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Franceville, Marseille, Sonntag, 15. Mai

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Endlich im Flugzeug nach Marseille. In der Tasche trägt Jerôme die beiden CDs mit den Herstellungsprotokollen von Thrombotoxin. Dort sind die Versuchsreihen aufgezeichnet, bei denen verschiede­ne Kennwerte der Stoffe verändert und kombiniert worden waren. Jerômes kurzer Schlaf in der Nacht zum Sonntag war durchsetzt mit Traumbildern des toten Wachmannes in der Blutlache, dem höhnisch grinsenden Gesicht des Eindringlings, das gleichzeitig nach allen Seiten zu schauen schien, sowie verwirrenden Bildern und Stimmen aus Kindheit und Militärzeit. Schließlich war es eine Explosion, in deren Rauch seine Frau und die Kinder blass, mit leb­losen Augen auftauchen. Sie ließen ihn mit Herzrasen erwachen. Schweißüberströmt schleppte er sich ins Bad und spülte mit einer ausgiebigen Dusche Angst und Schweiß von Seele und Körper. Da­nach ging es ihm besser. Er nahm ein bescheidenes Obstfrühstück ein, bald danach war er reisefertig.

Jetzt kommt zu seiner Müdigkeit das Dröhnen der Flugzeugtrieb­werke hinzu, das ihn schläfrig macht. Die Zeilen in der Zeitung, be­ginnen vor seinen Augen zu verschwimmen. Auch der Sinn, den sie ausdrücken, erreicht ihn nicht mehr. Er beginnt zu dösen und seine Gedanken gehen zurück zu den Geschehnissen vor seinem Rück­flug.

* * *

Trotz mehrfacher Anrufe bei der Polizei und deren Versprechen, gleich zu kommen, wurde er erst am späten Vormittag von einem Polizeifahrzeug abgeholt, um gemeinsam zum Flughafen Mvengue zu fahren. Dort sollte er die Aufzeichnungen der Überwachungska­meras überprüfen, ob der Geflüchtete darauf zu erkennen wäre. Zunächst führte der Weg aber zur Firma, um dort einen Polizeioffi­zier abzuholen. Die unbeirrbare, behäbige Ruhe der hiesigen Poli­zeibeamten stellte Jerômes Geduld auf eine harte Probe.

Polizisten patrouillierten noch immer vor dem Zaun der Anlage. In den frühen Morgenstunden hatten sie den ahnungslosen Beschäftigten resolut und ohne Erklärung den Zutritt zum Gelände verwehrt. Schließlich erreichten sie den Flughafen. Jerôme und der Polizeioffizier sahen sich die Überwachungsaufnahmen des Abfertigungsbe­reichs vom Vorabend an. Wenn der Killer das Flugzeug benutzt ha­ben sollte, war das nur möglich mit einem der beiden Flüge um einundzwan­zig Uhr und dem letzten Flug um Mitternacht. In dieser Zeit­spanne musste der Gesuchte auf dem Band zu sehen sein.

Es dauerte nicht lange, bis Jerôme den Mann im hellen Anzug als seinen Widersacher entdeckt hatte. Obwohl dessen Äußeres stark verändert ist, stimmen Statur, Bart und die Art der Bewegung mit denen des Killers überein. Auch trug er dünne Handschuhe - ein eher seltenes Accessoire in dieser heißen Region.

Der Mann kannte offenbar die Positionen der Überwachungskame­ras, denn beim Durchqueren der Halle versuchte er, nicht in deren Blickwinkel zu gelangen. Dort, wo er den Kameraaugen nicht entge­hen konnte, zog er reflexartig den Panamahut tiefer in die Stirn. Es war der richtige Mann. Jerôme war sich sicher.

Die Qualität der Aufnahmen aber reichte für eine Personenfahn­dung nicht aus. Allerdings konnte ein Mitarbeiter der Passagier­kon­trolle, der seine Schicht gerade begonnen hatte, sich an den bärti­gen Mann mit dem Panamahut erinnern, der sich als Diplomat aus­gewiesen hatte. Der Passagierliste des Fluges entnahm man den Namen, zusammen mit dem gebuchten Anschlussflug. Er sollte an­geblich Frederic Pricard heißen und hatte sich als Attaché der bel­gischen Botschaft in Gabun ausgegeben. Sein Flug ging zu­nächst in die Hauptstadt Libreville, dann nach Paris. Weitere Buchungen waren nicht bekannt. Ein Anruf in der Botschaft in Libreville bestätigte, dass ein Frederic Pricard in der Botschaft gearbeitet hatte, aber bereits vor mehreren Jahren verstorben sei.

Nach einer zähflüssigen Protokollierung im Polizeibüro konnte Jerô­me gerade noch die Abendmaschine nach Libreville mit Weiterflug Marseille erreichen.

* * *

Die Stimme der Stewardess und ihre Frage, ob er noch etwas zu trinken wünscht, reißen Jerôme aus seinen Überlegungen. Irritiert verzichtet er dankend auf das freundliche Angebot und wendet sich wieder der Frage zu, die ihn gerade bewegt.

