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Marseille, Montag, 16. Mai

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Jerômes erster Weg am nächsten Tag führt ihn in die Rue du Com­missaire-Becker zur Direktion der Marseiller Kriminalpolizei. Die Fir­ma hatte ihn dort bereits avisiert.

Zwei Kommissare lassen sich ausführlich die Ereignisse in Gabun, das Aussehen des Täters und die anschließenden dortigen Fahn­dungs­maßnahmen schildern. Wie schon bei der Polizei in Gabun bleibt er auch hier bei der Täterbeschreibung vage. Es folgen Fra­gen nach Gefährlichkeit, Wirkung und Transport von Thrombotoxin, den Herstellungsprotokollen und Sicherheitsfragen bezüglich seiner Familie.

Nach der Vernehmung entsteht mithilfe seiner eher ungenauen An­gaben ein Phantombild vom Täter. Jerôme wird abschließend ge­beten, für weitere Fragen zur Verfügung zu stehen, worauf hin er erklärt, dass er untertauchen müsse, aber in dringenden Fällen über den Vorstandsvorsitzenden Maurice Trouvaille zu erreichen sei.

Nach zweieinhalb Stunden verlässt er das Direktionsgebäude und besucht Lucien Roux in der Rue Esperandieu.

Dessen altes Haus, eingequetscht zwischen zwei Wohnhäuser neueren Baujahrs, ist aufgeteilt in ein Ladengeschäft im Parterre und eine danebenliegende Wohnung. Im Ersten Stock befinden sich zwei kleinere Räume, einer davon dient als Schlafzimmer, der an­dere als Büro. Im Dachgeschoss ist ein kleines Gästezimmer mit Toilette. Im Keller hat Lucien sich eine Werkstatt eingerichtet, dane­ben ein kleiner Weinkeller und ein Lagerraum. Hinter dem Haus er­streckt sich ein kleiner Garten. Eine große Platane spendet einem Großteil des Gartens Schatten. Der Laden gilt als Geheimtipp für neuste elektronische Geräte, spe­ziell Sicherheitsanlagen. Lucien gilt als ausge­wiesener Elektronik­fachmann, der stets auf dem neuesten Stand der Technik ist.

Er ist hochgewachsen, sein Körper muskulös und durchtrainiert. Er besitzt ein markantes, sehr männliches Gesicht mit dunklem Teint, das einen Hauch von Verwegenheit ausstrahlt. Seine hellwachen blauen Augen stehen farblich im Kontrast zum Teint. Das wellige, schwarze, wild wuchernde Haar hat er dadurch gebändigt, dass er es straff zu einem Pferdeschwanz gebunden hat. Obwohl erst acht­unddreißig Jahre alt, zeigen sich bereits an den Schläfen graue Haarsträhnen. Auf den ersten Blick wirkt Lucien wie ein Schönling mit der Tendenz zum Fitnesstrainer oder Fotomodell. Erst wenn er geht, wird sein Handicap sichtbar: Lucien zieht das linke Bein nach - die Folge eines zu spät operierten Bandscheibenvorfalls.

Kennt man ihn näher - und Jerôme kennt ihn seit zwei Jahren - dann bemerkt man, wie gebildet und belesen er ist, staunt über sein breites Wissen und den scharfen analytischen Verstand. Ebenso eindrucksvoll ist sein ironischer Sprachwitz, in dem eine ungewöhn­lich kritische Distanz und Gelassenheit den Ereignissen der Zeit ge­genüber deutlich wird. Hinzu kommt ein herzliches Lachen, eine große Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, die es jedem leichtmacht, persönlichen Kontakt zu ihm herzustellen und zu erhalten.

