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Berlin, Mittwoch, 18. Mai
ОглавлениеJean Moussard ist außer Atem und schwitzt stark, als er nach einem Dauerlauf über die Zugangstreppen der U-Bahn auf dem Hardenbergplatz ankommt. Zunächst sucht er einen geeigneten Standort, um von der jungen Frau - falls sie ihn verfolgt - nicht entdeckt zu werden. Dazu wählt er den Imbissstand auf der gegenüberliegenden Seite des Bahnhofplatzes. Er stellt sich etwas abseits der Leute, die am Stand ihr Essen einnehmen. Mit seinem Hut fächelt er sich Luft zu. Jetzt sieht man sein dunkles mittellanges Haar mit den ergrauten Schläfen. Der Hut hat eine kleine Welle hinterlassen, die den behaarten Teil des Kopfes in einer Ebene umläuft. Damit entsteht eine etwas alberne, fragezeichenförmige Haarform, die nicht zu seinem langen, schmalen Gesicht mit dem ernsten, unbewegten Gesichtsausdruck passt.
Von seiner Position aus kann er die junge Frau gut fotografieren, sollte sie an einem der beiden Bahnhofsausgänge auftauchen. Allerdings verfügt der U-Bahnhof noch über weitere Ausgänge. Deshalb rechnet er sich keine allzu große Chance aus.
„Dass mir auch noch dieser Scheiß passieren muss! Zuerst die Panne in Gabun, dann beklauen mich noch zwei Kinder und schließlich wäre ich beinahe einer jungen Polizistin in die Hände gefallen“, denkt er wütend, „ich habe einfach überreagiert. Warum habe ich nicht die Geldtasche von der jungen Frau in Ruhe und mit Dank entgegengenommen. Da wäre nichts geschehen. Stattdessen renne ich, weil sie Polizistin ist, davon und mache mich verdächtig.“ Dann versucht er sich vor sich selbst zu rechtfertigen, dass er es nicht riskieren konnte, identifiziert zu werden, vielleicht noch als Zeuge herhalten zu müssen. Dann wäre womöglich der Inhalt seines Koffers in die Hände der Polizei gelangt. Gleichzeitig wird ihm aber klar, dass diese Argumente vorgeschoben und nicht tragfähig sind. Er erkennt, dass durch diesen Auftrag, der von Beginn an schiefgelaufen ist, und durch die Folgeereignisse in Gabun seine bisherige Souveränität als Profi zu bröckeln beginnt. Ein sicheres Anzeichen dafür ist dieses unprofessionelle, panische Fluchtverhalten.
Er versucht nun, sich über die Konsequenzen aus dem Ereignis klar zu werden und überlegt:
„Der Verlust des Geldes stört mich am wenigsten, viel bedenklicher ist, dass mich die Polizistin gesehen hat und beschreiben kann. Wenn sie das Geld nicht behält, sondern in ihrer Dienststelle abgibt, wird man es möglicherweise auf Echtheit prüfen. Die Untersuchung wird zeigen, dass die Scheine nicht gefälscht sind. Deshalb wird man fragen, warum ich abgehauen bin und was ich wirklich vorhabe. Das kann mich in Schwierigkeiten bringen. Ich muss deshalb zunächst herausfinden, was die Polizistin mit dem Geld anstellt.“
Wie ein Blitz trifft ihn die Erkenntnis, dass er auf der Geldtasche und auf einigen Geldscheinen Fingerspuren hinterlassen hat. Das schürt seine Besorgnis noch weiter.
Vor seinem geistigen Auge erscheint nun sein Auftraggeber: „Der Zwerg im Mao-Look wird vor Ärger im Sechseck springen. Die unvollständige Lieferung und die Sache auf dem U-Bahnhof. Das gibt Probleme.“
Jean Moussard wählt eine Telefonnummer. Eine tiefe männliche Stimme meldet sich mit einem lakonischen „Ja?“. Moussard nennt seinen Namen. Dann ist ein Moment lang nichts zu hören. Offensichtlich wird das Telefon weitergereicht, und eine quäkende Stimme schnauzt auf Französisch, was los sei:
Moussard erklärt, wo er sich gerade befindet und berichtet, was vorgefallen ist. Sein Gesprächspartner reagiert erwartungsgemäß. Er kreischt wütend in flüssigem Französisch mit starkem Akzent:
„Meine Güte, bei Ihnen geht ja wirklich alles schief. Sie sind ein Versager!“ Dann, etwas ruhiger, befiehlt die Stimme, die Polizistin, wenn sie auftaucht, nicht aus den Augen zu lassen. „Sollten Sie sie ausfindig gemacht haben, dann rufen Sie mich sofort an und behalten Sie sie im Auge. Ich schicke eine Ablösung. Bleiben Sie am Apparat.“ Kurz darauf erhält Moussard folgende Instruktion:
„Hören Sie, die Person, die die Beschattung übernehmen wird, werden Sie nicht zu sehen bekommen. Sie erhalten von ihr einen Anruf und werden ihr über eine SMS mitteilen, wo sich die Polizistin zu dem Zeitpunkt aufhält. Die Person versteht französisch. Sie selbst bleiben auf jeden Fall unsichtbar, äh …“, es entsteht eine Pause, und die Stimme fragt, „können Sie mit Ihrem Handy die Polizistin fotografieren?“
„Kein Problem, ich habe eine sehr leistungsfähige Kamera dabei, mit der ich sehr gute Aufnahmen aus größerer Entfernung machen kann. Die Bilder kann ich per Funk versenden, aber ob ich dazu …“ Hier wird er unterbrochen.
„Geben Sie sich Mühe, die Frau aufzutreiben, schießen Sie ein paar Bilder und senden Sie diese auf das Handy Ihrer Kontaktperson. Danach kommen Sie zum Treffpunkt“. Ohne auf eine Antwort zu warten, wird das Gespräch beendet.
Moussard entfernt die Kette an seinem Armgelenk und entsperrt die Zahlenschlösser seines Diplomatenkoffers. Als er ihn öffnet, fällt sein Blick auf den Aluminiumbehälter, den er heute liefern wird. Ein kurzes Schaudern erfasst ihn. Er entnimmt dem Koffer eine hochwertige Digitalkamera mit einem „Wireless Transmitter“, einem Zusatzgerät, mit dem die Fotos direkt auf ein Handy oder an eine E-Mail-Adresse gesendet werden können. Dann setzt er das Teleobjektiv auf.
„Wenn es mir gelingt, Aufnahmen von ihr zu machen, wird man sie identifizieren und sich um sie kümmern. Wäre wirklich schade um das hübsche Kind. Aber wenn sie klug ist, dann behält sie das Geld, und alles ist gut.“
* * *
Es sind knapp zehn Minuten seit dem Vorfall vergangen, als die junge Frau auftaucht. Er schaut durch den Sucher und zoomt sie heran. Leider kann er ihr Gesicht nur im Profil aufnehmen, da sie sich von ihm wegbewegt.
