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Marseille, Mittwoch, 18. Mai

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Das Gespräch verstummt augenblicklich, als Jerôme mit einer knappen Entschuldigung den Raum betritt. Maurice Trouvaille über­hört Jerômes Entschuldigung, geht auf ihn zu, umarmt ihn herzlich und sagt, dass er glücklich und erleichtert ist, ihn wohlbehalten zu sehen. Nach der Begrüßung beginnt Trouvaille, in die Hände zu klatschen. Die anderen schließen sich ihm an.

Jerôme ist gerührt. Einen solch herzlichen Empfang, mit dieser An­teilnahme und Anerkennung, hat er sich nicht vorstellen können.

Trouvaille bittet ihn, sich neben ihn zu setzen. Nachdem alle Platz genommen haben, eröffnet der Konzernchef die offizielle Bespre­chung. Er drückt noch einmal die gemeinsame Freude aus, Jerôme unversehrt bei sich zu wissen, lobt besonders dessen Mut und Geistesgegenwart, mit denen er die extrem lebensbedrohliche Situ­ation gemeistert hat. Dann kündigt er die Themen für die Zusam­men­kunft an.

Jerôme soll zunächst die Vorgänge in Gabun genau schildern, da­nach will man den Versuch unternehmen, die genauen Umstände dieses gewalttätigen Übergriffs zu analysieren, um schließlich Vor­schläge zu entwickeln, wie man zukünftig die Sicherheit der For­schungs­einrichtungen verbessern kann. Jerôme berichtet vollstän­dig und präzise den Ablauf des Gesche­hens, erwähnt aber nicht seine Absicht, den Killer selbst zur Strecke zu bringen und die dafür getroffenen Vorbereitungen. Nach seiner Darstellung folgt zunächst betroffenes Schweigen. Dann durchbricht sein Chef Malin die Stille und fragt erregt und be­sorgt:

„Und was ist mit Ihrer Frau und den Kindern?“

„Sie befinden sich in Sicherheit, davon können Sie ausgehen“, ant­wortet Jerôme lapidar.

„Sind Sie da auch sicher?“, meldet sich gleich darauf der Sicher­heitschef Carbeau, „sollten sie nicht ins Ausland gebracht werden? Auf keinen Fall zu Verwandten. Deren Aufenthalt ist für einen Profi schnell zu ermitteln und …“

Hier unterbricht ihn Jerôme, dankt für seine Hilfsbereitschaft und Anregungen; an alle Anderen gewandt, bittet er um Verständnis, darüber nicht weiter sprechen zu wollen. Er wiederholt noch einmal nachdrücklich, dass sich seine Familie definitiv in Sicherheit befin­det.

Schweigen.

Jerôme spürt, obwohl alle verständnisvoll mit einem Kopfnicken zu­stimmen, dass seine Weigerung, das Thema weiter zu besprechen, auch etwas Kränkendes den Anwesenden gegenüber beinhaltet. Er hat indirekt zu erkennen gegeben, dass er ihnen nicht traut.

„Aber was ist mit Ihnen?“, fragt nun Maurice Trouvaille das Thema wechselnd, „der Kerl hat Sie erkannt und wird es nicht hinnehmen, dass Sie sein Gesicht gesehen haben. Er wird versuchen, Sie mundtot zu machen.“

„Ja, davon gehe ich aus“, antwortet Jerôme ruhig und fährt fort, „auch ich werde von der Bildfläche verschwinden müssen, bis man ihn dingfest gemacht hat.“

Als er die Skepsis der anderen bemerkt, fügt er schnell die Notlüge hinzu, die er sich vorher zurechtgelegt hatte: Er wäre bereits bei der Polizei gewesen und habe dort ein Phantombild von dem Mann an­fertigen lassen.

„Was meinen Sie damit, ‚von der Bildfläche verschwinden’?“, fragt Trouvaille.