Das erste Mal suchte ihn Jerôme wegen eines Computerproblems auf. Jemand hatte ihm das Geschäft empfohlen. Das Problem war in Kürze gelöst und zu seinem Erstaunen wurde er in das liebevoll bepflanzte Gärtchen im Hinterhof zu einem Glas Wein eingeladen. Das war keine kalkulierte Aktion zur Kundenbindung, sondern Jerô­me spürte sofort das Bedürfnis und die Freude Luciens, mit inter­essanten Menschen Kontakt zu haben. So saßen sie im Schatten der Platane und genossen beim Gespräch einen vorzüglichen Château Calissanne. Seine Besuche wiederholten sich, auch wenn es keine akuten tech­ni­schen Probleme gab. Das führte immer zu einem Schwätz­chen, bei dem sich beide über ihre persönliche und berufliche Ent­wicklung austauschten. Auf diesem Weg entstand schließlich eine echte Freundschaft. Lucien hatte sich gleich nach dem Studium der Elektrotechnik für zwölf Jahre beim Militär verpflichtet. Bald nach der Grund- und einer Spezialausbildung, die er wegen seiner sportlichen Fähigkeiten er­folgreich durchlaufen hatte, wurde er einer speziellen Kampfeinheit zur Terrorbekämpfung zugewiesen. Nachdem er einen Vorgesetz­ten verprügelt hatte, weil dieser die Gruppe und ihn bei einem Aus­landseinsatz leichtfertig in Gefahr gebracht hatte, wurde er zur Sécurité Extérieure, dem französischen Geheimdienst, versetzt. Maß­geblich dafür waren seine Kampferfahrungen im Ausland, die guten arabischen und englischen Sprachkenntnisse, die er erworben hatte sowie seine Spezialisierung im Bereich der Elektronik und Kommu­nikationstechnik. Hier verbrachte er die letzten fünf Jahre seiner Vertragszeit bei einer vergleichsweise langweiligen Arbeit. Als er den Abschied, nahm fühlte er sich befreit, als wäre er aus dem Ge­fäng­nis entlassen worden.

So beschloss er, nie wieder in einer hierarchischen Struktur zu ar­beiten und setzte alle Energie für den Aufbau seines kleinen Laden­geschäfts ein, das er seit viereinhalb Jahren betrieb. Es bedeutete für ihn Freiheit und Selbstständigkeit, trotz intensiverer Arbeit. Da­bei war er sehr darauf bedacht, jede finanzielle Unterstützung durch seine wohlhabende Winzerfamilie zu vermeiden. Diese war bisher zu keinem Zeitpunkt notwendig. Er brachte aber die von der Familie produzierten, hervorragenden Weine in sein Geschäft mit ein, die man beim ihm verkosten und erwerben konnte. Deren Qualität zu­sammen mit Luciens anregenden Gesprächen und seinen fundier­ten Kenntnissen über die Weine der Provence, lassen Besuche bei ihm zu einer höchst angenehmen Begegnung werden.

* * *

Immer wenn Jerôme aus Gabun zurückkehrt, freut er sich auf den Besuch bei Lucien. So auch diesmal, allerdings kommt er heute mit einem wichtigen Anliegen zu ihm. Er sucht Rat. Beide sitzen nun bei einem Glas Wein im Garten. Lucien berichtet ausführlich über die Ereignisse und über seine Absicht, den Killer selbst zur Strecke zu bringen und ihm dazu eine Falle zu stellen. Lucien hört ihm aufmerksam zu, stellt nur einige Verständnisfragen. Als Jerôme geendet hat, warnt er ihn vor Alleingängen und meint, Jerôme solle doch die Polizei einschalten. Der lehnt das entschie­den ab. Er habe nicht genügend Vertrauen zu offiziellen Stellen. Lucien spürt, dass er ihn nicht überzeugen kann. Lucien gibt sich geschlagen und säufst „Eh bien, dann muss es auf eine andere Art gehen“, nun entschlossen fügt er hinzu, „aber dazu brauchst du meine Hilfe, allein ist das nicht zu schaffen.“ Jerôme protestiert, dass er so etwas nicht von ihm verlangen könne. Mit einer wegwerfenden Geste wischt Lucien den Einwand weg und entgegnet:

„Mann lass’ stecken, ich weiß schon was ich tue. Wir sollten besser überlegen, wie wir den Killer fertigmachen können. Deine Idee mit der Falle gefällt mir.“ Schließlich ist man sich darüber einig, wie das geschehen soll.

Sehr schnell wird Jerôme dabei klar, dass Lucien ihm mehr als nur seine technische Hilfe anbieten möchte. Er scheint sich zu freuen, an der Bewältigung dieser schwierigen Situation beteiligt zu werden und fühlt sich wohl zurückversetzt in die spannende Zeit beim Mili­tär. Jerôme ist erleichtert, denn eine Unterstützung kann er wirklich gebrauchen.

