig an und endet vielleicht mit Millionen, wenn überhaupt. Wann fangen wir an?“

„Zunächst werden Sie Ihre Geschichte wohl noch öfters erzählen müssen. Ihre Informationen und Erkenntnisse aus erster Hand sind für die Wissenschaft Gold wert und werden dem hinzugefügt, was uns durch die Chronisten bereits bekannt ist. Gleichzeitig werden Sie mit den schon vorhandenen Informationen gefüttert, sodass Sie bestens vorbereitet dort ankommen werden. Wir wollen so wenig wie möglich dem Zufall überlassen.“

„Wie wollen Sie meinen Ankunftsort, wenn das Experiment gelingt, bestimmen?“

„Das können wir nicht. Wir können nur hoffen, dass er nicht allzu weit von Ihrem Einsatzziel entfernt ist. Wir wissen ja auch nicht, wo sich dieses befindet. Das müssen Sie vor Ort herausbekommen. Sie müssen zunächst Helena finden und dann werden Sie auch über Auroras Aufenthaltsort Bescheid wissen. Gott sei Dank haben wir eine bedeutende historische Person als Anlaufstelle, ansonsten wäre es die Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen.“

*


Nach der anstrengenden Nacht fuhr Diana gegen Mittag in ihre Wohnung und ließ sich erst einmal ein heißes Bad ein. Eingehüllt von Schaum und einem kalten Glas Prosecco lag sie entspannt in der Wanne und zog ein erstes Resümee, wobei ihr der Inhalt des Pergaments leichte Kopfschmerzen bereitete. Wenn ihre zweite Zeitreise tatsächlich gelungen war, warum hatte Helena sie in ihrem Papyrus nicht erwähnt? Denn das musste sie vermuten, da Müller und Blankenstein ihr den Inhalt des Textes nicht gezeigt hatten, wohl aus dem Grund, um sie nicht zu beunruhigen.

Eigentlich gab es nur eine Erklärung: Das Experiment war misslungen und sie hatte nie ein zweites Mal diese Zeitebene erreicht. Aber diesen Gedanken schob sie zur Seite. Zu groß war die Verführung, dass sie die Chance bekommen sollte, ihre „Familie“ wiederzusehen und dafür war ihr kein Risiko zu groß. Es konnten sich auch andere Umstände aufgetan haben, warum Helena dies unterlassen hatte. Diana schloss ihre Augen und genoss die Stille, die sie umgab. Niemals zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so zufrieden und glücklich gefühlt wie in der Vergangenheit und sie hätte jede Möglichkeit genutzt, dorthin zurückzukehren.

Sie stieg aus der Wanne, summte „Every breath you take“ von Police und frottierte sich ab. Anschließend ließ sie sich in ihr Bett fallen und schlief fast sofort ein. Im Halbschlaf sah sie die Gesichter von Helena und Lydia vor sich und ein zufriedenes Lächeln stahl sich um ihre Lippen.

Helenas Vermächtnis

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