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Berlin, Mittwoch, 18. Mai

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Hanna Buskow befindet sich auf dem Weg zur Arbeit. Es ist 12:30 Uhr. Eigentlich beginnt die Arbeit erst um 14:00 Uhr. Aber immer, wenn sie zur Spätschicht eingeteilt ist, fährt sie etwas früher zum Dienst, um in der Kantine in Ruhe Mittag zu essen. Das Kantinen­essen ist gut und preiswert und entlastet sie vom regelmäßigen Ko­chen in ihrem Singlehaushalt.

Im Abteil der U-Bahn befinden sich zu dieser Zeit nur wenige Fahr­gäste. Erst am Umsteigebahnhof „Berliner Straße“ werden erheblich mehr hinzukommen.

Das monotone Rattern des Zuges lässt Hannas Gedanken, Erinne­rungen und Bilder ohne Anstrengung wie verschüttete Flüssigkeit frei in alle Richtungen fließen. Sie bewegen sich von der Gegenwart in die Vergangenheit, von dort in die Zukunft und kehren zurück in die Gegenwart.

Das, was um sie herum geschieht, registriert sie unbeteiligt mit gro­ßem Abstand, wie durch ein Fernglas. Wenn der Zug in die Sta­tio­nen fährt, bremst und anhält, reißt sie das aus diesem Gedan­ken­fluss und zwingt sie zum Gleichgewichthalten, um das sanfte Nachvorngeschobenwerden abzufangen. Dieser Zug gehört noch zu den älteren Modellen, bestehend aus mehreren Einzelwaggons. Hanna mag diese Bauart lieber als jene Neuen, die man der ganzen Länge nach durchqueren kann und de­ren Schlangenbewegung bei der Kurvenfahrt zu sehen ist. Das ab­geschlossene Abteil gibt ihr ein Gefühl größerer Geborgenheit und Übersichtlichkeit.

An der Station „Friedrich-Wilhelm-Platz“ steigt ein Gitarrenspieler ein. Sein Spiel und Gesang sind hervorragend. Nach zwei Statio­nen, kurz vor Ein­fahrt in den Bahnhof, ist die musikalische Darbie­tung beendet. Be­vor der Zug anhält geht er mit einem Pappbecher durch das Abteil. Einige Fahrgäste spenden ein paar Münzen. Als er an Hanna vor­beigeht, zögert sie einen Moment lang. Sie hat sich fest vorgenom­men, keinem der Musiker oder Zeitungsverkäufer in der U-Bahn eine Spende zu geben, weil sie dann nicht wüsste, bei wem sie aufhören sollte. Sie ist erleichtert, als er das Abteil verlässt, um im nächsten weiter zu spielen.

Wie kommt es, dass jemand, der so virtuos ein Musikinstru-

ment beherrscht, hier in der U-Bahn für ein paar Cents spielt?“, wundert sie sich wieder einmal.

Obwohl nun einige Plätze frei geworden sind, zieht sie es vor, im hinteren Ausgangsbereich stehen zu blei­ben. Sie muss ohnehin bald aussteigen.

Hanna denkt an ihre Arbeit. Es bewegen sie gemischte Gefühle. Sie war sehr froh und stolz, als ihre Bewerbung bei der Berliner Polizei angenommen wurde. Eigentlich war es ihr Ziel, nach dem Abitur Jura zu studieren, um Richterin oder Staatsanwältin zu werden. Sie hätte aber eine ziemlich lange Wartezeit auf einen Studienplatz in Kauf nehmen müssen. So entschloss sie sich für eine Ausbildung bei der Polizei. Dann wollte sie sehen, ob und wie es mit einem Stu­dium an der Polizeiakademie weitergehen kann. Polizeiarbeit hatte sie schon immer interessiert, ein Faible, das niemand aus ihrer Fa­milie und ihren Freunden so richtig verstand.

Dann war es soweit. Sie wurde zu einer nervenraubenden Einstel­lungsprozedur eingeladen. Der Intelligenztest und die anderen schriftlichen Aufgaben waren für sie ein Kinderspiel. Nur im sportli­chen Teil der Prüfung wurde es eng, aber zum Schluss reichte es dann irgendwie doch. Dieses „Irgendwie-doch“ berührt in Hanna ein altes Problem und ruft die Frage hervor, die sie sich schon in der Schulzeit gestellt hat­te und auch heute noch stellt, nämlich, in wie­weit sich ihre Erfolge auf ihren Leistungen gründen und welche Rolle ihr Aussehen dabei spielt.

Tatsächlich ist Hanna eine außerordentlich attraktive Frau, zwei­undzwanzig Jahre alt, hochgewachsen, mit einer sehr weiblichen, wohlproportionierten Figur. Das schön geschnittene schmale Ge­sicht wird von vollem, brünettem Haar umrahmt. Die dunklen, leicht schräg gestellten mandelförmigen Augen, die zierliche Nase und der Mund mit seinen vollen, sanft geschwungenen Lippen geben ihr ein exotisches und erotisches Flair. Lachen, Stimme, Gang und Be­wegungen, alles passt harmonisch zusammen. Modell oder Stewar­dess würde eigentlich besser zu ihr passen, als Polizeibeamtin.