„Mann, hat die ein tolle Figur, und hübsch scheint sie auch noch zu sein. Kaum zu glauben, dass so jemand zur Polizei geht“, denkt er voller Bewunderung. Auf dem Bahnsteig hat er sie nur flüchtig wahrgenommen. Er schießt eine Serie von Aufnahmen und als er erkennt, dass sie der Polizeistation zustrebt, flucht er in Gedanken.
„Merde, die bringt das Geld tatsächlich zu den Bullen, so was Dämliches, soll sie doch die Kohle behalten! Jetzt wird die Situation richtig kompliziert, und ich muss auch noch dieses hübsche Kind mundtot machen.“ Er verfolgt die Frau weiter mit dem Teleobjektiv. Als sie sich vor Betreten des Gebäudes kurz umschaut und dabei auch in seine Richtung blickt, gelingt es Moussard, ihr ganzes Gesicht aufzunehmen. Dann ist sie verschwunden.
Kurz darauf vibriert sein Handy und eine Rufnummer wird übermittelt. Er teilt in einer SMS mit, wo sich die Zielperson im Moment befindet und versendet die besten Bilder von der Polizistin. Umgehend erhält er eine Empfangsbestätigung.
* * *
Sofort nach dem Anruf von ihrem Chef Schmidt macht sich Lydia Pisenka auf den Weg, lässt in der Pension alles stehen und liegen. Diesmal lautet der Auftrag, eine junge Polizistin zu beschatten, herauszufinden, wo die Frau wohnt und ihre näheren Lebensumstände zu erkunden.
Sie solle sich sofort auf den Weg zum Bahnhof „Zoo“ machen, es sei sehr eilig. Er gibt ihr eine Handynummer durch und befiehlt, diese schon auf dem Weg dorthin anzurufen. Man werde ihr daraufhin Informationen über den aktuellen Aufenthalt der Zielperson und wahrscheinlich auch Fotos übersenden.
Teilte man ihr jedoch mit, dass man die Frau aus dem Auge verloren habe, solle sie ihn zurückrufen und auf neue Anweisungen warten. Mit der U-Bahn benötigt Lydia für Weg-, Warte- und Fahrzeit etwa zwanzig Minuten. Alles verläuft so, wie angekündigt. Sie erhält umgehend eine SMS-Mitteilung, nachdem sie während der Fahrt die Nummer angerufen hat. Die Zielperson befinde sich in der Polizeiwache am Bahnhof. Dann folgen ein paar Bilder einer hübschen jungen Frau. Mit Wehmut betrachtet sie die Bilder und denkt dabei an ihre eigene Jugend in der damaligen Tschechoslowakei. Auch sie war einmal ein sehr schönes Mädchen. Sechsundvierzig Lebensjahre haben deutliche Spuren in ihr Gesicht gezeichnet. Ihr damaliges Aussehen und ihre sprachlichen Fähigkeiten hatten ihr viele Türen geöffnet. So war sie zum Geheimdienst gekommen und wurde nach einiger Zeit der Bewährung im westlichen Ausland eingesetzt. In den letzten Jahren lebte sie als Residentin in Westberlin, getarnt als Besitzerin einer kleinen Pension. Von hier aus hatte sie zwei Agenten geführt. Mit ihrem eigenen Führungsoffizier war ein intensives Liebesverhältnis entstanden, aus dem die Tochter Sonja und der jüngere Sohn Marek hervorgingen. Was ihr Äußeres anbetrifft, kann Sonja mit diesem Mädchen durchaus mithalten.
Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems führte sie die Pension mit eigenen Mitteln weiter. Ihr Liebhaber und Vater ihrer Kinder war plötzlich verschwunden und blieb es auch. Sie lebte einige Jahre unbehelligt. Es gab keine Nachfragen, weder von tschechischer noch von deutscher Seite. Niemand kümmerte sich um sie. Dann aber stand eines Tages ein dunkler Wagen vor ihrer Pension. Ein Mann hatte sie gebeten, zum Wagen zu kommen. Jemand wolle sie sprechen. Im Wagen saß dieser schreckliche Zwerg namens Schmidt. Der machte ihr unmissverständlich klar, dass sie ab sofort für ihn und seine Organisation zu arbeiten habe, wollte sie vermeiden, dass er alle Informationen über sie an die deutsche und tschechische Staatsanwaltschaft gebe. Und dass er nicht bluffte, erkannte sie an dem Bündel Originalakten, in denen ihre unschönen Taten exakt festgehalten waren. Dem Druck hatte sie sich fügen müssen. Mittlerweile sind ihre Straftaten aber verjährt. Seither übernimmt sie kleinere, unspektakuläre Überwachungsaufträge für Schmidt. Oft werden Personen in ihrer Pension einquartiert. Einige müssen ihren Meldezettel nicht ausfüllen, andere werden in den Zimmern untergebracht, die mit Überwachungstechnik ausgestattet sind. Für solche Dienste wird sie pünktlich und gut bezahlt.
* * *
Das Amtszimmer der Polizeiwache ist angenehm kühl. Die beiden diensthabenden Beamten sind von Hannas Erscheinung angetan und lächeln sie freundlich an. Wobei man ihr helfen könne, fragt der Ältere der beiden.
Hanna zeigt ihren Dienstausweis und sagt, dass sie eine Straftat zu Protokoll geben und den sichergestellten Gegenstand abgeben möchte. Das Lächeln des Älteren schmilzt ein wenig dahin. Das riecht nach Arbeit und vielleicht auch nach Komplikationen. Er bittet seinen jüngeren Kollegen, sich um Hanna zu kümmern, was dieser auch sehr gern zu tun bereit ist. Er geleitet Hanna hinter den Tresen zu einer Nische, die durch eine Stellwand vom übrigen Raum abgeteilt ist. Beide nehmen dort am Schreibtisch Platz. Hanna gibt langsam und genau wieder, was sich zugetragen hat. Der Kollege tippt die Anzeige in den Rechner und fragt manchmal nach. Hanna bemüht sich, so detailliert wie möglich die Kinder und den Mann zu beschreiben. Der Beamte hängt an ihren Lippen, wobei seine Faszination mehr der Sprecherin, als dem Inhalt ihres Berichts gilt. Als sie erwähnt, dass Kinder und Mann verschwunden sind, spürt sie, dass das Interesse am Fall erloschen ist und in ihm die Frage aufkommt, warum sie diese Geschichte überhaupt berichtet.
