Читать книгу Giftgas - Rainer Müller-Hahn - Страница 12
Berlin, Mittwoch, 18. Mai
ОглавлениеDie Rufmelodie des Handys eines Fahrgastes neben ihr schreckt Hanna auf. Der beginnt in das Telefon zu schreien, um den Fahrtlärm der Bahn zu übertönen und wiederholt alles mehrfach. Offenbar geht es bei seiner Schreierei um ein Treffen.
Die Bahn ist jetzt in den Bahnhof „Spichernstraße“ eingefahren. Viele Leute verlassen das Abteil, so auch der telefonierende Nachbar. Eine größere Gruppe von Fahrgästen steigt ein. Darunter befinden sich zwei Kinder mit dunklem Teint. Ein Junge und ein Mädchen, etwa zwölf Jahre alt. Die beiden bleiben im mittleren Bereich des Waggons stehen. Sie haben weite Skijacken an, scheinen für den Winter gekleidet zu sein. Aber es ist Mai, und das Thermometer zeigt recht hohe Werte für diese Jahreszeit. Seit dem Morgen ist es sehr schwül, am Himmel sind Schleierwolken aufgezogen und kündigen eine Gewitterfront und einen Wetterwechsel an.
„Wenn die mal nichts klauen wollen. Das ist ’ne typische Ausgangssituation für einen Taschendiebstahl“, denkt sie.
„Wer könnte das Opfer sein?“ Im Gang zwischen ihr und dem Mittelbereich befinden sich keine Fahrgäste, so hat sie freien Blick und schaut sich die umstehenden Leute genauer an. Sie betrachtet jetzt den schlanken, hochgewachsenen Mann genauer, in dessen Nähe sich die Kinder gedrängelt haben. Er befand sich bereits im Abteil, als Hanna einstieg, trägt einen leichten Mantel, einen Schlapphut und eine Sonnenbrille.
„Eine Sonnenbrille in der U-Bahn! Ein Snob oder ein Promi? Blind ist er nicht, sonst würde die gefaltete Zeitung, die aus der Manteltasche herausschaut, keinen Sinn machen.“
In der rechten Hand hält er eine breite Aktentasche, einem Diplomatenkoffer ähnlich, von deren Griff eine Kette zu seinem Handgelenk führt.
„Ein Mann, der offensichtlich wichtige Dinge mit sich führt und die U-Bahn benutzt? Warum nimmt so jemand nicht ein Taxi?“ fragt sie sich.
Es tut sich nichts. Alle stieren scheinbar gedankenverloren vor sich hin. Erst nach einer weiteren Station, bevor der Zug in den Bahnhof „Zoologischer Garten“, oder kurz „Zoo“ genannt, einfährt, entsteht Bewegung in dieser Gruppe. Der Mann macht Anstalten auszusteigen, indem er auf die Tür zugeht. Beide Kinder flankieren ihn nun unauffällig.
Auch Hanna muss hier aussteigen. Sie hat sich so postiert, dass sie die Kinder im Auge behalten kann.