Wie war es möglich, dass dieser Mensch etwas von seiner Entde­ckung wusste. Seine detaillierten Kenntnisse über Personen, Pro­zesse und die Örtlichkeiten setzen sehr genaue Informationen und eine längere Vorbereitungszeit voraus.“

Er nimmt seinen Kalender aus der Tasche, den er auch als kleines Tagebuch nutzt und findet das Datum, an dem sein Chef, Malin, in der Marseiller Firmenzentrale routinemäßig Bericht über den Stand der Arbeit in Gabun erstattet hatte. Dabei gelangt er zu einer inter­essanten Überlegung:

Vor drei Monaten hatte ich mit Malin vereinbart, bis zur endgültigen Aufklärung der chemisch-physiologischen Wirkweise des neuen Stoffs Stillschweigen nach außen zu bewahren. Dennoch hat er über die Entdeckung in der Marseiller Zentrale berichtet.“ Als er dar­an denkt, kommt Ärger in ihm hoch:

Malin ist derart versponnen und unbedacht, dass er wieder einmal das Wasser nicht halten konnte. Er musste die Ergebnisse unseres Labors voreilig beim Vorstand herausposaunen. Dass er sich dabei mit fremden Federn geschmückt hat, ist mir nicht wichtig, was mir aber Kopfschmerzen bereitet, ist seine soziale Blindheit. Er hat nur das wissenschaftliche Ergebnis im Kopf, verkündet begeistert halb fertige Entwicklungsprozesse, ohne die damit verbundenen Konse­quenzen zu bedenken.“ Jerôme hält es für durchaus möglich, dass solche Informationen den Kreis der Vorstandsmitglieder verlassen. Schon einige Male wurde streng Vertrauliches in die Öffentlichkeit getragen.

Seine nächste Überlegung gilt der Frage, wie er den Killer, alias Pri­card, in eine Falle locken kann. Nach kurzem Nachdenken kommt ihm eine Idee.

Sie fußt auf der Annahme, dass dieser seinen Auftrag zu Ende brin­gen und alle aus dem Weg räumen muss, die ihn in Aktion gesehen haben. Wenn er ihn, Jerôme, nicht findet, wird er versuchen - wie angekün­digt - die Familie in Geiselhaft nehmen, um ihn zu zwingen, die Un­terlagen herauszugeben und das Gift zu reproduzieren. Ob er sich weigern oder den Forderungen des Killers nachkommen würde, in jedem Fall bedeutete dies seinen sicheren Tod und den Jacqueli­nes - vielleicht auch den der Kinder.

Der Killer muss zunächst herauszufinden, wo sich die Familie auf­hält. Dazu sind Erkundigungen im Wohnbezirk und bei denen einzu­holen, deren Adressen und Rufnummern im Telefonspeicher ste­hen. Irgendwann wird er in Marseille auftauchen und wahrscheinlich in die Wohnung einbrechen, um dort Hinweise auf mögliche Aufent­haltsorte zu finden. Hier wird Jerôme die Falle aufstellen.

Das Flugzeug landet pünktlich um zweiundzwanzig Uhr auf dem Aéroport Marseille Provence.

* * *

Nach der Abfertigung begibt sich Jerôme auf schnellstem Weg nachhause in die Rue Georges. Er findet den Zweitschlüssel zur Wohnung an der Stelle, die ihm Jacqueline beschrieben hat.

Beim Öffnen der Wohnungstür fällt ein kleines Stück Streichholz zu Boden. Jerôme ist beruhigt, der Killer hat die Wohnung noch nicht betreten.

Er inspiziert alle Zimmer. Nichts deutet auf einen ungebetenen Be­su­cher hin, und er stellt fest, dass seine Frau gute Arbeit geleistet und sämtliche persönlichen Unterlagen entfernt hat. Jerôme war nicht wirklich besorgt, dass sein Gegner schon so früh einen Angriff auf ihn und die Familie starten würde. Der Streichholz­trick bestätigte diese Annahme. Vermutlich hat er zunächst das ge­stohlene Material seinem Auftraggeber auszuhändigen. Diese ge­fährliche Substanz länger als notwendig bei sich zu behalten, kann nicht in seinem Interesse liegen. Für den Fall eines unerwünschten nächtlichen Besuchs trifft er eini­ge Vorkehrungen. Wie in Kriminal­filmen gesehen, stellt er eine leere Flasche auf die Türklinke der Wohnungstür. Bei der kleinsten Bewe­gung der Klinke würde diese herunterfallen und erheblichen Lärm erzeugen. Außerdem holt er die SIG Sauer SP 2022 aus dem Ge­heimfach des Kleiderschranks, lädt das Magazin mit fünfzehn Pa­tronen des Kalibers neun Milli­meter, entsichert die Waffe und legt sie griffbereit auf den Nacht­tisch.

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