Sie spürt seinen Zweifel und entnimmt nun mit einem Taschentuch vorsichtig das Portemonnaie aus ihrer Tasche, legt es auf die Tischplatte und bittet ihn, einen Blick auf den Inhalt zu werfen, ohne ihn zu berühren. Hanna öffnet Tuch den Verschluß mit ihrem und beide Hälften der Brieftasche klappen auseinander. Sie zieht das Geldscheinbündel ein Stück heraus, sodass der Wert der Scheine sichtbar wird. Der Gesichtsausdruck und ein Pfiff durch die Zähne des zeigt blankes Erstaunen des Beamten. Wortlos starrt er auf das, was vor ihm liegt. Dann hat er die Bedeutung begriffen, und sein Erstaunen wird zu Verständnislosigkeit. Hanna glaubt, seine Gedanken lesen zu können:
„Mensch, wie kann man nur so blöd sein, unter diesen Umständen das viele Geld abzugeben. Hier haben wir ja eine zweihundertprozentige Kollegin.“ Und um dies auch seinem Kollegen mitzuteilen, ruft er:
„Klaus, komm’ doch mal!“ Der so Gerufene erscheint kurz darauf, stellt sich lässig mit beiden Händen in den Taschen vor den Bildschirm neben seinen Kollegen und beginnt den Text auf den Bildschirm zu überfliegen. Sein Kollege unterbricht ihn ungeduldig.
„Lass’ mal den Bericht und schau‘ dir an, was unsere junge Kollegin mitgebracht hat.“ Er zeigt mit der dem Finger auf die Brieftasche mit dem Bündel Geld darin und erklärt:
„Das sind mehr als zehn Kilo, die zwei Kinder einem Mann im Zug geklaut haben. Unsere Kollegin hat den Dieben das Geld zwar abgenommen, aber die sind entwischt. Und jetzt kommt es …“, er macht eine Pause, mit der er die Spannung erhöhen will, weil der ältere Kollege auch jetzt nicht besonders interessiert zu sein scheint, und er fährt mit Nachdruck fort, „stell‘ dir vor, diesen Batzen Geld hat der Bestohlene verschmäht, als ihm unsere Kollegin die Geldtasche zurückgeben wollte. Aus unerfindlichen Gründen hat er sich blitzschnell aus dem Staub gemacht.“ Beide tauschen vielsagende Blicke aus und grinsen.
„Das ist ja eine merkwürdige Geschichte, man wird den Beklauten wohl nicht ausfindig machen und somit marschiert jetzt alles Geld in die Asservatenkammer, eigentlich schade, nicht wahr?“, kommentiert der Ältere. Der Andere hebt resigniert die Schultern und murmelt süffisant:
„Ja, ehrlich währt am längsten.“ Hanna hat sehr wohl verstanden was ihre Kollegen damit sagen wollen. Sie ist ärgerlich über deren Borniertheit. Ohne sich den Ärger anmerken zu lassen, gibt sie zu bedenken:
„Liebe Kollegen, es ist doch immerhin möglich, dass wir es mit Falschgeld zu tun haben, was hätte Unehrlichkeit da für einen Sinn?“ Dabei strahlt sie beide freundlich lächelnd an und fügt hinzu, „auf jeden Fall muss diese Möglichkeit geklärt werden.“ Die beiden Polizisten reagieren betroffen und nicken nun beflissen. „Ja klar, das ist wohl wahr! Das muss unbedingt untersucht werden“, antwortet der Ältere und fährt mit zwei Fingern über die Nase, sodass die Hand seinen Mund verdeckt. Hanna ist nicht klar, ob seine Bemerkung ironisch gemeint ist, er sie weiter auf den Arm nimmt, oder ob es ihm damit ernst ist. Jedenfalls scheint für ihn die Angelegenheit beendet zu sein. „So, dann macht mal weiter“, fordert er die beiden auf und wendet sich von ihnen ab. Er schaut beim Weggehen nochmals auf den Bildschirm stutzt und fragt:
„Sag’ mal Kollegin, wo genau hat sich der Diebstahl abgespielt?“ „Na, hier auf dem Bahnhof ‚Zoo’, das sagte ich doch schon.“
„Auf dem U- oder auf dem S-Bahnhof?“, fragt er weiter.
„Na, auf dem U-Bahnhof, warum?“ Hanna ist irritiert.
„Liebste Kollegin, das hattet ihr wohl noch nicht in eurer Ausbildung“, sagt der Ältere herablassend. Hanna versteht nicht, worauf er hinauswill und schaut ihn unsicher an.
„Du bist hier bei der Bundespolizei. Die U-Bahn gehört nicht in unsere Zuständigkeit. Das müsstest du doch eigentlich wissen.“ Im gleichen Atemzug schaut er seinen Kollegen an und sagt vorwurfsvoll:
„Wo hattest du deine Augen und Ohren. Wir hätten uns die Arbeit und Zeit sparen können, wenn du gleich genauer nachgefragt hättest.“
„Aber sie hat doch die U-Bahn gar nicht erwähnt!“, empört sich dieser, „ich ging davon aus, dass es sich um den Fernverkehrsbahnhof …“ Hier wird er durch eine ärgerliche Geste des Älteren unterbrochen, der jetzt laut verkündet:
„Nee, nee Kollegin, die Anzeige musst du auf deiner Dienststelle aufnehmen lassen. Bei uns bist du auf der falschen Beerdigung.“ Er lacht über seinen Witz und sagt dann jovial: „Nimm die Brieftasche wieder mit, trotzdem war es nett, dich kennenzulernen.“ Er reicht ihr eine Plastiktüte, in die Hanna, nun etwas verlegen, die Brieftasche verstaut. Sie verabschiedet sich schnell, verlässt die Dienststelle und geht zurück zum U-Bahneingang, um ihren Weg zur Arbeit fortzusetzen. Verärgert über sich und ihre selbst geschaffene Blamage, bemerkt sie nicht, dass ihr eine Frau folgt.
* * *
Lydia erreicht den Bahnhof „Zoo“. Sie ist unauffällig gekleidet und wirkt mit ihrer Plastiktüte in der Hand wie eine Hausfrau, die vom Einkauf kommt. Sie geht hinüber zur Verkehrsinsel und mischt sich unter die Leute, die dort auf die Busse warten. Von hieraus kann sie gut den Eingang der Polizeidienststelle beobachten.
Nach etwa zehn Minuten erscheint die Frau, und Lydia folgt ihr. Es geht mit der U-Bahn der Linie zwei zum Sophie-Charlotte-Platz und ein kurzes Stück Weg auf dem Kaiserdamm. Von der Parkseite her betritt die junge Frau das große graue Polizeigebäude - vermutliche ihre Dienststelle.