Lucien lässt sich den Grundriss der Wohnung von Jerôme genau aufzeichnen und verspricht, morgen am Dienstag mit der notwendi­gen Aus­rüstung zu ihm zu kommen. Er habe noch etwas Material zu be­schaffen und müsse seinen Helfer bitten, ihm zur Verfügung zu stehen. Und dann ergänzt er in einem Ton, der kei­nen Wider­spruch zulässt:

„Wenn wir unsere Installationen morgen abgeschlossen haben und du am Mittwoch an der Sitzung in deiner Firma teilgenommen hast, dann pack’ einige Sachen zusammen, du wirst bei mir wohnen. Das dient deiner Sicherheit, und außerdem können wir uns bei der Über­wachung unterstützen.“

Jerôme will erst aus Höflichkeit ablehnen. Ihm ist aber klar, dass er dieses großzügige Angebot vernünftigerweise nicht ablehnen kann, und so nimmt er es dankend an. Zum Abschluss überreicht Lucien ihm zwei Handys und einige Prepaid-Karten. Das erste Handy ist ausschließlich für normale Gespräche zu verwenden, das zweite dient als Sicherheits-handy. Mit diesem soll er nur seine Frau, Trou­vaille oder ihn anrufen, beziehungsweise sich von ihnen anru­fen lassen.

* * *

Auf dem Weg von Lucien nach Hause - zu Fuß benötigt er etwa zehn Minuten - sucht sich Jerôme einen ruhigen, schattigen Platz und sendet seiner Frau eine SMS vom neuen Sicherheitshandy. Kurze Zeit danach ruft sie zurück. Sie ist erleichtert, von ihm zu hören und dass es ihm gut geht. Sie und die Kinder haben liebevolle Aufnahme gefunden. Die Mädchen sind ganz verrückt nach der kleinen Stefanie und toben den ganzen Tag mit Benni herum. Den Gastgebern hat sie nichts über den wah­ren Grund ihres Besuches gesagt. Jerôme lobt, wie gut sie die „Streichholzsicherung“ angebracht und die Wohnung „gesäubert“ hat.

„Jerôme, ich bin so in Sorge, dass dir etwas passiert und bin nicht sicher, ob ich auch alles weggeräumt habe, es musste ja alles so schnell gehen.“

„Mach’ dir keine Sorgen, das war ja nur für den äußerst unwahr­scheinlichen Fall notwendig, dass er schon vor meiner Ankunft auf­taucht, ich habe alles noch einmal überprüft, es ist in Ordnung."

Jerôme wechselt schnell das Thema und fragt:

„Wohin hast du eigentlich die Unterlagen gebracht?“

„Mir hat ein Pfleger geholfen. Der war mir noch etwas schuldig, weil ich ihn vor einiger Zeit aus einer üblen Drogensache herausgeholt habe. Die beiden Umzugskisten mit allen wichtigen Papieren sind für eine Weile in seinem Keller eingelagert. Er hat sie spät abends mit seinem Wagen bei uns abgeholt und auch nicht nach dem Grund für diese Aktion gefragt. Jetzt wird er glauben, dass wir uns trennen“, Jacqueline lacht kurz und sagt bitter, „im Grunde hat er damit sogar recht.“ Sie spricht nicht weiter und Jerôme spürt, wie sie mit den Tränen kämpft. Um sie wieder zum Sprechen zu bewegen, fragt er: „Sag‘ mir noch Jacqueline, wo hast du unseren Wagen abgestellt?“ Sie scheint sich wieder gefangen zu haben und antwortet mit fester Stimme, dass der Wagen auf dem Dauerparkplatz des Flughafens stehe.

„Benötigst du ihn? Die Parkplatznummer ist 74, und das Ticket fin­dest du unter der rechten vorderen Fußmatte.“

„Danke, sehr schön. Aber ich glaube nicht, dass ich ihn in der nächsten Zeit nutzen werde.“

“Wann sehe ich dich wieder?“, fragt sie leise flehend.

„Ich weiß es wirklich noch nicht. Es ist noch einiges zu tun. Ich habe einen sehr erfahrenen Mitstreiter, mit ihm kann die Angelegenheit schnell zu Ende gebracht werden. Mach’ dir also keine Gedanken, ich habe alles sorgfältig durchdacht. Mein Plan wird funktionieren.“ Ein Seufzer am anderen Ende der Leitung macht ihm jedoch klar, dass Sorge und Skepsis weiterhin bestehen. Diese Gefühle kann er ihr nicht nehmen. Sie verabschieden sich zärtlich, und er verspricht, am Abend wieder anzurufen.

Der nächste Weg führt ihn zu seiner Bank. Er hebt eine große Sum­me von seinem Konto ab, lässt sich eine neue Bankkarte ausstellen und bittet darum, dass man ihn bei Fragen nach seiner Ehefrau oder seiner Person unbedingt anrufen möge. Dazu hinterlässt er die Nummer des normalen Handys.

Giftgas

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