Es folgte der Umzug von Weißwasser nach Berlin mit einem schmerzlichen und tränenreichen Abschied. Sie musste viele Brü­cken hinter sich abbrechen. Da war ihr Freund Thomas, Tom ge­nannt, mit dem sie fast vier Jahre zusammen war und die ande­ren Freunde aus der Clique.

Die Trennung von Tom war allerdings längst überfällig. Aber Ge­wohnheit und die Angst vor dem Alleinsein ließen das Verhältnis weiter vor sich hindümpeln. Sie litt unter seiner Eifersucht, die in dem Maße wuchs, wie sie sich von ihm innerlich löste.

Besonders unerquicklich wurde das Verhältnis, als sie ein Jahr in England zur Schule ging. Sein ständiges Bombardement mit Vor­würfen und seine inquisitorischen Befragungen, warum sie ihn nicht anriefe oder schreibe, mit wem sie Kontakt und wo sie sich aufge­halten habe, ob sie und mit wem sie ausgegangen sei und was sie ge­rade tue, sowie seine Wochenendbesuche, die sie wie eine Gefan­gennahme erlebte, führte zu ihrem Entschluss, sich von ihm zu trennen.

Nach ihrer Rückkehr aus England aber brach dieser Vorsatz in sich zusammen, weil sie wieder in die alte Beziehungsroutine zurückfiel. Es galt für sie der Satz: Lieber bekanntes Elend, als unbekanntes Glück.

An ihrer Beziehung verbesserte sich nichts, im Gegenteil: Sein Kon­takt zu ihr wurde immer drängender, ständig wollte er mit ihr zusam­men sein, und er erstickte sie fast mit dem, was er Liebe nannte. Ihr wurde nun klar, dass es sich mehr um Besitzanspruch und Be­sit­zerstolz handelte. Sie fühlte sich wie sein Maskottchen.

Mit ihrem blendenden Aussehen stellte sie wohl einen wichtigen Stützpfeiler seines Selbstwertgefühles dar. Wieso hatte sie das nicht früher bemerkt? Aber was hätte es geändert? Später bewegte sie oft die Frage, ob ihre Bewerbung bei der Berli­ner Polizei nicht auch einen Weg aus der klebrigen Zweisamkeit darstellte, der für beide einigermaßen gangbar war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er eine Trennung mit der einzigen Begrün­dung hingenommen hätte, dass sie ihn nicht mehr liebte. Eine zer­mürbende Belagerung und ein Wechselbad zwischen jämmerlichem Flehen und aggressiver Beschimpfung, vielleicht sogar Tätlichkei­ten, wären die Folge gewesen. Mit ihrem Wegzug konnte er sein Gesicht wahren. Nicht er wurde verlassen, sondern die Umstände waren es, die sie beide auseinanderbrachten.

Dennoch tat auch ihr die Trennung weh. Sich von all dem Gewohn­ten und lieb Gewonnenen zu verabschieden, war nicht einfach. Und es machte ihr Angst, was in diesem riesigen Berlin und in der Ausbildung auf sie zukommen würde. Einziger Bezugspunkt in der neuen Welt Berlins war ihre Tante Kornelia, die sich als Anlaufstelle erbot und die sie bei der Regelung vieler Angele­genheiten unterstützte.

Tom hatte ihr dann bei der Einrichtung der kleinen Wohnung in Frie­denau geholfen, besuchte sie, so oft er konnte und versprach jedes Mal, sich energisch um eine Arbeit in Berlin zu bemühen. Immer be­teuerte er, viel unternommen zu haben, aber es sei nichts dabei he­raus­gekommen. Es könne also nicht an ihm gelegen haben. Das war typisch: Nie übernahm er Verantwortung für irgendetwas. Stets waren es die Umstände oder andere Personen, die seine hehren Absichten durchkreuzten. Diese Haltung bildete schon immer eine Sollbruchstelle in ihrer Beziehung. Hanna ist überzeugt, dass er so aus solchen Erfahrungen nichts lernen wird.

Aber will er das überhaupt? Er träumt von einer Profikarriere als Eishockeyspieler. Dieser Traum bindet ihn an seinen Klub und hin­dert ihn, andere Entwicklungsmöglichkeiten ernsthaft zu verfolgen. Während der ersten Zeit in Berlin hatte sie noch mit ihm geschlafen. Entstanden waren solche Situationen aus einem Gefühlsgemenge von Mitleid, Dankbarkeit, Reminiszenz und dem eigenen Wunsch nach Nähe. Lust spielte für sie dabei die geringste Rolle. Es war mehr Pflicht als Kür. Dann hatte sie ihm gesagt, dass sie das nicht mehr möchte und ihn eindringlich gebeten, seine Besuche einzu­stellen. Erst war er wü­tend, vermutete eine Liaison mit einem ande­ren, dann verfiel er in Traurigkeit, traktierte sie mit E-Mails und Tele­fonaten, auf die sie immer ärgerlicher und schroffer reagierte. Nach einem Monat konsequenter Rückweisung all seiner Kontakt­bemühungen trat Ruhe ein.