Zunächst erkundet Lydia die Umgebung des Gebäudekomplexes. Sie geht am Sophie-Charlotte-Platz entlang bis zur Horststraße, biegt dort links ein. Dort befindet sich eine Einfahrt zu einem großen Innenhof. Einige Polizeifahrzeuge sind dort geparkt. Ein weiterer Hauseingang führt in das Gebäude. Dann erreicht sie über die Wundtstraße den Kaiserdamm. Von hier führt ihr Weg an der Front des Polizeigebäudes entlang, vorbei am Hauptportal, zurück zum Park. Insgesamt hat sie vier Eingänge gezählt. Diese allein zu überwachen, ist unmöglich. Deshalb entscheidet sie, zunächst den parkseitigen Eingang, durch den die Polizistin das Haus betreten hat. Im Schatten der Bäume ist die Temperatur angenehm. Sie findet eine mit Fantasiezeichen in weißer Farbe beschmierte Bank. Von hier aus kann sie den Eingang des Gebäudes gut im Auge behalten. Ihrer Handtasche entnimmt sie ein Buch und beginnt zu lesen. Das ist schwierig, weil sie alle paar Minuten vom Text aufschauen muss, um den Eingang des Gebäudes zu kontrollieren. Immer wieder muss sie sich in die Handlung des Romans gedanklich neu einfädeln und das, was sie liest, prägt sich nicht ein. Außerdem lenkt jede neue Zigarette ab, die sie fast pausenlos entzündet. Lydia ist Kettenraucherin. Sie hasst Observationen. Zu lange hat sie diese Art Job betrieben. Es ist immer dasselbe: Warten, Rauchen, unauffällig Abstand halten und wieder Warten, Rauchen …, oftmals ohne greifbare Ergebnisse. So wird es hier wohl auch sein. Sollte die Polizistin in der Spätschicht arbeiten, kann sie erst zum Dienstschluss, etwa um zweiundzwanzig Uhr, die Heimfahrt antreten. Das bedeutet weitere Stunden Warterei. Und es ist keineswegs sicher, dass sie beim Verlassen des Gebäudes wieder dasselbe Tor benutzen wird, wie vor Dienstbeginn.
* * *
Kurze Zeit später sitzt Moussard im Bus, um seinen Auftraggeber in der Charlottenburger Helmholtzstraße aufzusuchen. Dessen Büro befindet sich zusammen mit vielen anderen im Fabrikgebäude eines ehemaligen Elektrokonzerns. Moussard kennt den Weg, er war schon einmal dort.
Seine Gedanken gehen zurück zur ersten Begegnung mit dem Auftraggeber. Als er damals das Gebäude betreten hatte, um schriftliche Instruktionen abzuholen, wies ein Schild am Eingang mit der Aufschrift „Brunei-Corporation“ auf das Büro im dritten Stock des linken Quergebäudes. Zu seiner Überraschung traf er in dem Raum zwei Personen an. Von einem persönlichen Kontakt war nie die Rede gewesen. Moussard hätte einen solchen auch abgelehnt. Nun sah er sich plötzlich einem zwergwüchsigen, grauen Mann gegenüber und dessen bulligem, kahlköpfigen Leibwächter, der im Vergleich zu seinem Schützling wie ein Gigant wirkte.
Der kleine Mann war in jeder Hinsicht grau: gekleidet in einem grauglänzenden Blouson, mit hochgestelltem Stehkragen, dem chinesischen Mao-Anzug ähnlich und einer gleichfarbigen Hose; grau auch das fahle, breite Gesicht, mit hervorquellenden, auseinander stehenden, etwas entzündeten Augen. Der starre Blick erinnerte ihn an einen Blinden. Auch die zusammengepressten Lippen, die einer tiefen Narbe ähneln, waren blutlos-grau. Sein schütteres spärlich graues Haar trug er straff nach hinten gekämmt.
Er saß auf einem Schreibtischstuhl. Seine kurzen, krummen Beine reichten nicht bis zum Boden. Das ganze Männchen wirkte dadurch lächerlich. Im Stillen hatte Moussard ihn den „Pekinesen“ getauft. Als er die beiden im Raum bemerkte, hatte er instinktiv seine Pistole gezogen und sie auf den bulligen Leibwächter gerichtet, woraufhin der kleine Graue mit klarer, etwas quäkender Stimme in herablassendem Tonfall sagte: „Guten Tag, Monsieur Moussard! Stecken Sie Ihre Waffe ein, Sie werden sie hier nicht benötigen.“ Eine Reihe schief gewachsener Vorderzähne wurden sichtbar. Er sprach ein sehr gutes Französisch und diese Begrüßung ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, wer der Chef war. Er hatte dann geduldig gewartet, bis Moussard die Pistole zögernd senkte und sie schließlich in seinem Jackett verschwinden ließ.
„Besten Dank Monsieur, sehr freundlich von Ihnen. Bevor wir unsere Angelegenheit besprechen, möchte ich mich zunächst einmal vorstellen“. Er hüstelte. Nach einer Kunstpause erklärte er langsam mit bedeutungsvoller Betonung, als würde er ein Staatsgeheimnis verkünden:
„Mein Name ist Schmidt“. Wieder folgte ein Hüsteln.
„Siehe da, der 'Pekinese' ist ein richtiger Witzbold“, hatte Moussard gedacht und dann laut kommentiert:
„Oh, was für ein origineller Name!“
„Sie werden es nicht glauben, aber er ist tatsächlich Schmidt“, und hatte großspurig hinzugefügt, „die Organisation, der ich angehöre, ist so mächtig, dass sich keinerlei negativen Konsequenzen daraus ergeben, wenn ich meinen, zugegebenermaßen wenig originellen, wirklichen Namen trage.“
„Mir ist es egal, wie Sie heißen und ob Sie Ihre Anonymität wahren oder nicht. Was mich betrifft, ich übernehme nur Aufträge, bei denen Auftraggeber und ich sich nicht persönlich begegnen. Sie haben mich nicht informiert, dass ich Sie hier treffen werde und nur erwähnt, hier die Instruktionen abzuholen. Sie haben mir dadurch keine Wahl gelassen. Das ist nicht in Ordnung, deshalb werde ich ihren Auftrag nicht annehmen“, hatte er scharf zurückgegeben.