„Ich denke, ich werde, solange der Mann frei ist, unsichtbar sein. Auch dafür habe ich Vorkehrungen getroffen und hoffe, dass Sie mich für diese Zeit beurlauben können.“

„Na, das ist doch selbstverständlich. Benötigen Sie Geld?“ „Nein danke, das brauche ich vorerst nicht. Sollte aber die Jagd nach dem Mann länger dauern, würde eine finanzielle Hilfe wahrscheinlich notwendig sein. Sich zu verstecken und ständig den Aufenthaltsort zu wechseln, ist sehr kostspielig. Wenn Sie mir dabei helfen wollen, würde ich mich gern direkt an Sie wenden dürfen und Ihnen die Mo­dalitäten des Geldtransfers mitteilen. Meine derzeitigen Konten habe ich bereits aufgelöst.“

Trouvaille nickt zustimmend, wendet sich an Carbeau:

„Sagen Sie, Joseph, bekommen wir das hin?“

„Selbstverständlich, ich werde einen sicheren Weg finden.“ „Was ist mit den CDs, auf die es der Killer abgesehen hat, was soll mit ihnen geschehen?“ fragt nun Pierre d’Aquitaine, der sich bisher noch nicht geäußert hat und ein wenig unbeteiligt wirkt.

„Ach ja“, antwortet Jerôme und zieht aus seiner Jacketttasche die Hüllen mit den CDs und reicht sie Trouvaille.

„Ich bin froh so los zu sein, für mich ist das Sprengstoff, hier in der Firma sind sie wahrscheinlich sicher.“

„Wahrscheinlich sicher?“, kommt von Louis Carpentier die Nach­frage belustigt herausfordernd.

„Nun, das glaubten wir auch von unserem Forschungslabor in Ga­bun“, entgegnet Jerôme sarkastisch.

„Ja, aber …“, Carpentier will etwas erwidern, aber Trouvaille fällt ihm ins Wort:

„Lassen Sie, Louis, die Frage nach der Sicherheit unserer For­schungseinrichtungen sollten wir jetzt in Ruhe besprechen. Ich fas­se zusammen, was ich erfahren habe.“

Er atmet tief durch, schaut kurz auf ein Blatt Papier und blickt dann in die Runde und beginnt:

„Nachdem Dr. Jarcol seine Entdeckung gemacht und die Entwick­lungsprozesse dokumentiert hatte, fand Anfang Februar ein Mee­ting statt, an dem Dr. Malin den Vorstand über die Entdeckung in­formierte. Sie werden sich erinnern, wir hatten vereinbart, darüber kein Protokoll zu führen. Das bedeutet, dass die Information nur mündlich weitergegeben worden sein kann, und dem Bericht von Dr. Jarcol zur Folge, muss sie auch sehr detailliert gewesen sein. Das bedeutet, dass sie nur von einem Insider gekommen sein kann.“ Als sein Name erwähnt wird, schaut Malin auf, als sei er aus dem Schlaf geweckt worden. Jerôme freut sich darüber, dass Trouvaille ihn ausdrücklich als Entdecker bezeichnet hat. Der Konzernchef fährt fort:

„Wenn wir Dr. Jarcol einmal ausnehmen und die Personalleiterin, die sich zu diesem Zeitpunkt in unserer Tochterfirma in Spanien aufhielt sowie Joseph Carbeau, der an der Sitzung nicht teilgenom­men hatte, kann sich das Informationsleck nur in diesem Kreis be­finden.“ Es entstehen Unruhe und Empörung am Tisch. Als Erster protestiert d’Aquitaine.

„Sie wollen doch nicht allen Ernstes behaupten, einer von uns hätte Betriebsgeheimnisse verraten? Das ist, mit Verlaub, Maurice, eine ungeheuerliche Verdächtigung.“

Die anderen stimmen in den Protest mit ein, und es erhebt sich eine wilde Debatte. Trouvaille hebt die Stimme:

„Meine Herren, bitte, meine Herren, keine Aufregung!“, dann ener­gisch, „ehe Sie sich empören, geben Sie mir bitte eine andere plau­sible Erklärung, wie dieser Mann an diese sehr präzisen Informatio­nen über die Neuentwicklung gelangen konnte, einschließlich Per­sonal, Bauplan, Sicherheits- und Kommunikationseinrichtungen des Laborkomplexes.“ Trouvaille unterstreicht seinen Appell mit einer herausfordernden Handbewegung.

Betroffenes Schweigen.

