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Brüssel, Dienstag, 17.Mai

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Nachdem Moussard am Sonntag früh in seiner Wohnung angekom­men und todmüde ins Bett gefallen war, hatte er bis zum nächsten Tag geschlafen. Auch den Montag verbrachte er die meiste Zeit im Bett, betrieb kaum Körperpflege, ernährte sich von Tiefkühlkost, sah unkonzentriert fern, schlief wieder kurz ein, ignoriert konsequent den Stapel Post und führte auch keine Telefonate. Sich nur um das Allernotwendigste kümmern zu müssen, vermittelt ihm ein intensi­ves Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Solche „Gammeltage“, wie er sie bezeichnet, stellen so etwas wie eine Pufferzone zwi­schen den Aktionen dar. Sie helfen, die Kräfte für die nächste Phase zu bündeln. Aber mehr als zwei Tage Tatenlosigkeit sind für Moussard nur schwer zu ertragen. So beginnt er den Dienstag schwungvoll früh morgens. Er entfernt den Bart, nimmt ein ausgiebiges Bad kleidet sich an und liest die Post. Dann ist es Zeit für die Reise nach Berlin. Moussard verstaut in den gesicherten, Diplomatenkoffer, in dem sich noch die beiden Zylinder befinden, ein Bündel Geldscheine, von dem er einige tausend Euro für die Brieftasche abgezweigt. Da er davon ausgeht, noch öfter nach Berlin zu kommen, möchte er sich ein Bargelddepot anlegen, um dort unabhängig zu sein. Von der Nutzung seiner Kreditkarten hält er nichts, mit ihnen hinterlässt er Spuren. Weiterhin packt er noch eine hochwertige Digitalkamera und das Notwendigste für eine Übernachtung in den Koffer.

Die Kamera begleitet ihn oft auf seinen Reisen. Er ist ein leiden­schaftlicher Fotograf und besitzt ein großes Archiv mit Aufnahmen von Menschen in Alltagssituationen. Seine Bilder lassen einen er­staunlich sensiblen Blick für Gesichter und deren Gefühlsaus­druck erkennen und machten Sprache oder Erklärung überflüssig. In einer Kunstausstellung wären seine Fotos preisverdächtig. Es ist wohl Moussards einzige Möglichkeit, Menschen auf der Gefühls­ebene zu begegnen, ohne mit ihnen in direkten Kontakt zu treten. Auch scheint das Fotografieren nicht weit entfernt von sei­nem Beruf zu liegen. Die Beobachtung und das Festhalten der Leu­te mithilfe des Fotoapparates vermitteln ihm das Gefühl von Macht. Ohne sich selbst zeigen zu müssen, kann er seine Zielpersonen für einen Moment beherrschen, sich ihrer bemächtigen, ohne dass sie etwas davon bemerken - ein Scharfschütze mit Kamera auf lautloser Jagd, dessen Trophäen Bilder sind. Vielleicht steht auch die Bezeichnung „Fotos schießen“ damit in Verbindung. Zuletzt steckt er seine Waffe ins Schulterhalfter. Er wird sie zu­sammen mit dem Geld nach Lieferung der Zylinder in seiner Berli­ner Unterkunft deponieren, da er mit dem Flugzeug zurückfliegen wird. Für die Hinfahrt wird er den Zug benutzen. Er muss Gepäck­kon­trollen vermeiden, die beim Fliegen unver­meidlich sind. Die beiden Aluminiumzylinder und seine Waffe würden von den Metall­detektoren der Fluggastkontrolle entdeckt werden.

Dann ist er reisefertig und macht sich auf den Weg zur Markthalle am Place Saint-Gery. Dort nimmt er ein opulentes Frühstück ein, das er dem, im den Speisewagen angebotenen, vorzieht. Anschließend geht er zum Bahnhof „Marseille-Saint-Charles“ und besteigt kurz nach 8:00 Uhr den Zug.

Die Fahrt über Mannheim nach Berlin dauert etwas mehr als zwölf Stunden. Das ist zwar eine sehr lange Zeit, aber Moussard erlebt sie als erholsam. Er mag das Bahnfahren wegen der fast schwe­benden Bewegung, dem leisen, gleichmäßigen, zischenden Fahr­geräusch, nur unterbrochen von entgegenkommenden Zügen, die dann das eigene Abteil leicht dröhnend in seitliche Schwingungen versetzen. Lange Zeit kann er die an ihm vorbeifliegende Landschaft betrach­ten. Manchmal versucht er, meist vergeblich, die Namenschil­der der kleineren Bahnhöfe zu entziffern, an denen der Zug mit ho­her Geschwindigkeit vorbeirauscht. Alle diese Eindrücke versetzen ihn in einen wohligen, entspannten Zustand. Moussard ist inzwi­schen in Mannheim in den ICE umgestiegen und hat zuvor ein vor­zügliches Mittagsmenü beendet, das er sich an seinen Einzelplatz im Erste-Klasse-Abteil servieren ließ.