„Hören Sie auf, sich zu zieren“, war die ungerührte Entgegnung des Kleinen, „wir wissen genau über Sie Bescheid, kennen die Handschrift Ihrer Arbeit, sonst hätten wir keinen Kontakt zu Ihnen aufgenommen. Wir werden Ihre ‚Enttarnung‘ sehr großzügig mit dem Honorar ausgleichen. Die Organisation verlangt, dass alle, die für sie arbeiten, ihr bekannt sein müssen.“ Er hatte seine Worte auf Moussard wirken lassen und nach kurzer Pause gönnerhaft ergänzt:
„Aber Sie können sich ja immer noch entscheiden. Wir werden uns melden.“ Ganz im Bewusstsein, dass Moussard nicht ablehnen würde, hatte er seinen Leibwächter mit einem kurzen Kopfnicken zu verstehen gegeben, Moussard eine Aktentasche zu reichen. Dann waren beide wort- und grußlos durch eine Seitentür verschwunden. Ein seltsames Bild: vorne ein krummbeinig watschelnder, grauer Zwerg, dahinter der massige, schlürfende, doppelt so große Leibwächter. Moussard war klar, dass er mit der Entgegennahme der Informationen den Auftrag nicht mehr ablehnen konnte. Man würde ihn sonst sofort liquidieren. Wahrscheinlich ist das auch vorgesehen, wenn er den Auftrag erledigt hatte. Das musste er in Betracht ziehen.
Als er eine Stunde später in seinem Hotelzimmer die Unterlagen durchsah, hatte ihn die Art des Auftrags verblüfft, vor allem die Höhe des Honorars. Der Kleine hatte nicht zu viel versprochen. Ein Teilbetrag befand sich bereits in der Aktentasche, dazu schriftliche Anweisungen, Fotos, technische Zeichnungen, Land- und Straßenkarten sowie eine Telefonnummer für Notfälle. Nach gründlichem Einprägen der Details sollte er die Unterlagen vernichten. Moussard hatte gerade überlegt, was zu tun wäre, um nach Abschluss seines Auftrages ungeschoren davon zu kommen, als ihn das Läuten seines Handys hochschrecken ließ.
„Schmidt hier! Übernehmen Sie?“
„Ja, ich erledige das“, hatte er ohne zu zögern geantwortet. Moussard kehrt aus seinen Erinnerungen zurück in die Gegenwart. Es sind nur noch zwei Stationen, bis er den Bus verlassen muss.
* * *
„Nun wird’s aber langsam Zeit, dass Sie kommen, mein Fräulein“, poltert Ernst Ludwig, nimmt die randlose Brille ab und bedeutet Hanna, sich zu setzen. Sein Gesicht ist wie immer gerötet. Der seitliche, rötlich-blonde Haarkranz lässt eine breite Schneise auf seinem Schädel frei. Vom hinteren Haarkranz steht immer ein Büschel Haare wie Antennen senkrecht in die Höhe. Das gibt dem Hauptkommissar ein widerborstiges, keckes Aussehen. Sein rundes Gesicht, besprenkelt mit vielen Sommersprossen, strahlt Freundlichkeit und Ruhe aus. Aber das täuscht. Ernst Ludwig ist nur selten freundlich und ruhig. Alle Kollegen fürchten seine plötzlichen Ausbrüche. Das hat ihm den Spitznamen „Kugelblitz“ eingetragen. Hanna hat in den ersten Tagen mehrmals erlebt, wie er Kollegen zusammenstauchte.
„Was war los?“ fragt er schroff. Hanna beginnt ihren Bericht, dem er scheinbar lustlos folgt. Sie kennt ihn schon so gut, dass sie weiß, dass es nur eine Pose von ihm ist. Er ist ein ungewöhnlich sorgfältiger Zuhörer mit einem hervorragenden Gedächtnis, in das er jedes Wort und jede Kleinigkeit über lange Zeit speichert.
Ludwig unterbricht Hanna, indem er den letzten Satz aufgreift: „… und geht damit zur Bundespolizei!“ Er sagt das leise, betont jedes Wort einzeln, schüttelt dabei voller Unverständnis den Kopf und stöhnt, „das ist ja unglaublich.“
Hanna lässt sich durch diese Kritik nicht beirren. Als sie zum Abschluss ihrer Darstellung kommt, entnimmt sie der Plastiktüte die Geldbörse und legt sie vor ihm auf den Schreibtisch, holt auch ihr Tuch hervor, umfasst damit das Bündel Geldscheine und legt die Scheine aufgefächert auf Ludwigs Schreibtisch. Der schaut sich die Scheine an richtet dann seinen Blick auf Hanna. Auf seiner Stirn bildet sich eine besonders tiefe Falte, die meist den Ausbruch seines Ärgers ankündigt. Auch dieses Warnzeichen kennt Hanna bereits, bleibt aber gelassen. Dann entlädt sich das Gewitter, und Ludwig poltert:
„Was soll denn dieser Unsinn? Das is’ ’ne Fundsache, kein Beweismittel. Mädel, nu’ mach’ nicht solche Welle!“, holt Atem und schimpft weiter, „verflucht nochmal, warum haste das Geld nicht einfach eingesteckt!? Der Kerl wollt’s doch nicht. Stattdessen müssen wir uns jetzt mit solchem Mist herumschlagen. Haben sowieso kaum Leute!“ Er wischt sich umständlich mit einem Papiertuch den Schweiß aus Gesicht und Nacken.
„Weil ich Polizistin bin! Außerdem steckt mehr dahinter, und das gehört aufgeklärt.“ Sie sagt das ganz ruhig und bestimmt und spürt, dass ihm ihre Antwort gefällt, er sich aber nicht anmerken lassen möchte.
„Ha, ha, weil ich Polizistin bin“, äfft er sie in hoher Stimmlage nach, die er beim nächsten Satz wieder absenkt:
„Mensch Hanna, das müssen Sie doch erst noch werden!“ Er fährt seine Stimme erneut hoch:
„Weil mehr dahinter steckt, dass ich nicht lache“, dann wieder im normalen Tonfall, „da ist wohl die berühmte weibliche Intuition am werkeln!“
Hanna hat diese in Wellenbewegung vorgetragene Maßregelung ruhig über sich ergehen lassen.
„Es wäre ein Beweismittel, wenn das Falschgeld wäre, Herr Ludwig. Wenn man Fingerspuren auf den Scheinen fände, könnten diese uns zu der besagten Person führen“, entgegnet sie ruhig und freundlich. Hanna bemerkt, dass Ludwig plötzlich aufmerkt und wachsam wird. Offensichtlich hat auch er nicht an diese Möglichkeit gedacht, wie zuvor die beiden Bundespolizisten. Ludwig antwortet nicht, wischt sich wieder den Schweiß von der Stirn. Es ist wirklich sehr warm im Büro. Dann starrt Ludwig sie mit etwas verengten Augen an. Es ist aber eher ein Durchsiehindurchblicken. Er scheint konzentriert nachzudenken. Beide schweigen. Nur der alte Ventilator brummt rhythmisch, schafft mit seinem schwachen Luftstrom keine Abkühlung, ist nur laut. Dann, ohne auf ihr Argument einzugehen, fragt Ludwig plötzlich:
„Und Sie meinen, es handele sich um einen Ausländer?“ Jetzt wirkt er sanft und zugewandt. Hanna ist erleichtert.