„Wenn Sie Ihren Vorständen einen solchen Vertrauensbruch unter­stellen, dann darf auch Dr. Jarcol nicht außen vor gelassen wer­den“, äußert sich d’Aquitaine leise und starrt dabei auf die Tisch­platte. Alle Blicke sind nun auf ihn gerichtet. Unbehagliches, peinliches Schweigen. Als erster bricht es Jarcol: „Habe ich Sie richtig verstanden, Sie glauben, ich könnte meine Ergebnisse weitergegeben haben?“, fragt er ungläubig. D’Aquitaine scheint sich zu winden bevor er da­rauf eingeht. „Sie könnten es versehentlich Mitarbeitern oder anderen Personen mitgeteilt haben …“, antwortet er stockend, „schließlich wäre es ja auch denkbar …, dass Sie … dass Sie alles inszeniert haben.“ Empörtes Schweigen.

Carpentier und Malin schütteln verständnislos den Kopf. Trouvaille greift ein. „Das meinen Sie doch wohl nicht im Ernst, Pierre?“ Er ist sichtlich empört. D’Aquitaine erklärt nun kleinlaut, dass so etwas ja immerhin denkbar sei, und dass gleiches Recht für alle in dieser heiklen Frage gelten müsse. Die anfänglich freundliche Stimmung ist jetzt wie weggeweht. „Nein, Monsieur Trouvaille“, wendet sich Jerôme an den Kon­zern­chef, „ich stimme Monsieur d’Aquitaine ausdrücklich zu. Man kann mich nicht ausschließen, und ich möchte auch keine Sonder­rolle spielen. Beziehen Sie mich bitte in alle Überlegungen und Schlussfolgerungen mit ein.“ Trouvaille lächelt Jerôme zu, wirkt er­leichtert und schlägt vor, das Gespräch hier kurz zu unterbrechen, um sich beim Imbiss und einem Gläschen exquisiten Weins zu be­ruhigen. Sein Vorschlag wird dankbar angenommen. Man steht am Buffet, in einer Hand ein Glas. Alle haben sich mit den Appetithäppchen versorgt und kauen. Es wirkt, als wollten sie sich den Mund verstopfen, um nicht weiter über die vorangegan­genen Äußerungen zu sprechen. Wie immer steht Dr. Malin ein we­nig abseits, nun aber auch d’Aquitaine. Nach der Pause folgt eine intensive und sachliche Diskussion, an deren Ende zwei Be­schlüsse stehen: Man wird einen externen Er­mittler beauftragen, die Informationslücke zu finden. Jeder der Teil­nehmer an der da­maligen Sitzung - das gilt auch für Trouvaille und Jarcol - wird die­ser Person Rede und Antwort stehen und seine Re­cherchen unter­stützen. Die Ergebnisse wird er so schnell wie mög­lich, spätestens bis zum Monatsende dem Konzernchef vortragen. Weiterhin will man die Sicherheitsbedingungen aller Laboratorien des Konzerns überprüfen. Dies betrifft sowohl das Personal, als auch die techni­schen Einrichtungen. Ein entsprechender Auftrag geht an Carbeau und Carpentier. Sie werden ein Team aus ihren Mitarbeitern bilden, das diese Aufgabe übernimmt. Die Gruppe ist dem Firmenchef direkt unterstellt und nur diesem gegenüber ver­antwortlich.

Es ist Nachmittag, als die Konferenz beendet wird. Trouvaille spricht mit Jerôme noch kurz unter vier Augen. Zu seinem Schutz bietet er ihm noch einmal alle notwendigen Unterstützungen an. Er übergibt ihm seine private Telefonnummer und E-Mail-Adresse, damit sich Jerôme an ihn wenden kann, wenn es erforderlich ist.

„Wie kann ich Sie im Notfall erreichen?“, fragt er abschließend. „Hier ist meine neue Handynummer, rufen Sie dort an, und ich wer­de mich umgehend bei Ihnen melden“, erklärt Jerôme und schreibt die Nummer seines geheimen Handys auf ein Blatt Papier, das er dem Konzernchef übergibt. Der wünscht ihm noch viel Glück und beide verabschieden sich.

Giftgas

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