Je mehr sich aber der Zug dem Ziel nähert, desto stärker macht sich ein ungutes Gefühl bemerkbar. Er kann die Fahrt nun nicht mehr genießen. Moussard hat gelernt, solche Körperreaktionen, sein Bauchgefühl, genau zu beachten. Das hat ihm mehrmals das Leben gerettet. So versucht er auch jetzt, in diesem kritischen Gefühlswust Ordnung zu schaffen. Er beginnt, die Geschehnisse in Gabun zu analysieren. Dazu geht er die kritischen Phasen des Auftrages noch einmal in Gedanken durch.

Meine erste Nachlässigkeit habe ich beim Erstkontakt mit dem Auf­traggeber gezeigt. Es war einfach blöd von mir, die Übergabe der Unterlagen nicht selbst festzulegen und vorher zu prüfen. Wie ein Anfänger bin ich in das besetzte Büro getappt. Dadurch haben mich der Auftraggeber und seine Leute gesehen. Das hätte nicht sein müssen. Solche Leichtfertigkeit ist neu, und ich verstehe sie nicht. War es Eile, Überheblichkeit oder Dummheit, oder alles zusam­men?“ Seine Betrachtung gilt nun den Aktionen in Gabun:

Die Vorbereitungen waren perfekt. Dass dieser Jarcol mitten in die Aktion hineinplatzte, konnte ich nicht ahnen. Hab’ ihn nicht gleich umgenietet, weil ich zu bequem war, selbst ins Labor zu gehen. Dann wollt’ ich die zwei Stunden Reinigungszeit nicht warten, son­dern hab’ geglaubt, dass er wirklich mit der Polizei telefoniert hat. Hätte herausfinden müssen, ob man mit dem Handy aus dem Ge­bäude heraus telefonieren kann. Stattdessen bin ich Hals über Kopf abgehauen.

Dann die Fingerabdrücke! Ich weiß nicht einmal, ob ich welche hinterlassen habe. Das ist richtig übel, ’ne Todsünde. War

auch wieder aus Bequemlichkeit. Und nun muss ich den Doktor als Zeugen ausschalten, aber vorher wegen der Protokolle weichklopfen.“ Er überlegt, welche Konsequenzen für ihn daraus folgen.

Ich stelle jetzt für die Organisation ein Risiko dar. Wenn man Fin­gerabdrücke im Labor findet, kann mich die Polizei identifizieren und wird mich suchen. Sollten sie mich kriegen, dann muss Schmidt damit rechnen, dass man auch ihn aufs Korn nimmt. Das heißt, er wird mich nach Abwicklung des Auftrages schnell aus dem Weg räumen, wenn er das nicht sowieso vorhat. Einen Mitwisser loszu­werden und dazu noch ein hübsches Sümmchen einzusparen, wäre für ihn die beste Lösung.“ In einer Aufwallung von Ärger schimpft er in Gedanken: „Verdammt, ich muss höllisch aufpassen. Dieser elende Auftrag ist vergiftet!“

Ein solcher Ausbruch stellt für Moussard ein Maximum an emotio­naler Wallung dar und ist äußerst selten. Es dauert auch nur kurze Zeit, bis er sich wieder gefühlsmäßig im unterkühlten Normalbetrieb befindet. Er setzt seinen Gedankengang fort und erkennt eine wei­tere Konsequenz:

Da ich nur einen Teil des Auftrages erledigen konnte, hat Schmidt zwei Möglichkeiten: Er legt mich gleich um und beauftragt einen anderen, die Protokolle zu beschaffen. Wenn er das nicht kann oder will, und ich den Auftrag zuende bringen soll, dann kostete ihn das viel Zeit. Zeit, in der mir möglicherweise die Polizei auf den Pelz rückt, was ihm und mir auch nicht gefallen kann. Also muss er mich irgendwie davor schüt­zen oder verstecken. Das wäre für ihn aufwändig und risiko­reicher, als mich nach der Lieferung aus dem Weg zu räumen.“ Jetzt verfällt er wieder ins Grübeln. Nach kurzer Zeit strafft sich sein Körper, setzt sich aufrecht in den Sitz. Er hat eine Entschei­dung getroffen.

Zu seiner Sicherheit wird er nur einen Zylinder ausliefern. Schmidt wird toben und er, Moussard, wird von ihm verlangen, den Auftrag abzuschließen. Wenn er dann die Protokolle in Händen hat, kann er die Übergabe des Materials und des Zylinders so organisieren, dass er nicht gefährdet sein wird. Mit diesen Entscheidungen gewinnt er seine innere Ruhe nicht

vollständig zurück. Denn ein viel grundlegenderes Problem beschäftigt ihn nun: Es ist das erste Mal, dass er mit einem Gefühl der Unsicherheit einen Auftrag ausführt. Das bringt ihn zu der Frage, ob es nicht Zeit ist, seinen Beruf nach diesem Job, an den Nagel zu hängen und sich ganz zur Ruhe zu setzen. Alle bisherigen Aufträge verliefen gut geplant, lautlos und sauber. Die vielen Schwierigkeiten bei dieser Sache zeigen aber, dass er nachlässig und leichtfertig geworden ist. Noch ist er sich darüber nicht im Klaren nicht sicher und vertagt die Antwort.

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