„Ja, das glaube ich, weil er ‚merde‘ ausgerufen hat. In einer Schrecksituation wird man vermutlich in seine Muttersprache verfallen. Wenn das stimmt, dann muss es jemand aus dem französischen Sprachraum sein.“ Ludwig murmelt ein paar unverständliche Worte.
„Geht uns das etwas an?“, fragt er weiter, ohne sie anzuschauen, beantwortet dann aber wie im Selbstgespräch seine eigene Frage, „hm, sieht wohl so aus. Na, meinetwegen. Wird sowieso nichts dabei herauskommen“, stellt er brummig fest. Jetzt fixiert er Hanna mit seinen kleinen, hellen Augen mit den kurzen blonden Wimpern und sagt eindringlich leise:
„So, mein Fräulein, Sie kümmern sich um die Sache, es ist Ihr Fall. Ich will jede Woche Ihren Bericht, verstanden? Ihre Observationen mit Jens Hartmann und Auswertungen werden ohne Abstriche weitergeführt, ist das klar, meine Liebe?“ „Glasklar, Chef“, antwortet Hanna, und ihr Herz macht einen freudigen Sprung. Jetzt ist es ihr Fall, mehr konnte sie nicht erwarten. Sie ist sich nur nicht sicher, ob er sie und die Angelegenheit ernst nimmt, oder ob er möchte, dass sie sich an einer aussichtslosen Sache die Zähne ausbeißt.
„Ich werde die Brieftasche und die Geldscheine erst einmal in die Kriminaltechnik geben und auf Echtheit und Fingerspuren untersuchen lassen. Ist das in Ordnung, Herr Ludwig?“ Der Hauptkommissar ist noch zögerlich. Er hält die ganze Geschichte für unergiebig. Sollte es sich aber wirklich um Falschgeld handeln, dann würde die Sache eine Dimension annehmen, die für eine Polizeischülerin mehrere Nummern zu groß ist. Er will aber zunächst abwarten, was die kriminaltechnische Prüfung ergibt.
„Sie schreiben den Bericht und bereiten alles für die Kriminaltechnik vor. Das will ich so schnell wie möglich auf dem Schreibtisch haben. Die Prüfung muss ich anordnen. Wenn die Ergebnisse der KT vorliegen, werden wir weitersehen. Alles klar?“
„Jawohl, ich setze mich sofort an den Bericht.“ Hanna ist aufgehstanden druckst noch etwas herum. Ludwig hat sich bereits anderen Dingen gewidmet, bemerkt jetzt ihr Zögern, den Raum zu verlassen und fragt schroff: „Was is’ noch?“
„Na ja, ich wollte ein Phantombild von dem Mann herstellen lassen, nur so für alle Fälle, wenn an der Sache doch mehr dran sein sollte. Sonst verblasst meine Erinnerung. Außerdem könnte ich die Methode gleich mal in der Praxis kennenlernen.“
Sie schaut ihn mit ihrem schönsten Lächeln zusammen mit einer Prise Hilflosigkeit an, eine Mischung, der kaum jemand widerstehen kann, und fragt:
„Darf ich das, Herr Ludwig?“
„Ja, meinetwegen, aber veranstalte keinen Wirbel“, brummt er überraschend friedlich und duzt sie. Hanna strahlt.
„Vielen Dank, Herr Ludwig“.
Als sie den Raum verlassen hat, richtet sich Ludwig auf und denkt:
„So ein Klasse Mädchen! Was könnte das für eine hervorragende Polizistin werden, wenn sie nicht so hübsch wäre. Einfach zu hübsch. Die bleibt nicht, wird bald weggeheiratet.“ Der Gedanke macht ihn ein wenig traurig.
* * *
Moussard hat mittlerweile das Büro erreicht und klopft an. Er hört ein lautes, krähendes „Herein“ und betritt er den Raum. „Der Laden ist immer noch so schäbig, wie beim ersten Mal“, geht es ihm durch den Kopf.
Vor den Fenstern sind die Jalousien mit ihren zerbrochenen und gesplitterten Lamellen heruntergelassen, sodass im Raum Zwielicht herrscht. Dazu ist es warm und stickig. Hier wurde lange nicht mehr gelüftet. Hinter dem billigen Schreibtisch sitzt wieder der „Pekinese“. Er ist genauso gekleidet, wie bei der ersten Begegnung. Moussards Blick fällt auf den Mann dem Stuhl in einer Ecke des Raumes. Es ist nicht der bullige Kerl im Türsteherformat. Dieser hier unterscheidet sich, bis auf den stumpfen und betont desinteressierten Gesichtsausdruck, in vielerlei Hinsicht vom Vorgänger. Er ist klein und schmächtig, trägt Schuhe mit hohen Absätzen. Mit seinem ölig glänzenden, glatt nach hinten gekämmtem vollen Haar und seinem dunklen Teint könnte er ein Südländer sein. Er wirkt trotz lässiger Sitzhaltung, angespannt, wie auf dem Sprung. Dabei wieseln seine Blicke unruhig im Raum umher. Moussard nimmt spontan wahr, dass von diesem Mann etwas Bedrohliches ausgeht.
„Ist das der neue Bodyguard des Kleinen?“, fragt sich Moussard, „sieht nicht so aus.“ In ihm entsteht sofort ein unguter Verdacht.
„Möglicherweise ist es ein Kollege, der mich in Augenschein nehmen, um mich nach Abwicklung des Geschäfts auszuknipsen, Hund riecht Hund.“ Spontan drückt er den linken Arm an den Oberkörper. Eigentlich müsste er dort die Glock im Schulterhalfter spüren, aber da ist nichts. Sie befindet sich im Safe der Pension. Für einen Moment kommt Sorge auf, aber er hat sich gleich wieder im Griff.
„Ich muss aufpassen und darf den Mann nicht aus den Augen lassen. Aber solange Schmidt den zweiten Zylinder nicht hat, kann er mir nichts tun.“ Jetzt keift der kleine Herr Schmidt statt einer Begrüßung los: „Wie konnte dieser Scheiß in Gabun geschehen? Das war absolut dilettantisch. Nun auch noch die Sache mit der Brieftasche! Läuft vor einem kleinen Mädchen weg! Mann, da haben wir Ihre Fähigkeiten aber gründlich überschätzt! Möchte wissen, was Sie dazu zu sagen haben.“ Er bietet Moussard keinen Platz an. Der fragt spöttisch zurück: „Würde meine Antwort etwas an dem ändern, was geschehen ist, Monsieur?“
„Nichts ändern, nichts ändern?“, schreit der Zwerg erregt mit hochrotem Gesicht, noch ein paar Töne höher. Seine ohnehin entzündet wirkenden, hervorstehenden Augen treten noch weiter hervor. Er schnappt nach Luft. Er hat sich dabei aufgerichtet und stemmt seine Fäuste auf die Tischplatte, als wolle er Moussard körperlich bedrohen. Wegen seines schmächtigen Körperbaus wirkt diese Pose eher grotesk und belustigend - ein wahrer Zwergenaufstand. Moussard muss grinsen, was Schmidt noch mehr in Harnisch bringt.