Der Zug hält. Das Zischen der hydraulischen Verriegelung zeigt an, dass die Türen nun zu öffnen sind. Hanna beobachtet, wie das Mädchen schnell vor den Mann tritt und die Türhebel bedient. Die Tür öffnet sich, aber das Mädchen steigt nicht aus, sondern bleibt in der Türöffnung stehen. Dann dreht es sich nach dem Jungen um, sodass es dem Mann gegenübersteht. Dieser wird vom Jungen gegen das Mädchen geschubst. Durch den Stoß stolpern Mädchen und der Mann aus dem Waggon. Die Tasche des Mannes schwingt und macht es ihm schwer, das Gleichgewicht zu halten. Das Mädchen stützt ihn, damit er nicht hinfällt, dabei greift es blitzschnell in den geöffneten Mantel, reicht die Beute am Opfer vorbei ihrem Komplizen und läuft in Fahrtrichtung Bahnhofsausgang. Das alles geschieht so schnell, dass außer Hanna, die so etwas erwartet hat, niemand etwas bemerkt. Auch der Bestohlene ist arglos. Der Junge hinter ihm ist ausgestiegen. Er bewegt sich nicht übermäßig schnell in die entgegengesetzte Richtung zum Fluchtweg seiner Komplizin. Dadurch muss er an Hanna vorbeikommen. Hanna ist zur gleichen Zeit ausgestiegen und erwischt den Jungen, packt ihn an der Jacke, hält ihn fest und schreit ihn an:
„Gib’ sofort die Brieftasche heraus!“ Der Junge schaut sie er-schrocken an und ruft in gebrochenem Deutsch:
„Lass’ los, ich nix tun!“ Dann dreht er sich ruckartig erst zur einen, dann zur anderen Seite und Hanna hat den weiten Anorak in der Hand. Noch ehe sie die Befreiungsaktion des Jungen begriffen hat, ist dieser bereits zur Ausgangstreppe gelaufen und schlängelt sich geschickt durch den Strom der Menschen. Ihm zu folgen, ist zwecklos. Hanna durchsucht nun die Jacke des Jungen und entnimmt ihr die Geldbörse.
* * *
Der Bestohlene ist nach dem Verlassen des Zuges an eine Informationstafel getreten, hat dort etwas gesucht. Nun bewegt er sich langsam auf die Ausgangstreppe zu. Vom Diebstahl und Hannas versuchter Festnahme des Diebes hat er nichts mitbekommen.
„Hallo, warten Sie“, ruft Hanna dem Mann hinterher. Der aber reagiert nicht.
„Hallo, Sie mit dem Hut, Sie sind bestohlen worden!“, ruft sie erneut und hält die Brieftasche hoch.
Einige Leute wenden sich neugierig zu Hanna um, nur nicht der Mann, dem ihr Ruf gilt. Schließlich bedeutet ein Fahrgast ihm, dass man etwas von ihm will. Der Mann bleibt unwillig stehen. Hanna ist ihm ein Stück nachgelaufen, immer noch die Brieftasche in der Hand. Jetzt trennen sie nur noch wenige Meter. Als der Gerufene sich zu Hanna umwendet, schaut sie ihm direkt ins Gesicht.
Es ist schmal und glattrasiert. Die Augenpartie ist von der Sonnenbrille verdeckt. Sie sieht eine schmale, spitze Nase, einen breiten Mund mit einer schmalen Oberlippe und einer auffällig wulstigen Unterlippe. Zwei tiefe Falten führen von den Nasenflügeln herab zu den Mundwinkeln. Das Kinn ist kräftig ausgebildet. Irgendwie erinnert sie das Gesicht an einen Schauspieler, der meist geheimnisvolle und durchtriebene Bösewichter spielt, dessen Name ihr aber nicht einfällt. Ihrer Schätzung nach liegt das Alter ihres Gegenübers zwischen Ende dreißig und Mitte vierzig. An den Schläfen erkennt sie einige graue Haarsträhnen. Sie ruft ihm zu:
„Hallo, ich bin Polizistin, man hat Sie bestohlen, hier, Ihre Brieftasche“, und winkt weiter mit der Geldbörse. Der Mann fasst an seine Brust. Der Schreck steht in seinem Gesicht. Hanna hört noch, wie ihm die Worte „Merde alors“ entfahren. Dann dreht er sich auf der Stelle um und hastet in Richtung Treppe. Er nimmt zwei Stufen auf einmal und ist gleich darauf nicht mehr zu sehen.
Hanna schaut ihm mit offenem Mund nach, lässt resigniert die Arme hängen. In einer Hand hält sie die Jacke des Jungen, in der anderen die Brieftasche des Bestohlenen. Sie ist sprachlos und fragt sich, was wohl in diesen Menschen gefahren sein mag. Sie kann sich sein seltsames Verhalten nicht erklären. Auch die umstehenden Leute sind verwundert, gehen sodann ihrer Wege.
Um zur Ruhe zu kommen, setzt sie sich auf eine Bahnsteigbank und beginnt, die Jacke des Jungen zu durchsuchen. Außer einem angebrochenen Päckchen Kaugummis kann sie nichts finden, was einen Hinweis auf die Identität des Jungen liefert.