Wenn Hanna heute gelegentlich ihre Eltern besucht, dabei auch Tom und die andere Freude trifft, fühlt sie sich als Fremde und ein wenig als Verräterin. Und so behandelt man sie auch. Tom erzählte ihr von seiner neuen Freundin aus Görlitz, selbstver­ständlich eine Schönheit, mit wohlhabenden Eltern, Eishockey begeistert, die seine Sportkarriere fördern wollen. Allerdings hat die­ses Prachtexemplar von Frau noch niemand zu Gesicht bekommen. Tom tut ihr leid.

* * *

Ihre Gedanken kehren in die Gegenwart zurück. Da ist Jens Beh­rend, ihr Anleiter in der Praxisphase, die sie derzeit durchläuft. Seit drei Wochen hospitiert sie in einer Direktionsdienststelle der Fahn­dungs-, Aufklärungs- und Observationseinheit Charlottenburg.

Jens ist ein ausgeglichener Mann, Anfang dreißig, groß gewachsen, mit einer sportlich durchtrainierten Figur. Sein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und den wachen, strahlend blauen Augen ist nicht im eigentlichen Sinne ebenmäßig schön, sondern männ­lich-markant. Über seine Stirn verläuft eine schmale Narbe, die vom linken Haaransatz bis zur Nasenwurzel reicht. Das kurz geschnitte­ne mittelblonde Haar mit vielen Wirbeln wächst in alle Richtungen und ist kaum in Fasson zu bringen. Die etwas schiefe Nase, der schmallippige Mund und das kräftige Kinn verleihen seinem Gesicht einen ruppigen Eindruck. Seine Sprache ist klar und präzise. Sie verrät, dass er aus dem Hamburger Raum stammt. Er gilt als zu­verlässig, gradlinig und als ein ausgezeichneter Schütze. Bei den Kollegen genießt er Respekt und Anerkennung. Gern übernimmt er die Anleitung von Polizeischülern, zu denen er ein freundschaftli­ches und kollegiales Verhältnis entwickelt. Hanna ist ein Sonderfall. Sie hat in ihm Unruhe ausgelöst, denn gleich bei ihrer ersten Be­gegnung hat er sich bis über beide Ohren in sie verliebt. Möglicherweise hat er es sich noch nicht eingestanden, aber sein Verhalten spricht eine eindeutige Sprache.

So sehr Hanna sich einerseits durch seine Aufmerksamkeiten ge­schmeichelt fühlt, so unangenehm sind sie ihr andererseits. Sie fühlt sich bedrängt, kann nicht mehr spontan reagieren, um in ihm nicht falsche Hoffnungen zu wecken oder ihn, wie letzthin, vor den Kopf zu stoßen.

Nach einer gelungenen Polizeiaktion hatte sie ihn voller Freude und Erleichterung umarmt, worauf er sie im Arm zu halten und zu küs­sen versuchte. Sie hat sich erschreckt befreit und er stand da, wie ein begossener Pudel. Seitdem gehen beide sehr vorsichtig mitein­ander um - es wird fast nur noch Dienstliches besprochen. Seine sehnsuchtsvollen und liebevollen Blicke aber treffen und beunruhi­gen sie nach wie vor. Sie will auf seine Werbung nicht eingehen. Nicht, weil sie Jens nicht mag - ganz im Gegenteil, sie mag ihn sehr, vielleicht sogar ein bisschen zu sehr - sondern weil sie keine Beziehung im Dienst anfangen möchte. Außerdem ist er verheiratet und Vater eines sieben Monate alten Sohnes.

Es liegt ihr schon viel an seiner Anerkennung, aber die will sie als Polizistin gewinnen, nicht als Frau.

Diese Situation ist schwierig und macht sie fast bewegungsunfähig. In einer ruhigen Minute will sie mit ihm offen darüber sprechen.

Auch bei anderen, den Kommilitonen, Dozenten und Vorgesetzten spürte sie von Anfang an teils bewundernde, teils skeptische und auch ablehnende Blicke. Sie schnappte Bemerkungen auf, die be­sagten, dass man nun schon Mannequins in den Polizeidienst auf­nehmen würde.

Es kränkt sie, wenn die Bewertung ihrer Persönlichkeit nur auf das Äußerliche beschränkt wird. Denn wenn man mit ihr spricht, be­merkt man Willenskraft und Zielstrebigkeit, eingebettet in freundli­che Zuwendung.

Um sich die Bewerber vom Hals zu halten, hat sie überall durchbli­cken lassen, dass sie mit jemandem aus ihrer Heimatstadt fest zu­sammen ist. Diese Notlüge brachte keinerlei Nutzen; ihre Verehrer wurde sie dadurch nicht los.

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