„Grinsen Sie nicht!“, fährt er ihn an, „Sie haben sich höchst unprofessionell verhalten. Dadurch ist alles komplizierter geworden. Die Zeitpläne müssen verändert werden, jetzt sind auch noch Leute abzustellen, um die Polizistin zu überwachen. Und nach Ihnen wird über kurz oder lang gefahndet werden. Und das nennen Sie ‚nichts ändern’. Mensch, Sie haben den gesamten Plan gefährdet. Sie sind ein elender Versager!“
Etwas außer Atem geraten, setzt er sich erschöpft wieder auf den Stuhl. Während dieser Auseinandersetzung ist der stumme Begleiter aus seiner Lethargie erwacht, hat sich aufgerichtet, schaut gespannt zum Schreibtisch herüber. als wollte er zur Hilfe kommen. Der Kleine winkt mit einer kurzen Handbewegung ab. Es entsteht eine Pause. Der Ausbruch war für Schmidt offenbar notwendig, um mit seinen Emotionen klarzukommen, denn jetzt, wo er Dampf abgelassen hat, überlegt er ruhig, ob er den Auftrag zurücknehmen und einen anderen für die Beschaffung einsetzen sollte. Moussards bisherige Leistung war unzureichend.
„Aber warum eigentlich?“, fragt er sich, „mit dem Material aus dem einen Zylinder lassen sich die ersten Vorhaben realisieren. Die Herstellungsprotokolle dürften jetzt wie die Kronjuwelen bewacht werden. Soll doch Moussard diese Nuss knacken! Und notfalls gibt es ja noch diesen Entdecker Jarcol. Kann Moussard die Protokolle nicht beschaffen, dann muss er mir diesen Mann bringen.“
Er entscheidet, dass Moussard die Suppe auslöffeln soll, die er sich eingebrockt hat und sagt gefasst:
„Ich möchte, dass Sie die Protokolle und diesen Jarcol, oder wie der Mann heißt, herschaffen. Der muss uns bestätigen, dass die Unterlagen korrekt sind und erklären, wie das Zeug hergestellt werden kann. Das ist Ihr Auftrag, verdammt noch mal!“, und fügt zynisch hinzu, „na, und wie man jemand zum Reden bringt, das wenigstens werden Sie doch wohl noch hinbekommen.“
Moussard hat die Vorwürfe ungerührt über sich ergehen lassen und erklärt in ruhigem Ton:
„Hören Sie, Jarcol zu fassen, war nie mein Auftrag, wenn doch, dann müssen Sie das Honorar deutlich nachbessern.“ „Falsch“, erwidert Schmidt, „Sie haben die Protokolle nicht beschafft, somit ist Jarcol der Ersatz dafür. Außerdem sind Sie doch selbst daran interessiert, ihn zu finden.“
„Ja aber nicht, um das Zeug herzustellen. Aber lassen wir das für den Moment. Es ist übrigens mit dem ‚Ihn-zum-Reden-bringen‘ leider nicht getan. Wenn Jarcol in Gabun die Wahrheit gesagt hat - und ich bin sicher, dass er das hat - besteht das Hauptproblem darin, dass das Zeug im Labor nachentwickelt werden muss. Es soll eben keine einfache Formel sein, nach der ein Unerfahrener problemlos das Zeug herstellen kann. Jarcols Angaben nach, ist dafür eine Vielzahl von Versuchsreihen erforderlich. Er brachte in diesem Zusammenhang das Bild von einem weitverzweigten Straßensystem ohne Hinweisschilder. Diese müsse man mit unterschiedlichen Fahrzeugen und Geschwindigkeiten befahren, zu bestimmten Zeitpunkten genau die richtigen Abzweigungen wählen, um sein Ziel zu erreichen. Dabei erschweren Sackgassen, Straßenschäden und Kreisverkehr die Fahrt. Diese ‚Tour’ kann kein Mensch im Gedächtnis behalten und exakt nachvollziehen. Selbst …“ „Danke für den Vortrag“, wird er ungeduldig von Schmidt unterbrochen, „also kurz gesagt, Sie benötigen den Doktor und Räumlichkeiten mit geeigneter Ausstattung, so etwas wie ein Gefängnis mit eingebautem Labor, gut isoliert oder weitab von der Zivilisation.“
„Ja, genau das ist erforderlich, nur nicht für mich. Ich wiederhole es gern noch einmal, ich habe nicht vor, das Zeug herzustellen.“ Schmidt denkt nach und schlägt vor:
„Wenn Sie mir die Protokolle bringen, dann sind Sie raus, was Jarcol betrifft.“
„Wenn ich Ihnen beides liefere, Jarcol und die Protokolle, will ich das Honorar um die Hälfte erhöht haben.“ Moussard schaut ihn herausfordernd an und wartet auf eine Antwort, die erstaunlich schnell erfolgt.
„O.K., damit kann ich leben. Da haben Sie ja noch ganz schön zu tun“, seufzt der „Pekinese“ mit übertriebenem Bedauern, wechselt das Thema und fordert, „so nun zeigen Sie mal, was Sie mitgebracht haben.“ Der Belgier öffnet wortlos den Diplomatenkoffer, entnimmt ihm vorsichtig den Metallzylinder und stellt ihn auf den Schreibtisch. Schmidt schaut ihn eine Weile versonnen, fast zärtlich an. Dann fordert er Moussard auf, den Zylinder zu öffnen.
„Wie das geht, haben Sie ja im Labor schon mal gesehen“, und ergänzt, „seien Sie gefälligst vorsichtig.“
Moussard schraubt den Deckel ab, nimmt die Schaumstoffkappe ab und schiebt das Gefäß zu Schmidt. Der betrachtet die Anordnung der Ampullen, zieht eine dann vorsichtig zur Hälfte aus dem Schaumstoffpolster heraus, betrachtet das Etikett sichtlich fasziniert, liest es aufmerksam, wobei er tonlos die Lippen bewegt. Moussard und auch der Leibwächter sind bei der Aktion unruhig geworden. Erst als der Kleine die Ampulle wieder zurücksteckt, das Gefäß sorgfältig verschlossen und es behutsam in den eigenen Koffer gepackt hat, ist man wieder entspannt. Schmidt, der die Anspannung der beiden bemerkt, kichert nun ganz unvermittelt:
„Dachten Sie, ich wollte Selbstmord begehen?“ Dann wendet er sich wieder Moussard zu und schaut ihn erwartungsvoll an und fragt:
„Sagen Sie mal, Moussard, wie kommt es, dass Sie an einen Zylinder herangekommen sind, nicht aber an den anderen?“ „Ich habe beide Zylinder mitgenommen“, antwortet Moussard im Aufstehen. Der Pekinese ist fassungslos.