„Was soll’s“, denkt sie, „es waren Kinder, noch nicht strafmündig, und an die Eltern kommt man auch nicht ran.“ Sie legt die Jacke neben sich und widmet sich nun der länglichen, prall gefüllten, zweiteiligen Brieftasche.
„Die muss teuer gewesen sein“, denkt sie und bewundert das weiche, schwarze Leder. Sie öffnet die Verschlussschnalle, die beide Hälften der Tasche zusammenhält. Diese klappen von selbst auseinander, weil sich im Geldfach ein Bündel Scheine befindet. Hanna stockt der Atem. Es sind Fünfhunderter Euroscheine, Banknoten, die sie bisher nur selten zu Gesicht bekommen hat. Sie zählt die Scheine, ohne sie herauszunehmen, vorsichtig an den Oberkanten. Es sind vierundzwanzig. Dazu kommen noch zwei Zwanzigernoten und ein Zehnerschein.
„Zwölftausendundfünfzig Euro! Was ist mit dem Kerl los?“, fragt sie sich, „warum rennt er davon und verzichtet auf soviel Geld? Er hat doch bemerkt, dass seine Brieftasche fehlte, und müsste sie auch in meiner Hand erkannt haben. Welchen Scherereien will er mit dieser teuren Flucht aus dem Weg gehen? Handelt es sich vielleicht um Falschgeld? Das wäre eine Erklärung.“ Sie durchsucht die Geldtasche vorsichtig weiter und bemüht sich, so wenig Fingerspuren wie möglich zu hinterlassen. Die vorderen Fächer, wo gewöhnlich Plastikkarten stecken, sind leer, und in dem Fach, in dem Münzgeld aufbewahrt wird, findet sie nur ein paar Cents. Hanna ist durcheinander und unschlüssig.
„Was soll ich tun, die Brieftasche behalten? Das Geld kann ich sehr gut gebrauchen. Der ganze Vorfall ist nicht offiziell, die Zeugen des Vorfalls sind verschwunden und eine Rückforderung des Geldes ist unwahrscheinlich, der wollte es ja nicht. Insofern ist es fast eine Schenkung.“
Dann aber tauchen sofort Skrupel auf. Ihre innere Stimme mahnt: „Du als angehende Kommissarin startest in den Job mit einer Unterschlagung, Vertuschung einer Straftat und besitzt am Ende Blüten, mit denen du dich und andere in Schwierigkeiten bringst. Und vor allem, wie willst du späteren, größeren Versuchungen widerstehen? Mensch, lass’ die Finger davon!“ Diese Bedenken sind es aber nicht allein, die sie davon abhalten, das Geld einzustecken. Vielmehr sagt ihr Instinkt, dass sich hinter diesem Vorfall viel mehr verbirgt:
„Würde ich die Geschichte vertuschen, bestünde keine Möglichkeit, sie aufzuklären. So aber kann ich es vielleicht versuchen. Denn nur ich kenne den Hergang und habe diesen seltsamen Mann gesehen. Ich kann ihn mit Sicherheit identifizieren.“
Sie ruft ihren Chef in der Dienststelle an und berichtet in Stichworten, was vorgefallen ist. Hauptkommissar Ernst Ludwig knurrt sie missgelaunt an. Sie solle sich gefälligst beeilen. Offensichtlich ist ihm Pünktlichkeit zum Dienstantritt wichtiger, als die korrekte Dokumentation einer Straftat. Hanna verlässt den Bahnsteig und geht hinaus auf den Platz. Die Sonne blendet. Sie läuft langsam in Richtung der Unterführung zur Hertzallee, vorbei an der Schlange wartender Taxis zu ihrer Rechten. Sie weiß, dass sich am Ende des Bahnhofs eine Dienststelle der Polizei befindet.
Den Mann mit dem Hut, der sie fotografiert bemerkt sie nicht. Er hat sich an einem Imbissstand auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes postiert.