„Habe ich Sie richtig verstanden, Sie haben beide mitgenommen aber liefern nur einen ab?“
„Hm, das ist richtig“, antwortet Moussard beiläufig. Schmidt ist über die Selbstverständlichkeit und Unverfrorenheit, mit der sein Gegenüber diese Ungeheuerlichkeit einräumt, zuerst sprachlos, dann gerät er erneut in Zorn, sein blasses Gesicht läuft wieder puterrot an und er brüllt:
„Sind Sie wahnsinnig!?“ Er ringt wieder nach Luft.
„Nein, ich bin nicht wahnsinnig, nur vorsichtig. Und weil wir gerade davon sprechen, zum Abschluss des Auftrages werde ich die genauen Bedingungen für die Übergabe der Unterlagen, des zweiten Zylinders und des Resthonorars festlegen. Sie werden verstehen, Monsieur Schmidt, es geht dabei um meine Sicherheit.“ Er lächelt den wütenden kleinen Mann mit falscher Freundlichkeit an. Schmidt keift sofort los:
„Wo befindet sich der zweite Zylinder? Liefern Sie ihn sofort aus! Noch sind wir die Auftraggeber und deshalb bestimmen wir, wie der Deal läuft.“ Seine Stimme überschlägt sich beinahe. Je erregter der Kleine, desto ruhiger und kühler wird Moussard. Er hat bemerkt, wie sich der stumme Wächter langsam nach vorn gebeugt und so etwas wie eine Startstellung eingenommen hat. Ohne ihn anzuschauen, aber mit seitlich ausgestrecktem Arm und mit dem Finger auf ihn zeigend, herrscht Moussard ihn laut an:
„Sie bleiben da schön sitzen und lassen die Finger von der Waffe, sonst passiert etwas sehr Unerfreuliches.“ Der Mann zuckt zusammen. Er hat diese plötzliche Attacke nicht kommen sehen. Zu Moussard Erstaunen, nimmt er gehorsam wieder seine vorige Sitzhaltung ein. Es scheint, einem autoritär strukturierten Menschen ist es gleich, wessen Befehle er befolgt, es müssen halt nur Befehle sein. Wieder an Schmidt gewandt, fährt Moussard in ruhigem Ton fort:
„Ich muss Sie enttäuschen. Da Sie die Treffen ohne meine Zustimmung so arrangiert haben, dass mich noch eine weitere Person gesehen hat“, er weist erneut in Richtung des stillen Mannes, „geht es nun andersherum, das ist doch fair, oder nicht?“ Der Kleine zieht die Luft tief ein, als wollte er sich erneut ereifern, hält dann aber inne, atmet geräuschvoll aus. Ohne Moussards Einwände zu beachten, wiederholt er seine Frage mit gepresster, zischender Stimme:
„Wo befindet sich der zweite Zylinder, Monsieur Moussard?“ „Ach so, ja, das kann ich ihnen genau sagen. Er lagert in einer Brüsseler Sicherheitsfirma, die mir gelegentlich Aufträge vermittelt. Vielleicht kennen Sie die sogar. Man wird ihn nur mir persönlich aushändigen, niemand anderem. Es macht also keinen Sinn, mich unter Druck zu setzen, um an den Zylinder zu gelangen. Sie können ihn nur bekommen, wenn wir uns einig sind.“ Moussard freut sich, dass er sich die Lüge vorher zurechtgelegt hatte, weil diese Frage zu erwarten war. Es entsteht eine Pause. Der Kleine versucht offensichtlich, seine Fassung wiederzugewinnen und die nächste Reaktion zu überdenken.
„Schwer, etwas dagegen zu machen. Klar, der muss sich absichern, ahnt wohl, was ihm später blüht. Aber ihn aus der Sache raus lassen, macht noch mehr Schwierigkeiten. Ich werde es erst einmal friedlich regeln, aber später wird er dafür bezahlen.“ Schmidt zwingt sich zur Ruhe, als er sagt:
„O.K., bringen Sie mir das, was ich benötige, aber kommen Sie nicht wieder mit leeren Händen und beeilen Sie sich!“
„Und was ist mit meinem Geld?", fragt Moussard.
„Für diese Pleiten und Ihre Unverschämtheit wollen Sie auch noch Geld?“, empört sich Schmidt. An seiner Stimme und Körpersprache ist zu erkennen, wie schwer es ihm fällt, den neu aufkommenden Groll zu beherrschen.
„Ja, denn ich habe einen wichtigen Teil des Auftrages erfüllt.“ „Deshalb bekommen Sie auch nur einen Teil des Resthonorars“, kontert der Kleine. Er kramt in seinem Aktenkoffer, entnimmt ihm mehrere Bündel Geldscheine und schiebt diese unwillig mit den Worten über den Tisch:
„Hier, die Hälfte des Restbetrages!“ Moussard will zunächst aufbegehren, verzichtet aber darauf, eine neue, zwecklose Auseinandersetzung zu führen. Schmidt sitzt in dieser Frage am längeren Hebel. So nimmt er das Geld, zählt rasch die Anzahl der Bündel Fünf-hunderter Euroscheine und packt sie in seinen Koffer.
„O.K., das kann ich akzeptieren, aber der Restbetrag ist fällig, wenn ich das liefere, was noch fehlt. Damit das möglich schnell geschieht, brauche ich die Kontaktdaten des Mannes in Marseille, von dem Sie die Information über das Zeug erhalten haben. Ich muss mein Vorgehen ändern.“ Schmidt zögert und sagt bissig:
„Das also auch noch, dann können wir die Sache ja gleich selbst erledigen.“
„Nur zu! Daran werde ich sie bestimmt nicht hindern!“ Schmidt beachtet die Bemerkung nicht, nimmt aus seiner Jackentasche ein abgegriffenes Büchlein, reißt ein Blatt heraus, schreibt darauf eine Telefonnummer und den Namen d’Aquitaine und wirft es verächtlich über den Tisch.
Ohne Dank oder einen Blick darauf geworfen zu haben, steckt Moussard den Zettel ein, steht auf, hat fast die Tür erreicht, zögert einen Moment und fragt, ohne sich umzudrehen:
„Was wird mit der Polizistin?“
„Machen Sie sich darüber keinen Kopf. Sorgen Sie sich um Ihre Angelegenheiten. Passen Sie besser auf, dass Ihnen das heutige Honorar nicht auch noch von Kindern geklaut wird“, kräht der Kleine höhnisch hinter ihm her. Moussard verlässt grußlos den Raum.